Buch über politische Prognosen Sehtest für Hellseher

Ohne Prognosen kommen wir nicht aus – ob bei der Weltpolitik oder dem Wetter.
Donald Trump war noch nicht offiziell als republikanischer Präsidentschaftskandidat gekürt, da wagte sich Michael Moore schon aus der Deckung mit einer gewagten Prognose: „Fünf Gründe, warum Trump gewinnen wird“, schrieb der Oscar-prämierte linke Filmemacher in einem Blogbeitrag, der sich rasch über soziale Medien verbreitete und Moore diverse Talkshowauftritte als vermeintlicher Experte einbrachte. Anders als viele, prahlte Moore, habe er schon seit dem vergangenen Sommer prognostiziert, dass der vermeintliche Außenseiter Trump die Kandidatur der Republikaner gewinnen werde. Tja, und nun werde der Rechtspopulist auch das Weiße Haus erobern.
Was Moore für sich behielt: Im November 2015, wenige Wochen vor Beginn der Vorwahlen, hatte sich seine Meinung über die Chancen Trumps noch mal um 180 Grad gedreht. Trump sei ein „Performancekünstler“, sagte der meinungsstarke Regisseur damals. Noch im Jahr 2015 würden die Leute genug haben von seinem Politainment und sich wieder anderen republikanischen Politikern zuwenden. 2012 übrigens hatte Moore einen Sieg Mitt Romneys gegen Barack Obama prophezeit – was auch nicht gerade von Treffsicherheit zeugt.
Zugegeben, es sind schlechte Zeiten für politische Experten allerorten: Weder Trumps Erfolg noch den Brexit oder den Putsch in der Türkei hatten die meisten, die ihr Geld mit Analysen und Prognosen weltgeschichtlicher Ereignisse verdienen, korrekt vorausgesehen. Für viele von ihnen haben Philip Tetlock und sein Co-Autor Dan Gardner auch keinerlei Mitleid. „Die Fernsehorakel haben vor allem ein Talent: Sie können selbstbewusst auftreten und eine überzeugende Geschichte erzählen“, ätzt Tetlock, Psychologe an der University of Pennsylvania, in seinem Buch „Superforecasting – Die Kunst der richtigen Prognose“.
Wer macht gute Prognosen? Und vor allem: Welche Eigenschaften bringen gute Vorhersager mit? Tetlock befragt in seinem „Good Judgement Project“ seit Mitte der 1980er-Jahre renommierte Experten und völlig unbekannte Menschen nach ihren Prognosen zu möglichen politischen und wirtschaftlichen Großereignissen („Wird im nächsten Jahr ein Land die Euro-Zone verlassen?“) und wertet ihre Akkuratesse aus. Berühmt wurde er für die Geschichte von den Schimpansen und der Dartscheibe. Die verkürzte Version dieses Witzes besagt, dass die „sogenannten Experten“ mit ihren Vorhersagen eine ähnliche Trefferquote haben wie Affen, die Pfeile auf eine Scheibe werfen. Also eine miserable.
Füchse gegen Igel
So wollte er aber gar nicht verstanden werden, das beteuert Tetlock gleich zu Beginn seines Buchs. Seine knackige Metapher sei in der Berichterstattung etwas außer Kontrolle geraten. Es ergebe ja auch gar keinen Sinn, Prognosen generell als Kaffeesatzleserei abzutun. Wir alle versuchten ständig, die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse vorauszusagen, schreibt Tetlock und beschreibt eine Versicherungsmathematikerin, die anhand von Sterbetabellen Prämienzahlungen errechnet, die aber auch morgens etwas früher losfährt, weil sie im Berufsverkehr einen Stau erwartet, und einen Regenschirm einpackt, weil es nicht den ganzen Tag sonnig bleiben soll. Ein durchaus sinnvoller Umgang mit Prognosen.
Statt professionelle Prognostiker zu verspotten, will Tetlock seinen Lesern ein Instrumentarium geben, um gute von schlechten Vorhersagen zu unterscheiden und die Qualität eigener Einschätzungen zu verbessern. Die Maßeinheit dafür heißt „Brier-Wert“ und bringt die prozentuale Eintrittswahrscheinlichkeit, die ein Experte für ein Ereignis abgibt, mit seiner Treffsicherheit in ein Verhältnis. Je größer die Überzeugung, mit der einer danebengreift, desto schlechter ist sein Wert für diese Prognose. Je sicherer einer bei einem richtigen Urteil ist, desto besser.
In seiner Auswertung von rund 28 000 Aussagen über zukünftige Ereignisse hat Tetlock zwei Idealtypen von Prognostikern identifiziert. Die „Igel“, die ihr Weltbild aus einem großen Gedanken, einer in sich geschlossenen Ideologie wie dem Sozialismus oder Neoliberalismus, ableiten und so felsenfeste Antworten auf jede Frage finden. Ein typischer Igel sei der Ex-Reagan-Berater und Fernsehexperte Larry Kudlow, der noch im Dezember 2007 vom „Bush-Boom“ fabulierte, während der US-Häusermarkt bereits tief in die Krise schlitterte – so fest glaubte Kudlow an die Segnungen von Bushs Steuersenkungen für die amerikanische Wirtschaft.
Die „Füchse“ dagegen bezögen möglichst viele verfügbare Informationen und Analysemethoden ein und gäben eher abwägende Urteile. So wie der Statistiker Nate Silver, der bei der US-Wahl 2012 dank der Aggregation aller verfügbaren Umfragen die Ergebnisse in allen 50 Bundesstaaten richtig vorhersagte. Der lag bei Trumps Chancen in den Vorwahlen zwar auch gehörig daneben, leistete aber öffentlich Abbitte und gelobte, aus seinem Fehler zu lernen.
Besser als der Geheimdienst
Tetlock lässt keinen Zweifel, dass er „Füchse“ wie Silver für die besseren Experten hält. Die „Igel“ seien dagegen im Durchschnitt sogar schlechter als ein Münzwurf – oder eben der pfeilschleudernde Schimpanse. Selbst unter den Füchsen gibt es aber eine Elite: „Superprognostiker“ wie den Rentner Douglas Lorch, der in Tetlocks Experiment bessere Brier-Werte erzielte als der amerikanische Geheimdienst – und das ohne spezielle Ausbildung oder Zugang zu Geheimdienstinformationen. Menschen wie Lorch, schreibt Tetlock, seien keine Genies, höchstens überdurchschnittlich intelligent und informiert. Vor allem aber sind sie Meister im „Fermisieren“. Bei dieser nach einem italienischen Physiker benannten Schätzmethode werden schwere Fragen („Wie viele Klavierstimmer gibt es in Chicago?“) in vorgelagerte Fragen zerlegt („Wie viele Einwohner hat Chicago?“ „Welcher Prozentsatz von ihnen spielt Klavier?“), um sich so einer Lösung anzunähern.
Durch Fermisieren beantworteten Tetlocks „Superfüchse“ beispielsweise auch Fragen zur seinerzeit diskutierten Möglichkeit, der Palästinenserführer Jassir Arafat könne mit Polonium ermordet worden sein. Typische Blitzurteile eines Igels wie „Das würde Israel nie tun!“ oder „Natürlich stecken die Israelis dahinter!“ sind Füchsen dabei fremd. Stattdessen recherchieren sie notwendige Informationen („Besitzt Israel überhaupt Polonium?“), sammeln Vergleichsgrößen und berechnen Wahrscheinlichkeiten. Haben die Oberfüchse einen Lösungsweg entwickelt, suchen sie aktiv Widerspruch, etwa indem sie ihre Gedanken öffentlich posten und diskutieren. Und sich dann auch mal vom Gegenteil überzeugen lassen.
Bücher, die besseres Nachdenken und Entscheiden lehren wollen (siehe auch die Rezension zu „Small Data“ auf der rechten Seite), sind seit einigen Jahren im Trend. Lesern von „Schnelles Denken, langsames Denken“, dem Bestseller von Tetlocks Ex-Kollegen Daniel Kahneman, werden viele von Tetlocks Konzepten bekannt vorkommen. Wo Kahneman stärker auf unsere Denkfehler bei Alltagsentscheidungen hinweist, geht es Tetlock um unseren Blick in die Zukunft.
Seine Einsichten schildert der Kanadier Tetlock kurzweilig und anekdotenhaft, anstatt den Leser mit einem Übermaß an theoretischer Fundierung zu überfordern. Gerade diese Anekdoten bergen manchen Erkenntnisgewinn. Etwa wenn Tetlock erzählt, wie im Militär gerade Selbstzweifler oft Schlachten gewannen. Die Einsicht des preußischen Generals Helmuth von Moltke „Kein Plan überlebt die erste Feindberührung“ sollte so ähnlich in allen Unternehmenszentralen hängen.
Allzu viele konkrete Handlungsanweisungen hat Tetlock für seine Leser zwar nicht parat. „Superforecasting“ ist eher ein Resümee seines Megaexperiments als ein Selbsthilfebuch. Auch erscheint die Hauptthese, dass „Füchse“ die besseren Hellseher sind, nach knapp 300 Seiten arg ausgewalzt. Aber höchstens bis zur nächsten Polit-Talkshow oder Nachrichtensendung, in der ein „Fernsehorakel“ mit zweifelhaften Meriten einen Kulturkrieg des Westens gegen den Islam oder einen baldigen Zusammenbruch des Geldsystems prophezeit – und man sich Tetlocks Buch als Pflichtlektüre für jede deutsche TV-Redaktion wünscht.
Wird 2016 vielleicht zum Jahr der nachdenklichen „Superprognostiker“, weil das Publikum es satt hat, sich von zackig formulierten Prognosen in die Irre führen zu lassen? Tetlock, ganz Superfuchs, ist sich da nicht so sicher: „Wir hören sie, weil sie lauter sind als die anderen und weil die Medien Krawallmacher belohnen“, beklagt er und fordert, die Trefferquote bekannter Experten systematisch zu überprüfen und ihre Fehlschlüsse öffentlich zu diskutieren.
Michael Moore hätte da einiges zu erklären.
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