Ausstellung: Kunstsammlerin Patrizia Sandretto Re Rebaudengo: Mit Pillendosen fing es an

Die Turiner Kunstsammlerin: „Was ich wirklich finden will, ist Kunst, die eine Geschichte erzählt.“
Florenz. Ohne sie geht nichts in Turin. Patrizia Sandretto Re Rebaudengo gilt als ungekrönte Königin der Kunstwelt in der Hauptstadt des Piemont. Wohl niemand könnte dort in ein höheres Amt gelangen, ohne dass sie zumindest konsultiert würde. Auf der örtlichen Artissima, Italiens wichtigster Kunstmesse, können sich einheimische wie auswärtige Aussteller freuen, wenn „la Sandretto“ mit Freunden und Bekannten ihren Stand besucht, oder dort gar etwas kauft. Denn im Anschluss sind weitere Verkäufe wahrscheinlich.
Auch international gilt die Adlige als Tastemaker. Ihre Fondazione Sandretto Re Rebaudengo betreibt eine Ausstellungshalle in Turin, den Familien-Palazzo im nahegelegenen Guarene inklusive eines Skulpturenparks und neuerdings auch einen Ableger in Madrid. Sie war Botschafterin der Art Basel Cities für Buenos Aires. Aktuell ist eine Art Best of-Schau ihrer Sammlung im Palazzo Strozzi in Florenz zu sehen.
Sammeln ist Teil der Familientradition. Ihre Mutter sammelte Porzellan, vor allem die Meissener Affenkapelle hatte es ihr angetan. Sie selbst fing an Pillendosen zu sammeln, als sie zwölf Jahre war. In den 1980er-Jahren entdeckte sie das Sammelgebiet „American Custom Jewellery“: „An diesem Schmuck kann man die Geschichte der USA ab der Großen Depression ablesen.“
Studiert hat sie allerdings Wirtschaft, nicht Kunstgeschichte. Entdeckt habe sie ihre Leidenschaft für zeitgenössische Kunst, als ihre Freundin Rosangela Cochrane sie 1992 mit nach London genommen habe, erzählt sie. „Aber was wirklich mein Leben verändert hat, war die Künstler kennenzulernen und sie im Atelier zu besuchen. Das bedeutet Sammeln für mich: mit den Künstlern verbunden zu sein und in ihre Arbeit eingebunden.“
Die Inhalte stünden für sie im Vordergrund: „Es geht mir nicht darum, Namen zu sammeln, sondern darum, die richtige Arbeit eines Künstlers zu finden.“ Beim Gang durch die Ausstellung im Palazzo Strozzi könnten an dieser Selbstsicht Zweifel aufkommen. Strozzi-Direktor und Kurator Arturo Galansino dürfte nicht ganz zufällig vor allem bekannte Namen und Werke mit Schauwert ausgewählt haben. Arbeiten von Maurizio Cattelan, Cindy Sherman, Damien Hirst, William Kentridge, Berlinde De Bruyckere oder Sarah Lucas begegnen dem Besucher, nachdem er die gigantische Raketenskulptur von Goshka Macuga im Innenhof passiert hat.

Eine gigantische Raketenskulptur von Goshka Macuga aus der Sammlung Patrizia Sandretto Re Rebaudengo verschlägt einem den Atem.
Anderseits hat sie die heutigen Stars auch schon frühzeitig gekauft. „Man sagt, dass jeder seine Generation sammelt“, erklärt sie. „So war es auch bei mir. Aber jetzt kaufe ich Arbeiten aus der Generation meiner Söhne. Ich lerne unglaublich viel durch die jungen Künstler. Es ist eine gute Art, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Vielleicht auch ein Weg, jung zu bleiben. Obwohl mich einige Künstler ‚Mama‘ nennen.“
Beim Besuch einer der bis zu zehn jährlichen Ausstellungen der Stiftung in Turin dürfte Kunden der international großen Abendauktionen jedoch kaum eine der gezeigten Positionen geläufig sein. Absolut zeitgenössisch und mitten im Diskurs stehend ist das Programm. „Arbeiten in meiner Sammlung sprechen oft von Poesie und vom Sozialen“, erzählt sie. „Was ich wirklich finden will, ist Kunst, die eine Geschichte erzählt.“
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Darauf legt die Sammlerin mindestens so großen Wert wie auf ihre persönliche Verbindung mit der Kunst: „Ich glaube, es gibt wirklich einen roten Faden zwischen meinem Leben und dem Sammeln. Ich habe von Anfang an Frauen gesammelt. Weil es sehr schwierig war für Frauen, in den Neunzigern eine Karriere zu haben.“
Der ubiquitäre Kurator und Leiter der Londoner Serpentine Gallery Hans-Ulrich Obrist zählt zu ihren Freunden. Und auch zu vielen Galeristen hat sie einen guten Draht. Kamel Mennour hat wie sie Wirtschaft studiert und genau zu der Zeit, als diese sich für das Sammeln von Kunst begeisterte, seine erste Galerie in Paris eröffnet. Die Beiden kennen sich gut, erklärt Mennour: „Ich habe Patrizia vor mehr als 15 Jahren zum ersten Mal getroffen. Sie war bereits eine der größten Sammlerinnen zeitgenössischer Kunst, aber sie war immer noch von einer ständigen Neugier und einem leidenschaftlichen Interesse an aufstrebender Kunst und Künstlern angetrieben.“

Blick in die Ausstellung im Palazzo Strozzi. Jeder Saal setzt eigene Akzente.
Die aktuell zu beobachtende Liaison der großen Luxus- und Modemarken mit der Kunstwelt scheint sie eher mit Skepsis zu begleiten. Auf die Frage, wie sie diesen Trend sehe, antwortet sie diplomatisch: „Ich glaube nicht, dass die Kooperation beider Sphären zwangsläufig der Kunst schadet. Wenn auf diesem Weg die Arbeit eines Künstlers mehr Menschen erreicht als nur die Kunstwelt, ist das nicht eine gute Sache?“ Gleichzeitig warnt sie: „Die Künstler müssen allerdings sehr genau wissen, worauf sie sich einlassen und wie sie damit umgehen.“
Sie ist fest davon überzeugt, dass Kunst eine Botschaft hat, und diese Botschaft in die Welt zu tragen, ist ihr zentrales Anliegen. „Ich glaube, dass Kunst von heute über die Welt von heute spricht, aber in der Zukunft auch über die Vergangenheit reden kann“, sagt sie. „Kunst kann auch ein Werkzeug sein, um jungen Menschen die Vergangenheit zu erklären.“

Vermittlung betreibt die Stiftung wie kaum eine andere private Institution in Europa. Denn Kunst habe durchaus die Kraft, die Gesellschaft zu verändern – „wenn jemand eine Ausstellung besucht und die Kunst erklärt bekommt – denn zeitgenössische Kunst ist erklärungsbedürftig. Dafür haben wir Vermittler.“ Seit der Eröffnung in Turin im Jahr 2002 bis zu Beginn der Pandemie hätten sie jedes Jahr 30.000 Schüler zu Besuch gehabt. Ihr Appell: „Wir müssen einfach Wege finden, die Kunst breiter zu kommunizieren.“





