Spark-Webinar „Medical Life Tech“ „Wir haben eine 42-Milliarden-Euro-Chance“
Den medizinischen Fortschritt, der sich seit der Schwelle zum 20. Jahrhundert vollzogen hat, umreißt Stefan Biesdorf, Partner bei McKinsey, mit prägnanten Zahlen: Waren im Jahr 1900 noch 37 Prozent der krankheitsbedingten Todesfälle weltweit auf akute, also plötzlich eintretende und rasch verlaufende Erkrankungen zurückzuführen, waren es 2013 lediglich noch sieben Prozent. Zugleich stieg der Anteil der Todesfälle, die auf chronische Erkrankungen wie Diabetes zurückgehen, von sechs auf 66 Prozent.
Ein Beleg dafür, dass akute Erkrankungen heute wesentlich besser heilbar oder jedenfalls so behandelbar sind, dass sie in chronische Krankheitsbilder übergehen, mit denen Patienten Jahre oder gar Jahrzehnte leben können. Für diese Verschiebung der Krankheitslast von akuten zu chronischen Leiden jedoch sieht Biesdorf die Länder der Europäischen Union schlecht aufgestellt.
Denn das meiste Geld werde derzeit für Krankenhäuser ausgegeben, die vor allem für die Behandlung akuter Krankheitsbilder gut geeignet seien. „Für Prävention und die virtuelle Versorgung von Patienten über Apps und Telemedizin geben wir dagegen relativ wenig Geld aus – dabei eignen sich diese Mittel besonders gut für die Behandlung chronischer Erkrankungen“, argumentiert Biesdorf.
Medizinischer Fortschritt durch Digitalisierung könne aber nicht nur helfen, das Leid von Patienten zu mildern – die Entwicklung digitaler Lösungen im Medizin- und Gesundheitsbereich stelle auch ein vielversprechendes Geschäftsfeld für Unternehmensgründer dar. Und nicht zuletzt habe die Digitalisierung das Potenzial, die Kosten im Gesundheitswesen drastisch zu senken. „Wir haben hier eine 42-Milliarden-Euro-Chance“, sagt der Experte – auf diese Summe beziffert eine aktuelle McKinsey-Analyse mögliche Einsparungen.
Gesundheitsmarkt stark von staatlichen Regeln abhängig
Um solche Digitalisierungs-Chancen im Gesundheitswesen dreht sich das Webinar „Be inspired about Medical Life Tech“, an dem Biesdorf als einer von acht Expert:innen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Start-up-Szene und Politik teilnimmt. Die Kenner der Materie haben sich zum Auftakt der diesjährigen Ausgabe von „The Spark – der Deutsche Digitalpreis“ unter der Moderation von Ina Karabasz vom Handelsblatt sowie Niko Mohr von McKinsey zum virtuellen Fachgespräch versammelt.
Im Rahmen des Spark-Awards prämieren Handelsblatt und McKinsey jährlich gemeinsam innovative Start-up-Ideen. Dieses Mal im Fokus: junge Unternehmen aus dem Bereich Medical Life Tech, die sich der Transformation der Gesundheits- und Medizinbranche verschrieben haben. Die Bereiche Digital Health und E-Health sind dabei genauso relevant wie BioTech, Pharmaindustrie, Medizintechnik und medizinische Forschung.
Der deutsche Gesundheitsmarkt sei eher träge, da er aufgrund der hohen Quote von über 90 Prozent gesetzlich versicherter Patienten stark von staatlicher Regulierung abhänge, skizziert Katharina Jünger, Gründerin der Telemedizin-App Teleclinic, die Ausgangslage für Gesundheits- und Medizin-Start-ups hierzulande. Immerhin: „Die Corona-Pandemie hat zu einer wachsenden Offenheit von Ärzten und Patienten gegenüber digitalen Gesundheits-Services geführt“, konstatiert die Unternehmerin, die im vergangenen Jahr den Female-Founder-Award im Rahmen von „The Spark“ erhielt.
Trotz solcher Offenheit werde gute Grundlagenforschung hierzulande noch viel zu selten in erfolgreiche Geschäftsmodelle überführt, so die Kritik von McKinsey-Partner Niko Mohr. Dabei sei eine funktionierende Lösung theoretisch auf die ganze Welt übertragbar, schwärmt Otto Birnbaum, Gründer des Venture-Capital-Fonds Revent, vom enormen Potenzial gerade der Medizin- und Gesundheits-Start-ups. „Denn der menschliche Körper funktioniert im Grunde überall gleich.“
Start-up-Beauftragte will Zugang zu Kapital erleichtern
Cyriac Roeding, Mitgründer des US-Unternehmens Earli zur frühen Erkennung und Behandlung von Krebs, sieht bei der Entwicklung des Venture-Capital-Ökosystems in Deutschland einen gewaltigen Schritt nach vorne – wenn die Wagniskapitalgeber für seinen Geschmack auch noch immer etwas zu risikoscheu agieren. An Vorbildern mangele es angehenden Gründern jedenfalls nicht: „Wir haben mit Unternehmen wie Teleclinic und Biontech tolle Medizinfirmen in Deutschland“, betont Roeding. Hier gelte es, anzuknüpfen. Die Gründer wie auch der deutsche Staat seien aufgerufen, die Innovationsfähigkeit des Standortes zu beweisen.
Anna Christmann nimmt die Herausforderung an. Die Beauftragte für digitale Wirtschaft und Start-ups beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz will vor allem den Zugang zu Kapital weiter erleichtern. Sie verweist auf gerade anlaufende Initiativen wie den Deep-Tech-Future-Fonds, der Tech-Start-ups mit einer Kombination aus staatlichen Mitteln und Geld privater Investoren zum Fliegen bringen soll. In den kommenden zehn Jahren stehen ihm dafür Mittel von 1 Milliarde Euro zur Verfügung.
Doch gehe es nicht allein um die Seed-Finanzierung, erläutert Stefan Vilsmeier, Gründer des Medizintechnik-Unternehmens Brainlab. „Die Herausforderung besteht heute vor allem darin, zu einem späteren Zeitpunkt Geld für die weitere Skalierung zu mobilisieren – hier sind US-Fonds stark und picken sich auch in Europa die Rosinen unter den jungen Unternehmen heraus“, so seine Beobachtung.
Regeln zum Schutz von Daten erschweren ihre Analyse
Vilsmeier, dessen Unternehmen auf computergestützte Datenanalyse setzt, um beispielsweise Strahlentherapien in der Krebsmedizin zu optimieren, ist überzeugt: „Die Medizin der Zukunft ist datengetrieben.“ Doch macht er hier zugleich eine weitere Herausforderung aus: Die Aufsicht über den Datenschutz sei in Deutschland und Europa sehr fragmentiert, die Nutzung von Daten damit unnötig erschwert.
Christmann stimmt zu: „Wir müssen hier dringend aufholen. Es ist sehr schade, dass viele Med-Tech-Start-ups mit Daten aus anderen Ländern arbeiten.“ Um die Datennutzung zu vereinfachen, sei etwa bei der elektronischen Patientenakte die im Koalitionsvertrag vorgesehene Umwandlung von einer Opt-in- in eine Opt-out-Lösung hilfreich. Soll heißen: Jeder, der nicht ausdrücklich widerspricht, erhält eine solche digitale Akte mit seinen Gesundheitsdaten. Christmann: „Wir wollen im Gesundheitsbereich mehr Daten zur Verfügung stellen.“
Ein Bekenntnis, dass Vilsmeier gerne hört. Er lobt das deutsche Gesundheitssystem für Innovationen wie die seit kurzem mögliche Verordnung von Smartphone-Anwendungen auf Rezept, die Entwicklern von Gesundheits-Apps einen neuen Weg des Markteintritts eröffnet. „Eine Lösung, die international viel beachtet wird“, so Vilsmeier. Und ein Erfolg, der seiner Meinung nach unbedingt ausgebaut werden muss: „Wenn uns die Digitalisierung unseres Gesundheitswesens gelingt, tun sich enorme Chancen auf.“
Weitere Informationen über "The Spark – Der Deutsche Digitalpreis“ finden Sie hier.