Was kommt nach Covid-19? Der beschleunigte Wandel der Mobilität
Der Wandel kam schneller und umfassender als es die Verkehrsplaner je ahnten. „Velorution“, so nennen die Brüsseler Bürger das, was seit dem 11. Mai für drei Monate in der belgischen Hauptstadt umgesetzt wird, wenn die Ausgangsbeschränkungen wegen des Coronavirus gelockert werden. Dann sollen im sogenannten inneren Ring die Straßen für Fußgänger frei gegeben werden und Autos dürfen mit maximal 20 Stundenkilometer entlangrollen.
Das geschieht auch, damit sich Passanten mit ausreichend Abstand bewegen können. Brüssel ist nicht allein. Im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg existieren inzwischen 18 temporäre Spielstraßen, um Kindern mehr Raum zu geben. In Bogota wurden 76 Kilometer an neuen Radwegen ausgewiesen, New York City schließt Straßen ebenso wie das kalifornische Oakland, in dem 10 Prozent der Straßen für Autos gesperrt wurden. Für den Moment sieht die Welt vielerorts schlagartig anders aus und mit ihr die Mobilität.
Aber bleibt das so? Timo Möllers Antwort darauf ist ein differenziertes Jein mit zahlreichen Details. Möller ist Leiter des Centers for Future Mobility (MCFM) bei der Unternehmensberatung McKinsey. Autonomes Fahren, Elektrifizierung, Shared Mobility, Vernetzung, das sind die Themen, die das MCFM beleuchtet und die Konsequenzen für die Industrie beschreibt – und die weitere Verbreitung des Virus SARS-CoV-2 und die weltweiten Folgen der Einschränkungen des öffentlichen Lebens betreffen für jeden sichtbar die Mobilität.
Dennoch warnt Möller davor, plakativ von einer neuen Mobilität zu sprechen, die mit der jetzigen und der einst erwarteten wenig bis gar nichts zu tun hat. „Wir müssen genau trennen zwischen dem, was in den kommenden zwölf bis 18 Monaten geschieht und was in der Phase bis 2030 passiert“, sagt Möller, der zusammen mit Partnern und Experten von McKinsey die Mobilität der Zukunft nach der Pandemie in dem Report „Wie verändert Covid-19 die Mobilität?“ ausführlich beschrieben hat.
Die Parameter, die es zu berücksichtigen gilt, sind mannigfaltig. Sie verändern sich in einem noch höheren Tempo als bereits zuvor. Und sie unterliegen einer politischen wie gesellschaftlichen Entwicklung, die Einzellösungen von Regionen und Nationen hervorbringen. „Wir lernen jeden Tag in dieser Pandemie dazu. Aber einige Entwicklungen verfestigen sich und es wird klarer, welche Faktoren entscheidend sind.“, sagt Möller. Klar ist: Die Folgen der Pandemie und ihrer Eindämmung werden einen langanhaltenden Effekt auf die Mobilität haben, da sie das Verhalten der Konsumenten, staatliche Regularien oder Technologien verändern werden.
Harte Einschnitte und Rückgänge
Wie in vorigen Krisen werden sich Menschen in Erwartung von rückläufigen Einkünften bei Ausgaben zurückhalten. Sie werden Investitionen in ein neues Auto in eine – ungewisse – Zukunft verschieben. Der Berechnung der Autoren der Studie von McKinsey zufolge könnten die Ausgaben der Privathaushalte weltweit zwischen 40 und 50 Prozent zurückgehen. Das entspräche einem Rückgang des globalen Bruttosozialprodukts um rund 10 Prozent – mit einer Kettenreaktion an Umsatzrückgängen in zweiter und dritter Reihe.
In der Mobilität ist der offensichtlichste und zeitnahe Effekt ein Rückgang der Verkaufszahlen für PKW. Mindestens 7,5 Millionen Fahrzeuge werden, so die Berechnung der Autoren, im Jahr 2020 weniger produziert. Auf dem bisherigen Höhepunkt der Krise waren 90 Prozent der Produktionsstätten in China, Europa und Nordamerika stillgelegt. „Das ist der Stand, den wir heute kennen“, sagt Möller. Es sei nicht ausgeschlossen, dass sich im Falle einer Verschärfung der Infektionsrate und erneuten schlagartigen Verbreitung des Virus erneut zu massiven Beeinträchtigungen für die Automobilindustrie komme.
Es sieht wenig besser aus im öffentlichen Nahverkehr und den Transportunternehmen. Die Nutzung ist in großen Städten weltweit zwischen 70 und 90 Prozent zurückgegangen. Die Anbieter müssen sich mit neuen Anforderungen an Hygeniestandards auseinandersetzen, die die Kapazitäten beeinträchtigen.
Einige Start-ups in der Mobilitäts-Branche haben von Regierungen Unterstützungen erhalten, aber eine dünne Kapitaldecke wird ihren Preis fordern. „Gerade im Bereich Shared Mobility wird sich die lang erwartete Konsolidierung beschleunigen“, sagt Möller.
Mobilität wird zum Flickenteppich
Die globale Industrie wird sich in vielen Nationen mit anderen Anforderungen an ihre Angebote und Produkte auseinandersetzen müssen. Der regulatorische Flickenteppich, den es bereits innerhalb einzelner Nationen gibt, ist auch die zu erwartende Regel innerhalb größerer Räume wie Europa, Asien oder Nordamerika und wird kurzfristig noch kleinteiliger. Schon vor der Pandemie gab es die Lokalisierung der Regularien, so Möller, und jetzt käme noch eine Ebene hinzu, in der Städte festlegen, wie Mobilität möglich sei. Globale Anbieter kämen nicht darum herum, sich damit zu arrangieren.
Einige Nationen werden die Krise nutzen, um die Transformation zu einer nachhaltigeren Mobilität zu beschleunigen, andere Nationen werden versuchen, mit Hilfen und Regularien ihre Autoindustrien zu schützen. Während die einen Länder so vielleicht den Erwerb von E-Autos fördern, werden andere Regierungen strenge Ziele zur Minderung der Abgasemissionen nach hinten verschieben, so die Autoren, die in der Studie Szenarien für drei Regionen entwerfen.
Die Krise und ihr Umgang damit wird die Unterschiede zwischen Nationen eher verstärken, statt eine globale Anpassung von Nutzermodellen zu fördern. Elektrische Fahrzeuge dürften in China nach der Krise erfolgreich sein, sagen die Autoren. In den USA hingegen könnte ihr Absatz stagnieren, abhängig davon, ob die Regierung die Regeln zu Abgasemissionen lockert und der Ölpreis weiter niedrig bleibt. In Summe könnte, so die McKinsey-Studie, dies dort die Investitionen in Elektromobilität verringern und unter das Niveau von vor der Krise fallen.
Was heißt das für die deutsche Autoindustrie?
Für die deutsche Industrie und Mittelstand rund um die großen Autohersteller und Mobilitätsanbieter werden deswegen die kommenden Monate und Jahre entscheidend sein, wie sie aus der Pandemie hervorgehen. „Die Kunst der erfolgreichen Unternehmen wird darin liegen, dass sie einerseits sehr eng an den Städten und den Kunden vor Ort sein müssen, dass sie aber anderseits intern modulare Konzepte haben, die beispielsweise zu bestimmten Archetypen von Städten passen. Das wird die Industrie über die kommenden Jahre beschäftigen“, sagt Möller.
Neben Kosten wird es vor allem darum gehen, die richtigen Entscheidungen im Portfolio der Produkte zu treffen. Aber auch im Vertrieb zeigt die Pandemie, dass es nötig ist, die Digitalisierung entschlossener voranzutreiben. „Wir sehen, dass die Kunden ein anderes Verhalten an den Tag legen, hin zu noch mehr Information im Internet, bis hin zu virtuellen Verkaufsgesprächen. Auch da gibt es eine Beschleunigung.“ Die seit einigen Jahren laufende radikale Transformation in der deutschen Autoindustrie, zusammen mit einer historisch gewachsenen Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, würden dieser Branche nun helfen.
Wie bewegen wir uns morgen
Auf viele Szenarien vorbereitet zu sein, wird für die Industrie entscheidend sein. Denn obwohl Forscher fieberhaft nach einem Impfstoff suchen – der dann auch noch produziert und Milliarden Menschen verabreicht werden muss – die Konsequenzen für unser Leben sind in ihrer Gänze noch immer nicht abzusehen. Eine schnelle Aufhebung von sämtlichen Vorgaben und Empfehlungen zum Social Distancing sind bis dahin nicht zu erwarten.
Deswegen ist auch nicht mit einer raschen Rückkehr zu alten Gewohnheiten in der privaten Mobilität der Menschen zu rechnen. Menschen werden einerseits versuchen, ihr eigene Ansteckungsrisiko gering zu halten und zum Beispiel Bus und Bahnen meiden. Denn noch, so Möller, sei es so, dass sich die Menschen in ihrem eigenen Auto sicherer fühlten, was auch zu einer geringeren Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs beitrüge. Das belegen auch die ersten Erkenntnisse aus China. Dort wird das private Auto, Fahrrad und die eigenen zwei Beine als Fortbewegungsmittel häufiger genutzt, während die Zahlen im öffentlichen Nahverkehr zurückgehen.
Neue Formen der Mobilität werden am Ende kommen – nicht jedoch wegen der aktuellen Einschränkungen. „Wenn wir langfristig auf die Mobilität schauen, dann wird sich an den bisherigen Annahmen nichts grundsätzliches ändern“, sagt Möller. Im Gegenteil - einige Faktoren wie zum Beispiel die bislang nur vorübergehend geplanten Fahrradspuren in internationalen Metropolen, werden aber den begonnenen Wandel beschleunigen. Die Mobilität in den Städten und Ballungsräumen steht vor einer Zeitenwende. „Ein einfaches Weiter-So, wie wir es vielleicht in den vergangenen 20 bis 30 Jahren hatten, vertragen unsere Städte nicht mehr.“ Stau, Emissionen und Kosten würden das verhindern.
Es gäbe nicht ausreichend Platz dafür, dass jeder in seinem eigenen Gefährt zur Arbeit oder Einkaufen fährt, sondern eine Verdichtung von Verkehr sei nötig. Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigten zwar, dass Menschen nach dem Abflauen einer unmittelbaren Gefahr zu ihren Verhaltensmustern zurückkehrten – aber damit auch die gleichen Probleme in den Städten. „Die Trends in der Mobilität werden sich durch die Pandemie zwar verlangsamen, aber die Herausforderungen sind die gleichen, die es schon vor der Pandemie waren“, sagt Möller.