Konstruktiv-konkrete Kunst: Dóra Maurer in Bielefeld: Sonderweg zur abstrakten Malerei

Blick in die Ausstellung „Dóra Maurer. So sehen und anders sehen“ in der Kunsthalle Bielefeld.
Düsseldorf. Ein blinder Fleck hat auch sein Gutes. Sobald er sichtbar wird, gibt es etwas zu entdecken. In der Kunsthalle Bielefeld zum Beispiel das Werk der ungarischen Künstlerin Dóra Maurer (bis 15.5.).
Maurer gilt als eine der wichtigsten Akteurinnen und Orientierungsfiguren für die ungarische Gegenwartskunst und zählt zu den bedeutendsten Vertreterinnen der konstruktiv-konkreten Kunst. Zwar hat sich die erst vor 53 Jahren neu eingerichtete Kunsthalle nie als Hort für osteuropäische Kunst hervorgetan. Noch weniger hat man sich hier in der Vergangenheit besonders um den Anteil der Künstlerinnen an der Kunstgeschichte gekümmert. Dennoch gibt es Anknüpfungspunkte, die diese Ausstellung an diesem Ort sinnvoll erscheinen lässt.
Dóra Maurer, Jahrgang 1937, transportiert in ihrem Werk eine Geschichte von Kunst, die unverwechselbar und eigen ist und zugleich vertraut erscheint. Ihre Kunst scheint uns vertraut, weil wir sie mit der Nachkriegskunst Amerikas und Westeuropas in Verbindung bringen. Das betrifft ihre fotografische und filmische Arbeit der 1970er-Jahre ebenso wie die daran anschließende abstrakt-geometrische Malerei.
Insbesondere das überwiegend schwarzweiße, serielle fotografische und filmische Oeuvre lässt sich als Teil einer Konzept- und Aktionskunst wiedererkennen, die aufgrund ihrer medialen Natur an vielen Orten gleichzeitig auf der Welt so praktiziert wurde.
Dennoch bewegt sich Maurer, auch auf dem Gebiet der abstrakten Malerei – anders als die westlichen Künstler – außerhalb der Konvention. In der vom figurativen Sozialistischen Realismus dominierten Kunstszene Ungarns besitzt sie eine Sonderstellung.

1997/98 schuf die Künstlerin dieses Leinwandgemälde, das den üblicherweise rechteckigen Bildträger auf elegante Weise negiert. Bekannt wurde dieses Gestaltungsprinzip, auch genannt „Shaped Canvases“, durch den amerikanischen Maler Frank Stella in den sechziger Jahren.
Während Maurer ihr Werk in Opposition zur Politik entwickelt, geht das Oeuvre der im Westen beheimateten Künstler aus einem politisch geschützten Raum hervor. Es entsteht in Harmonie mit Vorstellungen einer politischen „Bereinigung“ und verkörpert Ideale wie Demokratie, Freiheit oder Offenheit. In diesem Geist wurden in der Nachkriegszeit auch Museumssammlungen wie die der Kunsthalle Bielefeld aufgebaut.
In einer Sammlung, in der die Werke von Daniel Buren, Sol LeWitt, Dan Flavin, Agnes Martin oder Ulrich Rückriem den Ton angeben, erzählt Maurers Oeuvre eine alternative Geschichte der Abstraktion. Zugleich öffnet es die Augen für eine typisch westdeutsche Ausstellungs- und Sammlungspolitik und einen künstlerischen, von Männern dominierten Kanonisierungsprozess. Auch dies sind blinde Flecken, die sichtbar werden.

Mit der sechsteiligen, 1979 entwickelten Fotoarbeit spielt die Künstlerin auf die konstruktiv-geometrische Kunst der Avantgarde an. Auch Mondrian ist angesprochen. Er lehnte die Diagonale strikt ab. Die Sieben Drehungen können als eine Art Gegenstück zu seinen starren Regeln verstanden werden. Die Arbeit ist eine Leihgabe der Collection Zsolt Somlói und Katalin Spengler.
Mit ihren 63 Exponaten deckt die Ausstellung nicht das gesamte Lebenswerk ab. Das grafische Frühwerk der sechziger Jahre bleibt ausgeklammert. Zu besichtigen ist, was sie in den letzten fünf Jahrzehnten schuf. Das sind, neben den fotografischen Serien, Fotogrammen und Filmen, selten gezeigte Papierarbeiten aus der ungarischen Nationalgalerie sowie Beispiele aus einschlägigen malerischen Werkgruppen. Leihgeber sind neben wichtigen ungarischen Museen, Privatsammlungen, das Museum Ritter in Waldenbuch und die Vintage Galéria in Budapest.
Das alle Arbeiten verbindende Element ist das Interesse für das prozesshaft Bewegte, für die Veränderlichkeit im Raum und ein konzeptuelles Vorgehen. So arbeitet sie bereits um 1970 mit minimalen Bewegungsabfolgen, die sie analysiert und fotografisch festhält. Die Bewegungsphasen reiht sie aneinander und wertet sie zeichnerisch in Diagrammen aus.
Durchgehendes Thema bis heute sind konstruierte Verschiebungen von Strukturen und Rastern, Überlagerungen, Durchdringungen und Verzerrungen. Bewegung ist das Leitmotiv; in der Kunst wie im Leben. Vom Ende der sechziger Jahre bis zum Fall des Eisernen Vorhangs hat Maurer ihren Lebensmittelpunkt in Wien, mit Budapest als einer Art Paralleluniversum. Die ungarische und österreichische Staatsbürgerschaft ermöglichen ihr Kontakte und Reisen, auch schon vor 1989.
Das jüngste Werk aus dem Jahr 2016 ist eine Weiterentwicklung der seit Mitte der 2000er-Jahre entwickelten „Overlappings“. Hier steht man vor perspektivisch gekrümmten, schwerelos wirkenden Leinwänden, die das Rechteck negieren und Räumlichkeit vortäuschen.
Für die Betrachter mag auf den ersten Blick nicht gleich ersichtlich sein, wie aus Maurers Fotografien und Filmen eine so facettenreiche abstrakt-geometrische Malerei werden konnte. Nur wer genauer hinsieht, erkennt die Zusammenhänge.
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