Kardinal Reinhard Marx „Eine Spaltung zeichnet sich ab“

Kardinal Marx gestikuliert am Mittwoch (16.12.2015) im Palais Holnstein in Muenchen waehrend einem Handelsblatt Interview. Foto: Sebastian Widmann
München Palais Holnstein, von 1735 bis 1737 gebaut, ist das bedeutendste noch erhaltene Adelspalais in München. Ein Schmuckstück aus der Barockzeit. Es wird auch „Erzbischöfliches Palais“ genannt. Kardinal Reinhard Marx lebt hier, in der Nachbarschaft einer Shoppingmall und des Literaturhauses. Das Oberhaupt der deutschen Katholiken empfängt in seiner weiten Bibliothek.
Kardinal Marx, immer mehr Menschen sind online und kommunizieren über das Internet. Wo bleibt da die kirchliche Botschaft?
Ich bin tatsächlich noch auf dem Weg zu verstehen, wie wir uns in dieser Welt der sozialen Medien positionieren. Klarer Fall: Wir müssen präsent sein. Aber wie?
Sie könnten persönlich bloggen oder eine Botschaft bei Facebook posten.
Ich kann und will eigentlich auch nicht jeden Tag einen Text verfassen und in die Welt posten. Andere können das aber auch nicht für mich machen, es muss ja authentisch sein. Als ich mich vor einigen Jahren in den USA zum ersten Mal mit solchen Fragen beschäftigt habe, war ich noch positiver gestimmt. Ich dachte, das Netz führt Menschen zusammen und zwingt zur Ehrlichkeit. Es ist aber eher ein Diskurs in Nischen.
Mit einer Hemmungslosigkeit in der Sprache, mit dem Herabsetzen anderer.
Der Diskurs scheint qualitativ nicht besser geworden zu sein. Die verschiedenen Gruppen sind manchmal eher Jüngerschaften. Einerseits werden Leute und Nachrichten niedergemacht oder hochgejubelt, andererseits gibt es aber auch wirklich anspruchsvolle Blogs, das ist ja positiv.
Da könnten Sie sich einreihen – und Ihre eigene Glaubensgemeinschaft, Ihre „Community“, ansprechen.
Nicht alles muss der Bischof machen, aber meine Texte, Gottesdienste, Erklärungen sind natürlich im Internet zugänglich.
Papst Franziskus ist weniger zögerlich. Er twittert.
Seine Botschaft kommt nicht wegen des Netzes rüber, sondern wegen dieses Mannes. Das Netz kann nicht der Inhalt sein, sondern nur ein Instrument. Die Nachricht muss so formuliert sein, dass sie anregt. Es ist faszinierend, dass die Kirche an der Spitze jemand hat, der global – auch über das Netz – eine Bezugsperson ist. Vor kurzem saß ich mit ihm im Vatikan zusammen und dachte nach, was hier geschieht. Dieser Mann war Erzbischof von Buenos Aires, ist kaum gereist, war als Papst erstmals in den USA, spricht kaum Sprachen. Was macht der aus seinen Möglichkeiten! Ohne dass er für Millionen Dollar seine Medienauftritte plant! Es funktioniert.
Das scheint Sie zu faszinieren.
Es gibt eine Sehnsucht nach Personen, die ohne eigene Interessen für alle sprechen. Da sehen viele im Papst jemanden, der das darstellt.
Sie sagen, die Diskursfähigkeit der ‧Gesellschaft hat sich nicht erhöht. Ist es in dieser Lage nicht Pflicht der Kirche, der Hetze gegenüber Flüchtlingen in sozialen Medien gegenüberzutreten?
Das tun wir auch. Vielleicht kann man noch intensiver die sozialen Medien nutzen. Aber da ist jeder Christ gefordert, sich einzubringen und in den Netzwerken tätig zu werden, auch im Sturm der Debatten. Wir haben ja zuletzt in der Republik heftige Diskussionen gehabt, und bemerkenswert ist, wie etwa Angela Merkel das aushält. Respekt!
Merkels bayerische Unionsfreunde, in Ihrer Nachbarschaft in München, sind die Flüchtlingsfrage ganz anders angegangen.
Jeder hat seine Verantwortung. Und Diskussionen gehören dazu. Ich glaube aber, dass Politiker, die sich nur treiben lassen von der medial verbreiteten öffentlichen Meinung, keine nachhaltige Politik machen werden. Entscheidungen brauchen Ruhe und Verlässlichkeit. Das Netz aber fordert Beschleunigung und Zuspitzung.
Viele Politiker und Medien glauben, dass die Silvesternacht in Köln die Asylpolitik ändert. Haben Sie Sorge, dass die schweren Übergriffe gegen Frauen den Umgang mit der Flüchtlingsproble‧matik weiter erschweren werden?
Ja. Nach den schlimmen Vorgängen in Köln ist eine Debatte darüber, wie wir unser Miteinander gestalten wollen, unbedingt nötig, aber sie sollte sachlich geführt werden. Gleichzeitig tritt das Problem der Flüchtlingswellen, die uns über die verschneite Balkanroute erreichen, in der Wahrnehmung fast in den Hintergrund. Durch die Kölner Ereignisse werden auch Ängste in der Öffentlichkeit geschürt, die das viele Positive, was in der Flüchtlingsarbeit geleistet wurde, in den Hintergrund verdrängen.
Welche Konsequenzen fordert die Kirche nach der Silvesternacht?
Die Exzesse in Köln und anderen Großstädten sind für unsere Gesellschaft inakzeptabel und können in keiner Weise toleriert werden. Wir brauchen eine genaue Aufklärung und eine deutliche Antwort des Rechtsstaates. Diese neue Form von Gewalt und vor allem der menschenverachtende Umgang mit Frauen können nicht hingenommen werden. Alle gesellschaftlichen Kräfte müssen gemeinsam daran arbeiten, solche Vorkommnisse zu verhindern.
Bei manchen Unionspolitikern, die sich zu Flüchtlingen äußern, konnte man sich schon vorher fragen, ob sie noch wissen, was das „C“ im Parteinamen bedeutet.
Das „C“ bedeutet: Jeder Mensch ist Bild Gottes, unabhängig von seiner Religion, seinem Geschlecht, seiner Herkunft. Jeder Mensch in Not, der zu uns kommt, wird menschenwürdig behandelt und bekommt ein faires Verfahren. Unter dieses Niveau darf man nicht sinken. Und: Die europäische Grenze darf keine „Todesgrenze“ sein. Ich weiß aber wohl, dass nicht alle, die kommen, bleiben können.
Sie spielen auf Abschiebungen an? Darüber wird nach Köln intensiv geredet.
Auch wenn jemand zurückgeführt wird, heißt das nicht, dass wir keine Verantwortung mehr haben. Wenn jemand im Flüchtlingslager im Libanon oder in der Türkei ist, können wir nicht sagen: „Das geht uns nichts mehr an!“ Ohne dass die Menschen Lebensmöglichkeiten in ihrer Heimat haben, wird die Krise nicht gemildert werden können. Das wird uns auch finanziell herausfordern.