Collection Pinault in Venedig Der belgische Künstler Luc Tuymans malt die Angst

Farbschleier liegen auf inhaltsschweren Bildern.
Venedig Kurz vor der Eröffnung der Retrospektive des belgischen Malers Luc Tuymans stand im venezianischen Palazzo Grassi ein Grüppchen im Lichthof: Hausherr François Pinault im Rentner-Freizeitlook mit weißen Sneakers und sein Maler-Gast Luc Tuymans im dunkelblauen Anzug mit schwarzem T-Shirt und schwarzen Schuhen, umringt von bewundernden Damen.
„Ich schätze den Selfmademan François Pinault, weil er nicht vergisst, woher er kommt, und weil er mit beiden Beinen auf dem Boden steht“, hatte Tuymans kurz vorher dem Handelsblatt versichert. Der Megasammler kontert erwartungsgemäß, Luc Tuymans zähle seiner Ansicht nach zu den größten Malern unserer Zeit.
Dementsprechend aufwendig ist das speziell für die Schau hergestellte 960 mal 960 Zentimeter große, weiß-grau schimmernde Marmormosaik „Schwarzheide“, das den Boden des Lichthofs im Palazzo Grassi bedeckt. Es ist typisch für die Thematik der eigenwilligen Gemälde Tuymans, denn der Maler rekonstruiert mit dem Mosaikboden die Zeichnung von Zwangsarbeitern eines deutschen Arbeitslagers. Mit der geschmeidigen Stimme eines Showmasters führt Tuymans durch die Ausstellung.
Tuymans malt die Angst
Ihren Titel „La Pelle“ erhielt die Schau nach dem Roman „Die Haut“ von Curzio Malaparte. Der Künstler erklärt die Gemälde von 1989 bis heute. Sein Anliegen verbirgt sich meist unter der Farbschicht auf der Leinwand. Die notwendige Erklärung liefert dem Besucher ein handliches Heft. Denn Tuymans’ Themen, seine ideologischen Zielscheiben, sind: Naziverbrechen, Kolonisierung, Jesuiten, Krankheit, Tod und sozial bedingte Angstphänomene. Die französische Schriftstellerin Hélène Cixous kommen‧tierte die Werke Tuymans vor sechs Jahren mit dem Buchtitel „Bestandsaufnahme des Todes“.
Cixous verweist auf den Vornamen „Luc“, also „lux“, „Licht“, worauf sie schließt: „Malen heißt für Luc: verschleiern.“ Die Autorin sieht hinter den Bildern „das Unheimliche“, das Verdacht weckt. Der Maler selbst verwahrt sich gegen die Idee, dass seine Bilder schön seien. „Das wäre Perversion“, provoziert er.
Völlig anders provokant ist die Schau im Kunstmuseum „Punta della Dogana“, bestückt mit zwei Dritteln der Werke aus der Sammlung Pinault und einem Drittel Leihgaben. „Luogo e segni“ (Ort und Zeichen) übernimmt den Titel eines Gemäldes der radikalen italienischen Malerin Carol Rama (1918 – 2015).

Aktuell in der Pinault Collection.
Die junge marokkanische Kuratorin Mouna Mekouar und der Direktor der Collection Pinault, Martin Bethenod, kuratierten die Gruppenausstellung. Zwei Säle von 19 sind wirklich gelungen. Der eine präsentiert die von Weiß bis Zartblau schimmernden, runden Glasblöcke der amerikanischen Künstlerin Roni Horn im Zentrum des ehemaligen Zollge‧bäudes. Den anderen übernahm Mouna Mekouar aus einer Schau, die sie im letzten Jahr im Yves-Saint-Laurent-Museum in Marrakesch realisierte.
Dort geht es um den Dialog der Keramikskulpturen der syrischen Bildhauerin Simone Fattal (*1942) mit den Arbeiten der libanesischen Autorin und Malerin Etel Adnan (*1925), verbunden durch die Stimme des US-Regisseurs Robert Wilson, der zur Musik von Michael Galasso ein Gedicht Adnans rezitiert.
Eine schwebende Traumatmosphäre beschwingt diesen dunklen Saal, wo die – von der Kuratorin generell proklamierte – Wahlverwandtschaft zwischen den Künstlerinnen Simone Fattal und Etel Adnan funktioniert. Letztere dient als Leitmotiv der Ausstellung: Da steht eine Vitrine mit einem Adnan-Künstlerbuch in Leporelloform, wo ihr Text und ihre Aquarelle zusammenspielen; dort hängen ihre kleinen Gemälde, die man aber nur sieht, wenn das Licht wieder angeht, nachdem Philippe Parrenos Video „Marilyn“ angespielt ist.
Zwei Künstler präsentieren Werke, die sie während ihrer „Residenz“ bei Pinault im nordfranzösischen Lens produzierten: Edith Dekyndt (*1960) und Hicham Berrada (*1986). Dekyndts Glasarbeiten, auf Vitrinen montiert, sah man kürzlich in der Pariser Galerie VNH, wo sie bis 28.000 Euro kosteten. Das in Lens erarbeitete, grünlich getönte, transparente Glas-Triptychon enttäuscht wegen seiner Bescheidenheit. Dagegen sind die sieben 250 Zentimeter hohen, schwarzen „Terrarien“, in denen Hicham Berrada Pflanzen zum Blühen und Duften bringt, massiv, repetitiv und egozentrisch.
Schlichtweg irritierend sind die Produkte des Libanesen Charbel-Joseph H. Boutros, der Mondlicht in einer Marmorstele einschloss oder mit seiner Freundin Stéphanie Saadé gemeinsam einen weißen Luftballon aufblies: „Souffle d’artistes“ (Künst‧ler‧atem) heißt das freche Werk. Diese Licht- und Luftprodukte gehören übrigens nicht dem Sammler Pinault. Der steht eben mit beiden Beinen auf dem Boden.
Im Palazzo Grassi: „La Pelle“ – Luc Tuymans bis 6. Januar.2020. In der Punta della Dogana: „Luogo e segni“ bis 15. Dezember 2019
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