Egidio Marzona Die Ideen der Künstler verteidigen

Egidio Marzona: Der Sammler ist auch ein passionierter Archivar. Quelle: Marcus Schneider (Foto)
Berlin Markantes Erkennungszeichen des passionierten Megasammlers ist das schwarze Outfit und die unvermeidliche Pfeife im Mund. Im Übrigen hält sich der Italiener Egidio Marzona (Jahrgang 1944), dem Berlin seit 2003 zur Wahlheimat wurde, stets bescheiden zurück. Wir treffen uns in seiner Villa im Berliner Westend, in deren Wohnzimmer Arbeiten von Carl André, Yves Klein oder Marcel Duchamp einen ersten Eindruck seines Kunstgeschmacks geben.
Als Erbe einer Bielefelder Baufabrikantenfamilie, der nicht in den Betrieb einsteigen wollte, sondern ihn verkaufte, kam Marzona 1968 zur Kunst. Es war der legendäre Düsseldorfer Galerist Konrad Fischer, der ihn auf den „Geschmack“ der damals radikal neuen, verstörenden Kunstrichtungen wie Minimal Art, Konzeptkunst, Arte Povera und Landart brachte.
Seither sammelt er in großem Stil und hat, seinem strikten Programm folgend, ein grandioses Kunstuniversum zusammengetragen. In diesem Universum gibt es diverse Archipele, die sich zu einem geschlossenen Ganzen runden. „Ich habe enzyklopädisch gesammelt“, erläutert er, „um ein Zeitbild zusammenzutragen, denn als Sammler kann ich nur in der Weise kreativ sein, indem ich solch ein Bild schaffe.“
Der erste Archipel ist bevölkert von Künstlern wie etwa Carl André, Sol LeWitt, Donald Judd, Robert Ryman und Lawrence Weiner. Dieses Konvolut umfasst rund 1.000 Werke und gilt als eine der bedeutendsten Kollektionen dieser Kunstrichtungen überhaupt. „Die Preise waren damals bescheiden“, erinnert er sich, „daher konnte man leichter kaufen als heute. Wir Sammler und Galeristen mussten damals sogar die Ideen dieser Künstler verteidigen.“
Einmal mehr zeigt sich, dass Sammler von Format Visionäre sein können. Denn sie kaufen abseits des Mainstreams, weil sie vor allen anderen das Potenzial einer neuen Kunstrichtung erkennen. „Diese Kunst hatte nichts mit der Tradition zu tun, sondern war etwas völlig Neues, das hat mich gereizt“, begründet er die Faszination, die bis heute anhält.
Marzona vertiefte er sich in die Gedankenwelt dieser spartanischen Künstler und erweiterte sein Interesse auf die Avantgarde der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Duchamp, Moholy-Nagy und Dada. Parallel dazu sammelte er Briefe, Manuskripte, Dokumente oder Fotos der Künstler und trug alles zu einem immensen Archiv zusammen. Mit circa 50.000 Archivalien ist es weltweit das größte für diese Epoche und eine Fundgrube für Forscher und Wissenschaftler.
Diesen seinen Schatz vermachte Marzona in mehreren Schritten generös der Berliner Nationalgalerie, wo er eine museale Leerstelle füllt. Zunächst veräußerte er die Kunstsammlung (ein Drittel kaufte das Museum, zwei Drittel stiftete Marzona), zu der auch großformatige Werke von Mario Merz, Guiseppe Penone oder Giovanni Anselmo zählen. Danach auch das Archiv, das von der Kunstbibliothek verwahrt wird. Im Berliner Hamburger Bahnhof, der zur Nationalgalerie gehört, ist dieser Schatz in neun Etappen, allerdings eher glücklos und in seiner Bedeutung wenig angemessener Weise unter dem lapidaren Titel „A-Z. Die Sammlung Marzona“ präsentiert worden. Die letzte Schau „#9/9 YZ“ läuft noch bis Ende Mai. Das geplante Museum der Moderne am Potsdamer Platz aber könnte ein angemessener Ort für Marzonas Kunst werden.

Egidio Marzona. Hier ein Blick in die Sammlung in Rom mit Werken u.a. von Mario Merz und Richard Serra. Quelle: Marcus Schneider (Foto), VG Bild-Kunst Bonn, 2016
Zur Vita des Mäzens gehört in den 1970er-Jahren ein kurzes Zwischenspiel als Galerist in Düsseldorf. Danach gründete er den Verlag Edition Marzona, mit dem er sich auf die Geschichte des Bauhauses konzentrierte und manches Standardwerk publizierte.
Obwohl der Verlag wirtschaftlich erfolgreich war, gab er ihn nach 17 Jahren auf und stürzte sich auf das Gebiet, das sein dritter Archipel werden sollte: ein weiteres Archiv, das etwa 1,5 Millionen Objekte umfasst, wieder Briefe, Dokumente und Fotos betreffend das Bauhaus und die Avantgarden des 20. Jahrhunderts.
In diesem Archiv findet sich beispielsweise ein bisher unbekanntes Foto, das Le Corbusier gemeinsam mit Albert Einstein zeigt, aber auch Dokumente, die Insidertratsch zwischen Galeristen belegen. Unzählige Anfragen von Kunsthistorikern und Museen aus der ganzen Welt belegen die Bedeutung dieses Archivs. Natürlich sammelt Marzona weiter. Immer wieder stöbert er Trouvaillen auf und erwirbt Nachlässe.
Parallel zu all diesen obsessiv betriebenen Aktivitäten baute er – der vierte Archipel – eine zweite Kunstsammlung auf, die heute rund 1.500 Werke, darunter Stücke von Picasso, Max Ernst, Schwitters, El Lissitzky, de Kooning, Motherwell oder Ad Reinhardt, umfasst. Nebenher erwähnt er, dass er außerdem die wohl größte Duchamp-Sammlung in Privathand besitzt: „Ich habe sehr viel von Duchamp, denn er ist eine zentrale Figur für die Kunstentwicklung im 20. Jahrhundert.“
Das Sammelinteresse Marzonas betrifft auch Design: Der fünfte Archipel hütet eine opulente Design-Kollektion des 20. Jahrhunderts. Kunstsammlung, Mammutarchiv und Designsammlung will der Italiener ebenfalls Berlin vermachen. Ein furioses Ensemble, das – bis auf das Design – seinen Platz im künftigen Museum der Moderne finden soll.
Mit den Schenkungen will der Sammler sicherstellen, dass sein Sammlungswerk als Ganzes zusammenbleibt. Seine beiden Kinder akzeptierten das, sie gönnen dem Vater die museale Bewahrung seines Lebenswerks.
Und dann gibt es noch einen sechsten, allerdings immobilen Archipel: Der befindet sich im norditalienischen Friaul, der „terra ferma“, dem seine Vorfahren entstammen. Marzona konnte das uralte Haus der Familie samt Freigelände im beschaulichen Ort Verzegnis zurückkaufen. In diese abgelegene Gegend lud er die Künstler ein, die längst zu Freunden geworden waren. Auf dem Gelände schufen sie imposante Werke.
Bruce Nauman war der Erste, er baute eine Beton-Pyramide, Carl André installierte hier sein größtes Werk, Sol LeWitt errichtete eine gewaltige Steinskulptur und Richard Long einen Flußkieselkreis. Es entstand ein Ensemble der besonderen Art, der „Skulpturenpark Marzona“, den Anwohner und Touristen gleichermaßen schätzen. Obwohl kein Zaun dieses Freiluftmuseum schützt, gab es in all den Jahren, so Marzona, keinen einzigen Fall von Vandalismus.