Industrielles Additive Manufacturing Aus dem Drucker statt von der Werkbank
Tief im Inneren von Siemens-Gaskraftwerken sorgt Innovation für die richtige hohe Temperatur. Denn das Herzstück der Gasturbinen – der Gasbrenner – kann mittlerweile mittels 3D-Druck gefertigt werden. Dafür mussten bis vor wenigen Jahren 13 einzelne Bauteile hergestellt und in 18 Schweißvorgängen zusammengefügt werden. Nun besteht der Brenner aus einem einzigen Teil, produziert in einer einzigen Maschine mit dem sogenannten selektiven Lasersintern. Das Verfahren: Additive Manufacturing (AM) oder auch additive Fertigung genannt – im Volksmund besser bekannt als 3D-Druck. Immerhin 30 solcher Gasbrenner sind in einer Turbine verbaut. Deren Herstellungszeit hat sich dank AM von durchschnittlich 26 Wochen auf drei Wochen verringert.
Der 3D-Druck ist keine neue Technologie. „Bereits 1991 haben wir die ersten Systeme an unsere Kunden geliefert“, berichtet Markus Glaßer, EMEA-Verantwortlicher beim 3D-Druck-Technologieanbieter EOS. „Der gesamte Markt ist sogar noch etwa drei Jahre älter.“ Auch wenn also schon seit über 30 Jahren Bauteile im additiven Verfahren gefertigt werden – durch die rasanten Fortschritte der Digitalisierung wird AM jetzt attraktiver und einfacher für den Einsatz im industriellen Umfeld. Und auch die Materialvielfalt hat deutlich zugenommen: 3D-Druck ist nicht mehr nur mit polymeren Kunststoffen als Ausgangsmaterial machbar, sondern auch mit Metall, Faserverbundstoffen und sogar Beton.
Siemens widmet sich dem Thema seit über zehn Jahren. In der eigenen Produktion werden derzeit rund 150 AM-Systeme genutzt. Siemens versteht sich zudem als Lösungsanbieter für industriellen 3D-Druck: „Seit einigen Jahren entwickeln wir spezielle Software und Automatisierungslösungen, um auch die Benutzer der Maschinen mit innovativen Tools auszustatten und den 3D-Druck industriell umzusetzen“, sagt Karsten Heuser, der bei Siemens Digital Industries das Additive Manufacturing verantwortet. Den Technologiekonzern und den AM-Pionier EOS verbindet nicht nur der gemeinsame Firmensitz München. Beide Unternehmen arbeiten eng zusammen bei Fragestellungen, die sich etwa um die AM-Produktion von individuell gefertigten Gebrauchsgütern aus Polymeren oder industriellen Anwendungen aus Metall drehen.
Weniger Gewicht, besseres Strömungsverhalten
Die Vorteile von 3D-gedruckten Bauteilen können sich sehen lassen. Es lassen sich Geometrien schaffen, die mit anderen Fertigungsverfahren nur schwer herstellbar wären. Beim Strömungsverhalten berichtet Heuser von Verbesserungen bis zu 50 Prozent. Das Gewicht reduziert sich bei Einsatz von AM je nach Verfahren zwischen 30 und 60 Prozent. Das mache die Fertigungstechnik gerade für jene Branchen interessant, die auf Leichtbauteile in ihren Produkten angewiesen seien, sagt Markus Glaßer von EOS. Wichtig sei auch der Aspekt der höheren Ressourcen-Effizienz bei der AM-Produktion. „Denn Sie müssen hier nichts aus einem Werkstoff herausarbeiten, sondern bauen Ihr Werkstück aus einem Pulver exakt auf, was Abfälle weitgehend vermeidet.“
Ein weiteres Argument für den Einsatz von 3D-Druck: Es lassen sich damit individuell auf den Konsumenten zugeschnittene Produkte herstellen, ohne dass Produktionslinien aufwändig umgebaut werden müssen. Eines von vielen Beispielen dafür liefert das Londoner Start-up HEXR und seine individuell gefertigten Fahrradhelme. Zunächst wird der Kopf des Kunden mit Hilfe einer Art Hightech-Badekappe mittels iPad und Scanner erfasst. Aus den Daten designt die HEXR-Software an dem digitalen Kopf vollautomatisch einen Fahrradhelm, dessen Kunststoffschale eine Honigwabenstruktur aufweist. Dieses Design wird in eine 3D-Geometrie übertragen und an einen Produzenten geschickt, der nun das digitale Modell in seine Maschine überführt. Der Drucker – ein EOS-Modell – erhitzt dann den Werkstoff, ein Polyamid-Material, an genau den Stellen, an denen im Modell die Honigwaben für die individuelle Passform sitzen. Zum Schluss wird eine Schale aufgesetzt – und der Fahrradhelm ist fertig. „Ich habe es selbst ausprobiert“, berichtet Karsten Heuser, „bei mir kam der fertige Helm vier Wochen nach dem Maßnehmen per Post an.“ Solch ein passgenauer Kopfschutz erhöht nicht nur die Sicherheit seines Trägers bei einem Unfall – er ist auch komplett wiederverwertbar.
Perfekter Fahrradhelm aus dem 3D-Drucker
Auch wenn die Produktionstechnologie AM an sich ausgereift ist – etwas zu verbessern gibt es immer. Siemens nimmt deshalb mit seinen speziell zugeschnittenen Softwarelösungen die gesamte Wertschöpfungskette in den Blick. „Angefangen mit der effizienten Materialeinbringung, wo es etwa darum geht, wie das Pulver beschaffen sein muss, über den Prozess des Engineerings mit der Entwicklung der passenden 3D-Geometrie bis hin zum eigentlichen Druckprozess“, erläutert Heuser. Darüber hinaus unterstützt Siemens-Software bei der Qualitätskontrolle des fertigen Bauteils und weiteren nachgelagerten Produktionsschritten, etwa der Oberflächenbehandlung und der korrekten Konfektionierung.
Dass sich auf diese Weise nicht nur einzelne Prozesse, sondern ganze Produktionsabläufe verbessern lassen, zeigt wieder das Beispiel HEXR. Mittels iPad und Scanner kann der Fahrradhelm-Produzent momentan etwa 2000-3000 Helme pro Jahr scannen und additiv herstellen. Nun bringt das Unternehmen eine iPhone-App in den Markt, mit der jeder seinen Kopf selbst scannen und einen individuellen Helm bestellen kann – die Zahl potenzieller Käufer steigt damit enorm. Für das Start-up ist dieser Schritt nichts weniger als der Einstieg in die individualisierte Massenproduktion – künftig muss HEXR also deutlich mehr Helme pro Jahr fertigen können. Siemens und EOS wurden beauftragt, die Produktionskette dahingehend zu überprüfen, wie sich diese hohen Stückzahlen realisieren lassen. „Dazu haben wir einen digitalen Zwilling der gesamten Produktion erstellt und die Engineering-Ketten optimiert. So konnten wir dem Kunden in einer digitalen Fabrik zeigen, was es heißt, entsprechend hohe Stückzahlen zu produzieren“, so Heuser.
Schnell auf den Markt reagieren
Ob Helme, Schuhsohlen oder Orthesen: Entsprechende Optimierungen ließen sich bei vielen Gütern vornehmen, die individuelle Anpassungen erfordern, ist Heuser sicher. „Überall können Sie vorab schnell und zuverlässig durchspielen, wie der Aufwand für eine individuelle Fertigung in hoher Stückzahl ist und inwiefern Sie wirtschaftlich arbeiten.“
Additive Fertigung versetzt Produzenten aber auch in die Lage, sich schnell auf veränderte Marktbedingungen einzustellen. Aktuellstes Beispiel ist die Corona-Krise. „Die aktuelle Situation hat uns vor einigen Wochen dazu veranlasst, das AM-Network frei zugänglich zu machen für Service-Provider und für diejenigen, die jetzt dringend nach bestimmten Teilen wie etwa Masken oder medizinischen Ersatzteilen suchen“, sagt Heuser. Ursprünglich entwickelte Siemens das AM-Network als digitalen Marktplatz für AM-Bauteile: Firmen können damit die gesamte Kette von der Bestellung eines bis zur Abwicklung digital in einer Plattform realisieren.
„Konkret kann etwa ein Krankenhaus, das ein bestimmtes medizinische Bauteil benötigt, dieses digital im AM-Network hochladen, erhält dann angezeigt, wer dieses Bauteil mit welcher Technologie produziert und kann direkt über die Plattform mit dem gewünschten Hersteller in Kontakt treten“, so Heuser. Wer weitergehende Hilfe benötigt, um etwa eine Handskizze in eine 3D-Druck-Geometrie umzuarbeiten, kann sich über die Plattform entsprechende Unterstützung bei Siemens-Ingenieuren holen.
In der gegenwärtigen Situation spielt die Kombination aus AM-Technologien, ganzheitlicher Software und Plattform-Ökonomie ihre Stärke voll aus. Markus Glaßer von EOS ist sicher, dass damit das Ende aber noch lange nicht erreicht ist: „Mein Gefühl: Digitalisierung und 3D-Druck werden einen großen Aufschwung erleben.“
Erleben Sie hier das Additive Manufacturing Experience Center von Siemens im virtuellen 3D-Showroom.