Blockbuster in der Fondation Louis Vuitton Tuchfabrikanten mit Weitsicht: Wie die Brüder Morosow Picasso nach Moskau brachten

Der Sammler Iwan Morosow liebte die Kunst und leibliche Genüsse.
Paris Eine reine Wonne ist der Besuch der Ausstellung „Die Sammlung Morosow. Ikonen der Moderne“ in der Pariser Fondation Louis Vuitton. Bernard Arnaults kulturelles Aushängeschild leistet sich milliardenschwere Kosten, um zu zeigen, wie junge russische Großkapitalisten die französische Malerei ihrer Zeit in Moskau durchsetzten. In Szene gesetzt hat die Schau die Kuratorin Anne Baldassari.
Die Brüder Michail (1870 – 1903) und Iwan (1871 – 1921) Morosow, Sprosse einer steinreichen Familie Textilindustrieller, sammelten anfangs russische Maler. Rasch entdeckten sie die französischen Impressionisten, die Vertreter der farbintensiven „Fauves“-Bewegung sowie Paul Bonnard, Henri Matisse und Pablo Picasso.
Michail verfügte nach dem frühen Tod des Vaters im Jahr 1882 über substanzielle Finanzen, die ihm das Leben eines Schriftstellers und Kunstsammlers ermöglichten. Mit sicherem Auge tätigte er seine Ankäufe, beraten von russischen Malern und Pariser Kunsthändlern. Sein Bruder Iwan übernahm 1895 nach Beendigung seines Studiums in Zürich die Leitung der riesigen Baumwollmanufaktur. Kunst kaufte er etwas später, systematisch und in großer Menge, wie die Pariser Auswahl anhand von rund 170 Exponaten zeigt.
Im Untergeschoss, wo die Ausstellung beginnt, sollte man die Augen heben und die Nachbildung des Reliefs der russischen Bildhauerin Anna Golubkina (1864 – 1927) betrachten. Die Assistentin von Auguste Rodin ist eine von dreien, in der Schau vertretenen Künstlerinnen. Ein Vetter der Morosow-Brüder, Mäzen des Moskauer „Kunsttheaters“, hatte das Bronzerelief einst für den Haupteingang des Theaters bei der jungen Künstlerin bestellt.
Der erste Saal wartet mit einer dunklen Ahnengalerie der Morosows auf. Geschaffen von den russischen Malerstars des 19. Jahrhunderts in akademischer Maltradition, dient er als didaktischer Einstieg in die Familien- und Zeitgeschichte. Damit unterstreicht die Kuratorin zugleich, mit welchem Mut und Geschmack die Morosow-Brüder sammelten. Sie waren empfänglich für die farbintensiven, neuen Formen, den revolutionären Bildaufbau und die Thematik der französischen Malerei.

Das in den frühen 1890er-Jahren geschaffene Ölgemälde bewahrt heute die Staatliche Eremitage von St. Petersburg auf.
Stark vergrößerte Fotos zeigen die Riesenpaläste der Moskauer Großkapitalisten mit ihren dicht behängten Wänden.
Subtil und mit der Grandezza einer an Blockbuster gewöhnten Kuratorin gestaltete Anne Baldassari alle Säle, vom Erdgeschoss bis zum zweiten Stock des Museumsbaus. Ein Raum mit Gemälden von Bonnard vermittelt sonniges Gelb und Glücksgefühl. Nebenbei erfährt man aus Gratisbroschüren und dem viel zu großen Katalog, dass es Michail Morosow war, der Bonnard entdeckte.
Die Brüder Morosow und ihr befreundeter Sammlerkollege Sergej Schtschukin ergänzten ihre Ankäufe zu Werkgruppen. Denn sie planten, in der Moskauer Tretjakow-Galerie ein Museum der europäischen Malerei einzurichten. Auf ihr persönliches Vergnügen und die individuelle Hängung in ihren eigenen Moskauer Anwesen brauchten sie dabei nicht zu verzichten.
Im Saal mit 13 Gemälden von Paul Gauguin stammen zwölf aus Tahiti. Michail erwarb das erste Gemälde im Jahr 1900, als er wegen der Weltausstellung lange in Paris blieb. Er brachte als Erster ein Gauguin-Bild nach Russland. Gauguins exotische, paradiesische Vision eines fernen Daseins entsprach vermutlich Iwan Morosows Vorliebe für leibliche Genüsse. Das deutet das sinnliche Porträt seines Malerfreunds Walentin Serow an.

Das erste von 13 Gemälden Gauguins brachte Michail Morosow nach Moskau. Abgebildet ist "Eu haere io oe (Ou va-tu?)", La femme au fruit, Tahiti" aus dem Jahr 1893 (Ausschnitt).
Generell mochten beide Brüder Landschaftsdarstellungen. Sie ziehen sich denn auch wie ein thematischer Leitfaden durch die Ausstellung. Fast quadratische Großformate in faszinierender Farbgebung von Monet stehen zum Beispiel im Dialog mit Michail Wrubels Riesenlandschaft „Lilas“.
Dazu ein Einwand: Die Unternehmensstiftung Louis Vuitton ließ sämtliche Gemälde der 1918 verstaatlichten und vernachlässigten Sammlung Morosow restaurieren und mit entspiegeltem Glas neu rahmen; auch die in Moskau und Sankt Petersburg verbliebenen Bilder.
Besonders bei den Landschaften von Monet und Wrubel fallen die intensiven, viel zu sichtbaren Restaurierungen auf. Vermutlich waren die jahrzehntelang in Sibirien eingelagerten Werke so schlecht erhalten, dass man für ihre Rettung harte Maßnahmen treffen musste.
Interessanterweise ermöglichte es die wissenschaftliche Durchsicht französischer und russischer Archive, viele Ankäufe und die für sie bezahlten Preise ausfindig zu machen.
Für Claude Monets „L’Etang à Montgeron“ (Teich in Montgeron) etwa bezahlte Iwan Morosow 10.000 Franc. Für Pablo Picassos Gemälde „Les Deux saltimbanques“ (Die beiden Gaukler), das er 1901 malte, beglich der Sammler beim Kunsthändler Ambroise Vollard dagegen nur 300 Franc. Dieses Werk war 1908 der erste Picasso, der nach Russland kam.
Übrigens erwarb Iwan nur drei Picassos; darunter 1913 das kubistische „Porträt Ambroise Vollard“ für 3000 Franc und „Acrobate à la boule“ (Akrobatin mit dem Ball) von 1905. Es befand sich zuerst in der Avantgarde-Sammlung von Leo und Gertrude Stein und ging über den Galeristen Daniel-Henry Kahnweiler an Iwan Morosow.
Der Händler Paul Durand-Ruel vermittelte Iwan sieben Cézanne-Gemälde auf einmal. Sie kosteten ihn insgesamt 93.000 Franc. Darunter befanden sich Ansichten vom Berg Sainte-Victoire, Stillleben und Porträts, die in Paris das Auge erfreuen.
Eine Überraschung wartet in einem der hohen Schachtsäle der Stiftung auf, wo im Halbdunkel nur ein einziges Gemälde von Vincent van Gogh zu sehen ist: „La Ronde des prisonniers“. Den „Rundgang der Gefangenen“ vor hohen Mauern berechnete Eugène Druet mit 37.000 Euro.
Iwan Morosow erteilte mehrere Aufträge an Bonnard und an Matisse, dessen „Marokkanisches Triptychon“ er mit einem Scheck über 24.000 Franc beglich. Der größte Auftrag ging 1908 an Maurice Denis, dem er die Ausstattung seines zwölf Meter hohen, mit Glas überdachten Musiksalons übertrug.
Für die Pariser Schau wurden die dekorativen Wandtafeln aufwendig restauriert, um den Saal originalgetreu nachzubauen. Maurice Denis hatte seinerzeit angeregt, vier bronzene Frauenskulpturen von Aristide Maillol für 36.000 Franc für den Musiksalon gießen zu lassen. Als „Clou“ der Ausstellung angepriesen, lässt sich über die ästhetische Aussagekraft dieses späten Jugendstil-Salons diskutieren.
„Die Kollektion Morosow. Ikonen der Moderne“, Fondation Louis Vuitton, Paris, bis 22. Februar 2022. Der Katalog, erschienen beim Verlag Gallimard/Fondation Louis Vuitton, kostet 49,90 Euro.
Mehr: Sammlung Morosow: Verschiebung der Macht
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