
Die riesige Werksanlage der IG Farben am Rheinufer in Ludwigshafen Anfang der 1930er-Jahre.
DüsseldorfDer abgemagerte jüdische Häftling bricht unter der Last der Holzplanke zusammen. Bevor er sich aufrappeln kann, ist der SS-Wachposten bei ihm und drischt ihm den Gewehrkolben an den Kopf. Immer wieder. Ein anderer Häftling, der britische Soldat Avey, will ihm helfen. Doch er bemerkt den SS-Mann nicht, der sich von hinten nähert und ihm mit der Pistole hart ins Gesicht schlägt. Avey wird später ein Auge verlieren und nie erfahren, wer der Jude war, dem er helfen wollte.
So sah das Leben und Sterben aus in der Fabrik der IG Farben in Auschwitz – und es gab noch weitaus schlimmere Vorfälle. Es ist der Konzern, der den Zweiten Weltkrieg möglich machte und von dem heute noch Bayer, BASF und Wacker als eigenständige Firmen übrig sind. „Deutschland hätte den Krieg ohne die synthetischen Materialien der IG Farben nicht lange durchgestanden“, schreibt Diarmuid Jeffreys in seinem Buch „Weltkonzern und Kriegskartell“. Der britische Journalist hat in einer enormen Fleißarbeit Tausende Dokumente durchgesehen und so die Geschichte der IG Farben nachvollzogen, wie es bisher noch nie getan wurde.
Der Ursprung der IG Farben liegt in der Osterwoche des Jahres 1856 – ironischerweise in London: Dem Chemiestudenten William Henry Perkin experimentiert in seiner Dachzimmerwohnung an einem Verfahren, Chinin synthetisch herzustellen. Dabei erfindet er zufällig rotes Pulver. Ihm ist es gelungen, eines der begehrtesten Produkte des Färbehandwerks herzustellen: Purpur. Auf dieser Entdeckung fußt der spätere Aufstieg der deutschen Chemie-Industrie.
Deutsche Firmen, allen voran BASF, erkennen die neue Chancen der Farbenproduktion sehr viel schneller als die Konkurrenz im Ausland. Durch geschicktes Taktieren mit Patenten und intensiver Forschung gelingt es, Anfang der 1870er-Jahre die Marktführerschaft zu übernehmen. Das BASF-Werk in Ludwigshafen wächst rasant.
1897 notiert August Wilhelm von Hofmann die Formel für Acetylsalicylsäure, 1899 wird Aspirin in den Markt eingeführt. Besonders wichtig ist seine fiebersenkende Wirkung. Noch heute ist Aspirin für Bayer das wichtigste Produkt. Nach dem Ersten Weltkrieg geht es vor allem darum, den Markennamen Aspirin zu schützen, auf den es Firmen in Frankreich, Großbritannien und den USA abgesehen hatten. Das gelingt erst nach einem langen, harten Kampf.
Die Bevölkerung wächst rasant und die Landwirtschaft hat Mühe, für ausreichend Nahrungsmittel zu sorgen. Kunstdünger gewinnt an Bedeutung. Fritz Haber und Carl Bosch melden Patent an für ihr Verfahren zur synthetischen Herstellung von Ammoniak, das als Ersatz für Salpeter zur Herstellung von Düngemitteln verwendet wird. Ein großer Profit für BASF.
Am 1. Mai 1915 meldet Carl Bosch der Heeresführung, dass BASF mit der Massenproduktion von Salpetersäure begonnen hat. Das Munitionsproblem ist gelöst, die Armee kann weiterkämpfen. Derweil produzieren die Chemiekonzerne auch Giftgas für die Front.
Die Chemieunternehmen profitieren stark vom Krieg. Sie werden mit Geldern und Zwangsarbeitern ausgestattet, um die dramatische Rohstofflage des Reiches auszugleichen. Das gilt vor allem für die Produktion von Sprengstoffen und Munition. 1916 regt BASF-Chef Duisberg die Deportation von 60.000 Zwangsarbeitern an.
Bereits 1904 gab es die erste „Interessen-Gemeinschaft“ der deutschen Teerfarbenindustrie. Schon damals war es Bayer-Chef Carl Duisberg, angeregt von der Erfahrungen seiner US-Reisen und den dortigen „Trusts“, der die enge Verzahnung vorantrieb. Nach dem Ersten Weltkrieg drängte er vor allem BASF-Chef Carl Bosch zum Zusammenschluss. Am 2. Dezember 1925 ist es dann soweit, die Fusion folgt 1926. Mit dabei sind unter anderen Höchst (heute Teil von Sanofi-Aventis) und Agfa.
Im Oktober 1929 brechen an der Wall Street die Kurse ein. Der Kurswert von vielen US-Unternehmen sinkt dramatisch. Die Banken gerieten durch die vielen Pleiten unter Druck und forderten ihre Auslandskredite zurück. Deutschland erlebte einen massiven Abfluss an Kapital. Es folgte eine Wirtschaftskrise und einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die IG Farben trennte sich von 46 Prozent der Belegschaft. Das Augenmerk wurde wieder auf den Binnenmarkt gelenkt.
Die IG Farben haben den Aufstieg der NSDAP bis hin zur Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wachsam und mit einer gewissen Missbilligung verfolgt. Zwar war der Konzern der KPD und auch der SPD feindlicher gesonnen. Doch die extremistische Rhetorik der Nationalsozialisten beunruhigte die Führungsebene sehr. Zudem waren viele Wissenschaftler und auch Aufsichtsratsmitglieder der IG Farben Juden.
Im Jahr 1933 überweist die IG Farben 4,3 Millionen Reichsmark auf die Konten der NSADP. Dafür rettete Hitler später das von Bosch so geliebte und profitable Verfahren zur Herstellung von synthetischem Treibstoff. Im März 1933 werden die Mitarbeiter in einem Brief aufgefordert, mit der NSDAP zu sympathisieren und der ausländischen Presse nicht zu glauben.
Am 14. Dezember 1933 schließen die IG Farben den sogenannten „Benzinvertrag“ mit der Reichsregierung ab. Das sichert dem Konzern den Absatz von 350.000 Tonnen synthetischem Benzin. Für die IG Farben ist dieser Deal unschätzbar wertvoll und eine üppige Belohnung für die vergleichsweise geringen Parteispenden.
Im Mai 1938 bekommt die IG Farben die Erlaubnis, Betriebe in der Tschechoslowakei zu arisieren. War der Konzern beim Anschluss Österreichs noch passiver Beobachter, half sie dem Reich bei der Vorbereitung des nächsten Territorialgewinns deutlich mehr. Der Vorstand der IG Farben hat zwar tatsächlich ehrliches Mitgefühl mit den Sudetendeutschen, aber vor allem geht es um die Übernahme einer der größten tschechoslowakischen Firmen.
Deutschland fällt in Polen ein und besiegt das kleine Land mühelos. Die Führung der IG Farben macht sich direkt daran, die wichtigsten Chemiefirmen des Landes zu übernehmen.
Im Juni 1940 wird der Feldzug im Westen erfolgreich abgeschlossen. In der Zentrale der IG Farben in Frankfurt feiert man den Sieg über Frankreich ganz besonders. Mehrere Verantwortliche haben immer noch schmerzliche Erinnerungen an die Verhandlungen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und die Behandlung durch die Franzosen.
Am 7. April 1941 verkündet die IG Farben offiziell die Gründung eines Unternehmens zur Herstellung von synthetischem Kautschuk in Auschwitz. Dieses Vorhaben ist der dunkelste Fleck in der Geschichte des Unternehmens. Wie viele zehntausende Zwangsarbeiter für die IF Farben ihr Leben ließen, ist nicht genau bezifferbar. Die Schätzungen reichen von 40.000 bis 200.000, wobei letztere Zahl zu hoch sein dürfte.
Am 22. Juni 1941 startet Hitler die Operation Barbarossa, den Angriff auf die Sowjetunion. Der bis heute größte militärische Angriff aller Zeiten war zunächst ein Erfolg, wovon die IG Farben direkt profitierte. Denn es gab eine enorme Zahl an Kriegsgefangenen, die nicht zuletzt zur Zwangsarbeit nach Auschwitz gebracht wurden. Die ersten von ihnen trafen im Oktober 1941 ein.
Am 5. September 1941 wird Zyklon B zum ersten Mal beim Mord an 900 sowjetischen Gefangenen eingesetzt. Das Blausäurepräparat war ursprünglich zur Schädlingsbekämpfung entwickelt worden und wurde von einer Tochterfirma der IG Farben hergestellt.
Der Vorstand der IG Farben beschließt Ende Juni 1942, ein eigenes Konzentrationslager in Auschwitz zu errichten. Da die Zwangsarbeiter effektiver verwendet werden können, zahlen sich die Kosten für das KZ aus. Bis dahin hat kein Privatunternehmen etwas Ähnliches versucht.
Albert Speer bezeichnet den 12. Mai 1944 als „den Tag, den dem der technische Krieg entschieden wurde“. Die 8. US-Luftflotte greift mit 935 Bombern die deutschen Treibstoffwerke der IG Farben an. Das riesige Werk in Leuna erleidet schwere Schäden.
Die letzten Mitarbeiter der IG Farben verlassen das Werk in Auschwitz in der vierten Januarwoche 1945. Die IG Auschwitz war ein nahezu kompletter Fehlschlag gewesen. Der Bau der Fabrik hatte 900 Millionen Reichsmark verschlungen. Rund 40.000 Menschen dürften dabei ihr Leben gelassen haben. Das Werk produzierte zwar eine gewisse Menge sprengstofftaugliches Methanol, aber keinen Liter synthetisches Benzin.
Als die Alliierten am 14. April 1945 das Werk in Leverkusen unter ihre Kontrolle bringen, zeigen sich die Mitarbeiter von Bayer umgehend bereit, den Schutt wegzuräumen, die Maschinen zu reparieren und die Produktion so schnell wir möglich wieder in Gang zu bringen. So geschah es bei allen Werken im Westen – im Osten sah es dagegen ganz anders aus. Die Sowjets waren vielmehr daran interessiert, die Werke zu demontieren.
Am 27. August 1947 startet der Mammutprozess gegen 23 ehemalige Führungskräfte der IG Farben. Ehemalige Zwangsarbeiter werden angehört und Tausende Dokumente ausgewertet. Nach 152 Verhandlungstagen füllt das Protokoll 16.000 Seiten. Die Urteile fallen vergleichsweise milde aus, die Kriegsverbrecher schon nach zwei Jahren wegen „guter Führung“ entlassen.
1951 wird beschlossen, die IG Farben in ihre ursprünglichen Bestandteile zu zerschlagen. Von ihren Nachfolgeunternehmen sind heute noch Wacker, BASF und Bayer selbstständig. Die Hoechst AG ist inzwischen Teil von Sanofi-Aventis, dem drittgrößten Pharmakonzern der Welt.
Am 1. Januar 1952 tritt die IG Farben in Liquidation. Der neue Name lautet IG Farbenindustrie AG i.L. Drei Jahre später wurde das Unternehmen aus der Kontrolle der Alliierten genommen und befand sich fortan jahrzehntelang in Abwicklung.
Am 10. November 2003 melden die Liquidatoren der IG Farbenindustrie Insolvenz an. Grund ist, dass die Beteiligungsgesellschaft WCM finanzielle Schwierigkeiten hat. Die Aktien der „IG Farben iL“ sind allerdings immer noch börsennotiert.
Es ist die Geschichte eines Megakonzerns, der in Friedenszeiten den Liberalismus liebte, sich aber im Krieg rasant in den Dienst des Staates und der Armee stellte – und in beiden Fällen prächtig verdiente. Das Beispiel IG Farben ist auch heute noch von höchster Relevanz, weil es zeigt, welch dramatische Folgen es haben kann, wenn sich Unternehmen und Politik zu nahe kommen.
Und es ist auch die Geschichte von Firmenlenkern, die für den Profit die Ermordung von Zehntausenden Menschen duldeten – ja sogar anordneten. Sie wurden als Kriegsverbrecher verurteilt. Als sie aber wegen „guter Führung“ schon nach zwei Jahren das Gefängnis verließen, stand die Limousine schon bereit. Sie alle bekamen wieder gute Jobs und trafen sich im Februar 1959 zu einem glanzvollen Wiedersehensbankett mit viel Wein unter guter Laune.
1821 als viertes Kind einer Bauernfamilie geboren, gründete Engelhorn 1848 sein erstes Unternehmen. 1860 wendete er sich ab von der Kohlegasproduktion, hin zu den Farbstoffen. 1865 versorgten ihn Investoren mit genug Kapital, um eine große Fabrik zu bauen. Der am besten geeignete Standort war Ludwigshafen. So entstand die Badische Anilin- und Sodafabrik (BASF).
1856 gelang es dem 18-jährigen Chemiestudenten William Henry Perkin, die Farbe Purpur künstlich herzustellen. Der deutsche Professor August Wilhelm von Hofmann entdeckte das Talent und seine Ideen, übernahm sie und zog zurück nach Deutschland. Dank ihm holte die hiesige Industrie den Rückstand in der Farbenproduktion gegenüber Großbritannien rasch auf. Außerdem erfand er 1889 den Wirkstoff Aspirin.
Er wurde zu dem mächtigsten Industriellen der Welt – und kam aus so bescheidenen Verhältnissen. 1861 wurde Carl Duisberg in Barmen geboren. Seine Eltern hatten nicht viel Geld. Pflicht und Sparsamkeit prägten seine Kindheit. Er wollte unbedingt Naturwissenschaftler werden und nicht im elterlichen Betrieb arbeiten. Das gelang dank seines Talentes: Mit 16 Abitur, mit 20 Doktor der Chemie. Nach vielen Versuchen landete er bei Bayer und wurde 1889 dessen Chef. Als er am 19. März 1935 starb, nannte ihn die Londoner Times „einen der fähigsten und erfolgreichsten Industriellen der Welt“.
Als 1881 Friedrich Bayer und Johann Weskott starben, übernahm Bayers Schwiegersohn Carl Rumpff die „Friedr. Bayer et comp“. Rumpffs wesentliche Aufgabe war der Börsengang des Unternehmens. Der gelang und fortan hieß die Firma „Farbenfabriken vormals Friedrich Bayer & Co.“ Außerdem stellte Rumpff 1884 Duisberg ein, der ihn nach seinem Tod 1889 als Chef ablöste und das Unternehmen in den folgenden Jahren zu großer Blüte führte.
Die Chemie lag dem 1868 in Breslau geborenen Fritz Haber im Blut, sein Vater war auch einer. Seine größte Leistung war die Entdeckung der Ammoniaksynthese, für die er 1918 den Chemie-Nobelpreis erhielt. Die Schattenseite: Im Krieg entwickelte der glühende Patriot Haber Chlorgas – ein neuartiges Giftgas für die Front. Jahre später vertrieben ihn die Nazis aus Deutschland, obwohl der Jude formal zum Christentum konvertiert war.
Gemeinsam mit Fritz Haber entwickelte Carl Bosch ein Verfahren zur synthetischen Herstellung von Ammoniak als Ersatz für Salpeter zur Herstellung von Düngemitteln. 1919 wurde Bosch Chef von BASF, 1925 der IG Farben. Unter seiner Leitung kollaborierte die IG Farben mit den Nazis, auch wenn er selbst mit Hitler gebrochen hatte. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges war Bosch depressiv und Alkoholiker. Er konnte das Gefühl nicht abschütteln, persönlich für die Aggressionen Deutschlands mitverantwortlich zu sein. Er starb am 26. April 1940.
Walter Rathenau gehörte vor dem Ersten Weltkrieg zu den wichtigsten Wirtschaftsführern des Reiches und wirkte in zahlreichen Aufsichtsräten. Zu Beginn des Krieges übernahm er die neu gegründete Kriegsrohstoff-Abteilung. Seine Aufgabe war, die Versorgungslage in Kriegszeiten zu antizipieren. Seine Einschätzung: Innerhalb von sechs Monaten war eine Katastrophe absehbar. Das Militär brauchte die chemische Industrie, um Abhilfe zu schaffen.
Als guter Freund Duisbergs sorgte Krupp dafür, dass zu Beginn des Ersten Weltkrieges noch mehr Regierungsaufträge an Bayer gingen. Dabei ging es nicht nur um übliche Produkte zum Färben von Uniformen, sondern auch alle Arten von Sprengstoff und Giftgas.
Jeffreys beginnt die Geschichte der IG Farben rund 70 Jahre vor ihrer Gründung, was ein großer Gewinn für den Leser ist. Der erfährt nicht nur im Detail, was es mit den chemischen Entwicklungen auf sich hat, sondern auch alles über die Geschichte der Produkte und den Aufstieg der deutschen Firmen.
Die Gründung der IG Farben

Ein Porträt der Gründerväter der IG Farben: Carl Bosch (vorne links) und Carl Duisberg (vorne rechts) im Vordergrund.
Dabei geht es auch um die Rolle der Konzerne für das Selbstverständnis des deutschen Volkes. 1873 war „das neue, wirtschaftlich ungemein anpassungsfähige Deutschland eine Macht, mit der gerechnet werden musste“.
Bis zum Ersten Weltkrieg hatte sich die Chemiebranche aus der Tagespolitik weitgehend herausgehalten. Natürlich würde Lobbyarbeit gemacht – gerade im Ausland. Aber insgesamt hielten es die Unternehmen mit Liberalismus und freiem Handel.
Doch der Krieg veränderte alles. Die Rohstofflage war dermaßen schwierig, dass sich die Reichsführung an die Chemiekonzerne wandte. Es ging vor allem um Sprengstoffe - und nicht zuletzt um Giftgas. Die klügsten Köpfe wie Fritz Haber (übrigens ein Jude) und Carl Bosch wurden rekrutiert. Geld bekamen die Konzerne genug und auch „billige“ Arbeitskräfte: Rund 60.000 belgische Zwangsarbeiter forderte Bayer-Chef Carl Duisberg 1916 an, wir Buchautor Jeffreys herausfand.
Im Prinzip gab es eine lange Positivliste: Alle Unternehmen der IG Farben kamen aus demselben Industriezweig und hatten alte Rivalitäten aufgegeben. Die Eifersüchteleien schienen weitgehend aus dem Weg geräumt zu sein. Die Größenvorteile sollten zu geringeren Kosten bei der Produktion führen.
Die IG Farben war ein gigantisch großes Kind: Der Unternehmenswert wurde am Tag der Fusion mit 646 Millionen Reichsmark angegeben. Ein Jahr später war es rund doppelt so viel. 1929 beschäftigte der Konzern mehr als 120.000 Menschen in 106 Fabriken.
Doch schnell war Unternehmenslenker Carl Bosch klar, das guter Wille allein nicht ausreichen würde. Nach wie vor standen zwischen den Gründungsmitgliedern erheblich Differenzen. Und die konnte man nicht über Nacht beheben.
Jede Firma hatte vor der Fusion einen Vorstand – und keiner gibt seinen Posten gern auf. Also musste Carl Bosch sich überlegen, wie er die Mitglieder der Vorstände von Bayer, BASF und Co. zufriedenstellen konnte.
Jedes Unternehmen hatte spezifische Traditionen – auch im Hinblick auf die Mitarbeiterführung. Gerade das war angesichts der Bedeutung von Fachwissen in dieser Branche sehr wichtig. Die IG Farben konnte es sich nicht leisten, dass Top-Leute in dem neuen Konglomerat nicht zurechtkamen und ins Ausland abwanderten.
Die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften war in jedem Betrieb anders. Hier gab es Zusicherungen und Absprachen, die es woanders nicht gab. Nun sollten aber alle Arbeiter gleich behandelt werden. Es folgten langwierige Verhandlungen.
Jede Firma verfügte in bestimmten Bereichen über Fachwissen und Patente. Deren Bedeutung war natürlich schwer zu vergleichen und es gab durchaus Streit über die Frage, wie wichtig die Kenntnisse des einen Unternehmens im Vergleich zu deren des anderen waren.
Die Vorgehensweisen bei der Buchhaltung, beim Einkauf, beim Entrichten von Steuern sowie beim Einreichen von Patenten war sehr unterschiedlich. Auch diese Strategien mussten vereinheitlicht werden.
Umso schwieriger war die Situation für die Unternehmen nach dem Krieg. Die Produktion musste auf zivile Produkte umgestellt werden, zudem war der Patentschutz für viele Produkte von den Firmen der Alliierten faktisch ausgehöhlt worden. Es begannen zähe Verhandlungen und ein mühsamer Wiederaufbau. Zudem bemühten sich vor allem die USA, die besten Köpfe der Branche abzuwerben.
Doch es gelang den großen Firmen, sich zu erholen und wieder zum Machtfaktor zu werden. So musste Gustav Stresemann, Reichskanzler der Weimarer Republik, erklären: „Ohne die IG und die Kohle könnte ich keine Außenpolitik machen.“
Dass es soweit kam, war vor allem BASF-Chef Carl Bosch und Bayer-Chef Duisberg zu verdanken. Vor allem Bosch, 13 Jahre jünger als sein Kollege, hatte in dieser Phase ein glänzendes Näschen für die sich bietenden Chancen. Und dazu gehörte auch der Zusammenschluss der Konzerne.
Dank Duisbergs Hartnäckigkeit kam es am 2. Dezember 1925 zum Bündnis, wenig später folgte die offizielle Fusion von BASF, Bayer, Höchst, Agfa und anderen. Nun lag es an Bosch, einem stillen, bescheidenen Mann, die Teile des Konglomerates zusammenzuführen. Der 52-Jährige hatte eine schwere Aufgabe:
Mit der Machtübernahme Hitlers 1933 gerieten die jüdischen Manager im Führungszirkel der IG Farben in den Fokus der Politik: Zu ihnen gehörten Arthur von Weinberg, Kurt Oppenheim, Max Warbrug, Alfred Merton, Otto von Mendelssohn Bartholdy und Ernst von Simson. Die Nationalsozialisten behaupteten, ihre Anwesenheit sei ein klarer Beweis dafür, dass der Konzern der „Verschwörung des internationalen Finanzjudentums“ angehöre.
Bereits 1913 patentierte Friedrich Bergius das Verfahren zur Herstellung von flüssigen Verbindungen aus Steinkohle. Es ging darum, eine Alternative zum Öl zu finden, also einen synthetischen Treibstoff. Die IG Farben hat viel Geld in das Projekt investiert – lange Zeit ohne Erfolg, bis die Nazis an die Macht kamen und der Krieg begann. Nach dem Krieg wurde das Verfahren nicht fortgeführt, weil der Ölpreis unschlagbar günstig war. Bergius erhielt für seine Forschungen 1931 den Chemie-Nobelpreis.
Die Rohstoffknappheit in Deutschland war Hitlers Meinung nach der Hauptgrund für die Niederlage im ersten Weltkrieg. Umso mehr beachtete er die Entwicklung der IG Farben schon seit Anfang seiner Zeit als Reichskanzler und zeigte sich bisweilen sehr kundig in Fachfragen.
Nach Duisbergs Tod 1935 wechselte Carl Bosch in den Aufsichtsrat. Neuer Vorstandschef der IG Farben wurde Hermann Schmitz. Der 56-Jährige war ein zurückhaltender Geist und fast zwanghaft auf Geheimhaltung bedacht. Er hatte in der Gründungsphase der IG Farben großes Talent in Finanzfragen bewiesen und war einer von Boschs wichtigsten Stellvertretern. Als Führungspersönlichkeit war er allerdings unzulänglich.
Carl Krauch war Chef der Sparte I und galt als eine der ehrgeizigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der IG Farben in der Nazi-Zeit. Nach der Ernennung von Hermann Schmitz zum Konzern-Chef war er zunächst betrübt, bekam dann aber einen anderen lukrativen Posten: Göring machte ihn zum Chef der Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Reiches. Krauch wurde so zum wichtigsten Verbindungsmann zwischen der IG Farben und der Politik.
Fritz ter Meer war vor der Gründung der IG Farben 1925 Mitglied des Vorstandes. Er war verantwortlich für den Bau des Werkes in Auschwitz und dementsprechend auch für die Gräueltaten, die dort passierten. Er wurde als Kriegsverbrecher zu sieben Jahren Haft verurteilt, musste davon aber nur zwei Jahre absitzen. Wie die anderen Führungskräfte der IG Farben auch wurde er „wegen guter Führung“ vorzeitig entlassen.
Otto Ambros war mit 39 Jahren am Ziel seiner Träume angekommen. Der Schulfreund von Heinrich Himmler leitete das Projekt zur Herstellung von synthetischem Kautschuk. Sein Aufstieg hatte zwei Gründe: Seine Fähigkeiten als Chemiker und die guten Beziehungen, allen voran zu Fritz ter Meer.
Der Reichsführer der SS war der wesentliche Unterstützer der IG Farben bei dem Bau des Werke in Auschwitz. Der Schulfreund von Otto Ambros versorgte die IG Farben mit Zehntausenden Zwangsarbeitern, tat dies aber mit Hintergedanken. Himmler hatte die Idee, Auschwitz zum Prototyp einer deutschen Stadt auf annektierten Boden zu machen. Und dafür war eine solche Fabrik mit all den Investitionen sehr hilfreich.
Carl Bosch war kein großartiger Unternehmer, aber ein Stratege mit Weitsicht. Er löste die wesentlichen Probleme und die IG Farben wuchs und wuchs. Er erkannte früher als viele, dass sich die Weltwirtschaft zu sehr vom Öl abhängig gemacht hatte und setzte auf das deutsche Fachwissen im Bereich der Hydrierung – was später im Zweiten Weltkrieg noch eine besonders wichtige Rolle spielen sollte.
Derweil waren die Verbindungen zur Politik in der mittleren Phase der Weimarer Republik wieder deutlich lockerer geworden. Die IG Farben unterstützte die Partei, die einen am ehesten in Ruhe arbeiten ließ. Natürlich war dabei wichtig, dass die deutsche Politik gute Beziehungen mit den früheren Kriegsgegnern unterhielt – das Exportgeschäft war schließlich sehr wichtig.
Hitler helfen oder nicht?
Umso heftiger trafen der Börsencrash 1929 und die folgende Weltwirtschaftskrise die IG Farben - fast die Hälfte der Belegschaft musste gehen. Politisch war die Zeit für die Nationalsozialisten gekommen. Während andere Industrielle wie Fritz Thyssen, Friedrich Flick, Robert Bosch oder Hugo Stinnes die Nazis schon frühzeitig unterstützten, hielt sich die IG Farben lange zurück. Carl Bosch ging stets politische Verpflichtungen erst dann ein, wenn es unbedingt nötig war.
Die IG Farben hat den Aufstieg der NSDAP bis hin zur Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wachsam und mit einer gewissen Missbilligung verfolgt. Die extremistische Rhetorik der Nationalsozialisten beunruhigte die Führungsebene sehr. Zudem waren viele Wissenschaftler und auch Aufsichtsratsmitglieder der IG Farben Juden. Die Nationalsozialisten behaupteten, ihre Anwesenheit sei ein klarer Beweis dafür, dass der Konzern der „Verschwörung des internationalen Finanzjudentums“ angehöre.
Duisberg versuchte, die Wogen frühzeitig zu glätten, gewann das Wohlwollen der Nazis aber weniger mit guten Worten als mit den Möglichkeiten, die das Unternehmen bot. Auch Bosch wollte Hitler vor allem mit dem Benzinprojekt überzeugen. Das gelang, schließlich schob Hitler die Niederlage im Ersten Weltkrieg in erster Linie auf die Rohstoffknappheit. Danach kritisierten die Nazis zwar weiterhin den Einfluss von Juden auf die deutsche Industrie, nannte die IG Farben aber nicht mehr.
Ende Januar 1933, als Hitler die Macht so gut wie inne hatte, traf dann auch Carl Bosch seine Entscheidung: Am 27. Februar zahlte die IG Farben 1,9 Millionen Reichsmark auf das Konto der NSDAP ein – mehr als die anderen Unternehmen. Hitler hatte die Konzerne erpresst. Nur so schien ein Bürgerkrieg abzuwenden zu sein. Nun konnte Hitler seinen Propagandafeldzug mühelos finanzieren.
Der Alltag mit den Nazis
Für die Nazis waren individuelle Loyalitätsbeweise einzelner Manager viel weniger wichtig als die Kooperation des Gesamtunternehmens. Dementsprechend wurde auch Carl Boschs Distanz zur NSDAP ignoriert.
Natürlich bekamen Kunden und Partner in aller Welt mit, dass die IG Farben mit der NSDAP kollaborierte. Als zum Beispiel 1933 Dupont Abgesandte nach Deutschland schickte, wurde ihnen eindringlich erklärt, dass sich die Lage in Deutschland wieder normalisieren werde. Man stellte auch PR-Fachleute ein, um vor allem in den USA das Image Deutschlands zu verbessern.
Eine Zeit lang gab es in den Werken der IG Farben unterschiedliche Handhabungen der „NSDAP-Praktiken“: So war der Hitlergruß hier üblich, dort verpönt. Ähnliches galt für die Genehmigung von Parteispendensammlungen.
Die verschiedenen Betriebszeitungen der IG Farben sind ein gutes Beispiel dafür, wie sich der Einfluss der Nazis ausbreitete. Ab Mai 1933 bekamen sie einen bisher nicht gekannten politischen Charakter.
Im April 1933 bekam die IG Farben die überraschende Anweisung, Luftschutzübungen durchzuführen. Die Beschäftigten staunten nicht schlecht, vor allem weil die Übungen aufwendig waren und viel Zeit kosteten.
Im August 1933 verbot Hermann Göring die Durchführung von Tierversuchen. Das überraschte nicht nur, weil er bekanntermaßen leidenschaftlicher Jäger war. Es erregte erhebliche Besorgnis in der Forschungsabteilung, weil die Tierversuche einen großen Nutzen hatten.
1938 verschärfte sich der Druck auf die Konzernführung, Mitarbeiter jüdischen Glaubens zu entlassen – egal wie fachkundig sie waren. Das galt auch für die Angestellten in ausländischen Werken.
Die Reichsregierung sah es gar nicht gerne, wenn die IG Farben im Ausland Werbeanzeigen in Zeitungen schaltete – was zum Vertriebs der Produkte aber natürlich sehr hilfreich war. Deutsches Geld dürfe nicht in Zeitungen fließen, die verleumderische Artikel über Deutschland schreiben würden.
Es folgten weitere Zahlungen: Insgesamt ließ die IG Farben der NSDAP 1933 4,3 Millionen Reichsmark zukommen. Aber Bosch wusste, was er dafür bekommen würde: Hitler rettete sein Projekt zur synthetischen Herstellung von Treibstoff. Jeffreys schreibt: „In weniger als einem Jahr würde man einen Vertrag von wahrhaft faustischen Dimensionen unterschreiben.“ Damit meinte er den Vertrag über einer Absatzgarantie von 350.000 Tonnen synthetischem Benzin zum einem Mindestpreis, der der IG Farben vor einem Verlust von rund 300 Millionen Reichsmark bewahrte.
Kein Wunder, dass sich der Konzern anpasste und kollaborierte. Carl Bosch war kein Antisemit, konnte aber nicht verhindern, dass immer mehr Juden sein Unternehmen verlassen mussten. Ihm tat es weh, all die guten Wissenschaftler gehen zu sehen. Unter ihnen war auch Fritz Haber. Im Ersten Weltkrieg hat der Patriot noch Giftgas für die Armee entwickelt, nun wurde er – obwohl inzwischen zum Christentum konvertiert – vertrieben.
Bei einem Treffen sprach Bosch Hitler auf die Judenfrage an: „Wenn immer mehr jüdische Wissenschaftler zur Emigration gezwungen werden, könnte die deutsche Physik und Chemie um 100 Jahre zurückgeworfen werden.“ Hitler bekam einen Wutausbruch und schrie, dass Bosch keine Ahnung von Politik habe und Deutschland wenn nötig 100 Jahre lang ohne Physik und Chemie arbeiten könne. Von da an war Bosch persona non grata in Hitlers Kreisen.
Die beiden trafen auch deshalb nie wieder zusammen, weil Bosch nicht das tat, was viele andere Industrielle nach solchen Wutausbrüchen Hitlers taten: eine Versöhnung anzustreben. Er war sich sicher, dass Hitler den synthetischen Treibstoff weiterhin haben wolle und setzt im Stillen die Unterstützung für jüdische Wissenschaftler fort. Das ging so weit, dass er den Exilanten heimlich Entschädigungen zahlte und beschaffte einigen gute Posten bei Unternehmen der IG in Übersee.
Carl Bosch wurde nie NSDAP-Mitglied, erfüllte als Chef der IG Farben aber zahlreiche Wünsche des Regimes. Das sei eben ein „unglückliches Nebenprodukt unternehmerischer Zweckmäßigkeit“.
Spätestens ab 1936 richtete sich die IF Farben – angetrieben durch die hohen Subventionszahlen des Reiches – immer mehr auf Rüstung aus. Dazu gehörten Nitrate für Sprengstoffe, Treibstoff, Metalle, Buna (Gummisparte) und Plastik.
Dazu kamen ab 1936 Giftgase, zunächst Senfgas und wenig später zwei noch gefährlichere Stoffe: Tabun und Sarin.
Die Invasionsstreitmacht des Heeres, das waren 1,5 Millionen Soldaten, hatte der IG Farben einiges zu verdanken: 35 Prozent ihrer Ausrüstung stammte aus den Werken des Konzerns, dazu gehörten auch Essgeschirr, Gürtelschnalle, Gurte und Helme. Der Anteil stieg im Verlauf des Krieges noch.
Schon vor dem Krieg profitierte die IG Farben von den Territorialgewinnen der Nazis. Der Konzern übernahm Firmen in Österreich und der Tschechoslowakei.
Nach dem Sieg über Polen machte sich die IG Farben daran, die Filetstücke abzugreifen. Dazu gehörten Boruta (Polens größer Hersteller von Farbstoffen), Wola und Winnica. Die Manager der IG Farben waren vor Ort, bevor der Rauch verschwunden war und teilte den polnischen Kollegen mit, dass ihre Firmen nun als Teil des „ehemaligen polnischen Staates“ einer Inspektion unterworfen werden.
Anders war die Lage in Frankreich: Die Konzerne hier waren viel zu groß, um sie in die IG Farben zu integrieren. Das war allein schon bürokratisch nicht händelbar. Dennoch bediente sich der Konzern gierig: Die französischen Konzerne wurden zu Juniorpartnern gemacht und gezwungen, die Zölle auf deutsche Chemieprodukte fallen zu lassen und keine Produkte mehr zu kopieren.
So gierig sich die IG Farben in Polen und Frankreich bedienten, so zurückhaltender war der Konzern in den anderen besetzten Ländern, also Holland, Belgien, Luxemburg, Dänemark und Norwegen. Das mag auch an einem Erlass aus dem Reichswirtschaftministerium gelegen haben. Der verlangte eine Erlaubnis des Reiches, sofern es sich nicht um jüdische Firmen handelte.
Mit der Zeit gewöhnten sich die Manager der IG Farben aber an die Nazis. Nicht zuletzt stimmte auch die Bilanz: Ende 1933 war die Belegschaft um 15 Prozent angewachsen, viele Kredite waren abbezahlt und der Gewinn um 32 Prozent gestiegen. Es war wieder Ruhe in Deutschland eingekehrt. Auch wenn es eher eine Friedhofsruhe war, kam die Stabilität den Geschäftsleuten wertvoll vor.
Wie die IG Farben vom Krieg profitierte
In den folgenden Jahren bekam die Chemiebranche – und die bestand zum Großteil aus der IG Farben – den Löwenanteil der ausgeschriebenen Subventionen. Zwischen 1936 und 1939 stammten rund 40 Prozent des Umsatzes aus fünf Produktionsbereichen, die direkt durch den sogenannten Vierjahresplan der Reichsregierung finanziert wurden: Nitrate für Sprengstoffe, Treibstoff, Metalle, Buna (Gummisparte) und Plastik. Die IG Farben versorgte Deutschland im Gegenzug mit allem, was es für einen Krieg brauchte.
Dazu gehörten auch Giftgase, was durchaus erstaunlich war. Schließlich war der Schaden durch die Giftgas-Produktion im Ersten Weltkrieg enorm gewesen. Dennoch entwickelte der Konzern für die Nazis ab 1936 Senfgas und wenig später zwei noch gefährlichere Stoffe: Tabun und Sarin.

Ein Bomber der US-Luftwaffe 1944 über Ludwigshafen und Oppau.
Das mit Abstand dunkelste Kapitel der Geschichte der IG Farben war die Buna-Fabrik in Auschwitz. Hier sollte synthetischer Kautschuk hergestellt werden. Natürlich war die Nähe zum Konzentrationslager kein Zufall: Die IG Farben brauchte Sklaven, also ersetzbare Zwangsarbeiter, für den Bau der Werkes.
Als Gegenleistung lieferte der Konzern einen entscheidenden Beitrag zum Ausbau des KZs in eine industrialisierte Mordmaschine, in der eineinhalb Millionen Menschen starben. Jeffreys zitiert einen Überlebenden: „Kapos mit wilden Augen zogen ihren blutbesudelten Weg durch Scharen von Häftlingen, während SS-Männer, wie Cowboys im Fernsehen, aus der Hüfte heraus schossen. Kleine Gruppen stiller Männer suchten sich ihren Weg zwischen Leichen hindurch, die sie nicht sehen wollten, führten Messungen durch und machten sich Notizen.“
Aus Sicht des Autoren ist es absolut klar, dass die Führung der IG Farben von all dem wusste. Vor allem weil die IG Farben ab 1942 auf dem Komplex ein eigenes KZ errichtete.
Als sich die Niederlage Deutschlands abzeichnete, war die IG Farben längst eines der wichtigsten Ziele der Alliierten. Frankreich, Großbritannien und die USA hatten schon 1944 Kommissionen gebildet, die sich mit dem Konzern vertraut machten. Den Kampftruppen folgten auf dem Fuß Wissenschaftler, die die Technologie des Konzerns für die jeweilige Besatzungsmacht sichern sollten.
Sie fanden die Führungskräfte und Wissenschaftler des Konzerns und „überredeten“ sie, versteckte Dokumente auszuhändigen. Es kam sogar zu Ausgrabungen in Wäldern, wo man Ordner verscharrt hatte. Es ging den Alliierten aber auch darum, Deutschland zu entmonopolisieren: Nie wieder sollte eine so große Produktivkraft unter einem Dach angehäuft werden, wie es bei der IG Farben der Fall war.
Was die Geschichte der IG Farben lehrt
Bei der Aufteilung der IG Farben spielten regionale Kriterien die wesentliche Rolle. Leverkusen und die Satellitenfirmen, die in der britischen Zone lagen, wurden eine Einheit. Ludwigshafen und Oppau lagen in der französischen Zone und die alten Werke von Hoechst rund um Frankreich in der US-Zone. Die Werke im Osten wurden entsprechend von der sowjetischen Planwirtschaft absorbiert.
Der Kalte Krieg warf seine Schatten voraus und die westlichen Alliierten hatten kein Interesse, einen Industriezweig zu zerschlagen, der Deutschland helfen sollte, um zum Bollwerk gegen die kommunistische Expansion zu werden. Dies verwendet Jeffreys auch als Begründung für die recht milden Strafen, die die 23 vor Gericht gestellten Führungskräfte der IG Farben bekamen. Dabei war der Prozess mehr als jeder andere geeignet, der Menschheit zu vermitteln, welche entscheidende Rolle die Wirtschaft am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte.
Unterm Strich ist Jeffreys eine höchst lesenswerte historische Studie gelungen – es muss eine außerordentliche Fleißarbeit gewesen sein, die Informationen aus all den verschiedenen Quellen zusammen zu suchen. Allerdings gibt es einige Schönheitsfehler: Zum einen stimmt die Behauptung nicht, dass es 1918 eine Kapitulation Deutschlands gab. Und Hindenburg starb nicht 1935, sondern 1934.
Noch viel schwerer wiegt aber die Subjektivität, mit der Jeffreys den Prozess gegen die 23 IG-Farben-Vertreter begleitet. In der Tat fielen die Urteile auch nach objektivem Ermessen milde aus. Aber Jeffreys verlässt in diesen Passagen die Ebene des Historikers und stellt sich so deutlich auf Seiten der Anklage, wie es sich in einer solchen Studie nicht gehört. Da mag man ihm moralisch zustimmen wie man will.
Die Geschichte der IG Farben ist eine Pflichtlektüre und hochaktuell. Denn sie zeigt, wie dramatisch die Folgen sein können, wenn Staat und Wirtschaft zu sehr verschmelzen und voneinander abhängig sind. Politische Motive und Gewinnstreben dürfen nicht miteinander verknüpft werden – so die klare Botschaft. Oder wie es Jeffreys ausdrückt: „Die Geschichte der IG Farben lehrt uns viel über die Schwächen der Menschheit und darüber, wie ein Volk seine Seele aufgab.“
Bibliografie:
Diarmuid Jeffreys
Weltkonzern und Kriegskartell. Der zerstörerische Werk der IG Farben
Karl Blessing Verlag, München 2011
687 Seiten