Roncallis Geschäft mit dem Spaß Was für ein Zirkus

Lili Paul, jüngste Tochter des Roncalli-Gründers, trainiert mit ihrem Tanzpartner für die täglichen Vorstellungen. Morgens und abends sitzt die 18-Jährige über den Schulbüchern.
„Es läuft Wasser ins Zelt!“ Der Mitarbeiter steht atemlos im Zirkuswagenbüro. An der Wand hängt ein großer Bildschirm, der die Vorgänge in der Manege des Zirkus Roncalli zeigt, gerade trainieren Artisten am Trapez und am Boden. Patrick Philadelphia sitzt am Computer, er will die Kosten für den Zirkusumzug von Ludwigsburg nach Linz kalkulieren. Aber Wasser im Zelt? Er lässt die Zahlen Zahlen sein und folgt dem Mitarbeiter nach draußen. In Sekunden ist er durchnässt. Philadelphia hat als operativer Zirkuschef vieles unter Kontrolle. Das Wetter nicht.
Aber ob es nun stürmt, regnet oder hagelt – es ist 14 Uhr, um 15.30 Uhr beginnt die Vorstellung. Betriebsleiter Philadelphia reagiert sofort: „Wir ziehen einen Graben hier entlang, um das Wasser umzuleiten.“ Dann lässt er Stroh verteilen, die Besucher sollen keine nassen Füße bekommen. „Überraschungen sind bei uns Alltag, nicht nur in der Manege“, kommentiert er den Wolkenbruch. Eine Gelassenheit, von der sich jeder Manager inspirieren lassen kann. Überhaupt lässt sich aus der Manege für den alltäglichen Zirkus Wirtschaftswelt einiges mitnehmen.
Philadelphia ist im Zirkus aufgewachsen, sein Vater war Pferdedresseur beim Wettbewerber Krone. Der Sohn aber fühlte sich nie als Artist. Ihn interessierte, wo das Sicherheitsnetz hängt. Wer den Sand in die Manage schafft. Wie die Kassenhäuschen von A nach B kommen. Kurzum: Organisation, Betrieb und Routine hinter den prächtigen Kulissen. Das ist beim Zirkus wie in anderen Unternehmen. Der Großteil der Arbeit läuft im Verborgenen, und die tollste Akrobatik nutzt nichts, wenn das Image dahin ist.

Weißclown Gensi schminkt sich vor der Aufführung – sein Gesicht ziert jedes Roncalli-Plakat.
Philadelphia kam vor 20 Jahren zu Roncalli. Er kümmert sich um einen reibungslosen Ablauf des Tagesgeschäfts und ist für die Logistik und Kostenkontrolle zuständig, wenn der Zirkus umzieht. Roncalli fährt Bahn, eine Fahrt kostet bis zu 80.000 Euro. 25 Leute hat Philadelphia in seinem Team vor Ort, darunter Instandhalter, Elektriker, Schneider und Mitarbeiter in der Wäscherei. „Alles ist straff organisiert bei uns“, sagt der 42-Jährige. „Anders geht es gar nicht, denn bei uns spielen Sicherheit und Pünktlichkeit die wichtigste Rolle.“ Das kostet: Versicherungen, Sicherheitsunterweisungen, Sicherheitstechnik und Überprüfungen kosten jährlich sechsstellige Beträge.
Ein paar Meter neben Philadelphias Wagen schlägt Lili Paul ihr Mathebuch zu. „Ahhhh, endlich Ferien!“ Sie lehnt sich zurück. Die 18-Jährige ist die jüngste Tochter von Bernhard Paul, dem Roncalli-Gründer und -Chef, der den Zirkus nun durch die Jubiläumstournee zum 40-jährigen Bestehen führt. Die Schulbildung muss für die Artistenkinder in den fahrenden Betrieb integriert werden. So auch bei Lili Paul. Zwischen neun und 13 Uhr steht Schule auf dem Plan, dann trainiert sie für ihre Akrobatiknummer. Um 14.30 Uhr geht es in die Maske. Zwei Vorstellungen gibt es täglich, darin tritt sie zweimal auf, einmal mit einer Solonummer als Kontorsionsakrobatin.
Eine Uhr trägt sie nicht, sie weiß genau, zu welchem Takt der Musik sie in die Manege laufen muss. Abends, nach dem großen Show-Finale, sitzt sie wieder bis 20 Uhr über ihren Büchern, montags ist der freie Tag. Da bleiben Zirkuszelt und Schulwaggon geschlossen. Nächstes Jahr macht sie Abitur, und dann „ein Jahr erst mal nichts“, sagt sie. Dann will sie sich überlegen, was sie studieren möchte.
Am Zirkuscafé sammeln sich derweil einige Mitarbeiter und beobachten einen gigantischen Lkw, der heranfährt. Die Seitenwand ziert ein neuer Roncalli-Aufdruck. „Wow, unser neuer Auflader!“, entfährt es Dorothee Kipp. Die 31-Jährige ist so etwas wie die Headhunterin von Roncalli, wobei sie dort lieber Schatzsucherin genannt wird. Seit drei Jahren ist sie beim Zirkus, spürt auf der ganzen Welt neue Talente auf. Im vorigen Jahr war Kipp in Moskau und Kuba unterwegs, um Künstler für das Jubiläumsprogramm zu finden. Sie schaut sich bei der Konkurrenz, aber auch in Varietés, auf Festivals oder bei Straßenkünstlern um.

Roncalli-Gründer und -Chef Bernhard Paul mit seinen Töchtern Vivian und Lilian, die in das Leben in der Manege hineingewachsen sind.
Gerade gönnt sie sich eine Latte macchiato, sitzt am Tisch mit Fulgenci Mestres Bertran, kurz Gensi, dem Weißclown. Sie schauen dem Lkw hinterher, den nun Clowns, Artisten, Pferde und Ballons zieren. „Wir leben hier in einer Traumwelt“, sagt Kipp. „Permanent sind wir umgeben von guter Laune, Magie und Faszination.“ Sie wohnt mit den Artisten und Mitarbeitern im Roncalli-Dorf hinter dem Zelt und hat oft gar keine Lust, das Gelände zu verlassen für die Welt da draußen, wo es weder nach Popcorn duftet noch rote Teppiche ausliegen.
Kipps Herausforderung: die Tradition Roncalli erhalten und gleichzeitig jüngere Zuschauer begeistern. In diesem Jahr haben sie dafür einen Beatboxer von der Straße ins Programm genommen. „Es ist total wichtig, dass die Artisten auch zu unserer Familienkultur passen“, sagt Kipp. „Wir leben hier schließlich auf engstem Raum zusammen.“ Von der Vielfalt in der Belegschaft kann mancher Konzern nur träumen. Gut 90 Menschen aus 22 Nationen gehören dazu.
Wie jedes Familienunternehmen hat auch Roncalli seine treuen Seelen. Etwa Gensi, der in seiner zwölften Saison dabei ist – eine Ewigkeit für einen Artisten. „Das ist der beste Zirkus in Europa für Clowns“, sagt der Weißclown aus Barcelona, dessen Gesicht alle Roncalli-Plakate ziert. Jetzt sitzt er mal ungeschminkt, in Jeans und T-Shirt, beim Kaffee. „Wer hier ein Engagement bekommt, der ist wirklich gut“, fügt er hinzu.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.