Kunstfund: Wieder aufgetauchtes Hauptwerk von Camille Claudel

Paris. Es war 1893, als Camille Claudel die erste Version ihrer Skulptur „L‘Âge mûr“ („Das reife Alter“) entwarf. Erst 1907 wurde das Hauptwerk der Künstlerin in Bronze gegossen. Eine sensationelle Neuentdeckung erinnert nun an die bewegte Geschichte des Kunstwerks.
Lange verloren geglaubt, wurde die Bronze unter Umständen wie aus einem romantischen Abenteuerroman im Dezember 2024 von Matthieu Semont, einem Auktionator des Versteigerers Philocale in Orléans zufällig wiederentdeckt. Im Auftrag einer Erbschaft führte Semont die Inventarisierung einer seit 15 Jahren verschlossenen Wohnung in der Nähe des Eiffelturms durch.
Inmitten von verstaubten Möbeln aus dem 18. Jahrhundert fiel Semonts Auge im Dämmerlicht zunächst auf eine kleine Skulptur von Antoine Bourdelle. Er gilt als ein bedeutender Erbe Auguste Rodins, in dessen Atelier er von 1893 bis 1908 als Assistent tätig war. Semont entdeckte eine Version von Bourdelles „Penelope“, um dann, unter einem weißen Tuch verborgen, eine noch größere Überraschung zu erleben, nämlich den ersten von insgesamt sechs Abgüssen von Camille Claudels „L‘Âge mûr“.
Claudels Werk war offensichtlich seit 1930 im Besitz jener Familie, der die verwaiste Wohnung gehörte, war aber seitdem nie wieder gesehen worden und galt als verschollen. Diese erste Bronzeversion von „L‘Âge mûr“ war von der Künstlerin im Verhältnis zu ihrem ursprünglichen Entwurf auf ein Drittel seiner Größe reduziert worden.
Der Skulpturenexperte Alexandre Lacroix schwärmt von der hohen Qualität der Arbeit: „Der Guss ist virtuos, jedes Teil ist kalt nachgearbeitet. Der Abdruck ist sehr sensibel und lebendig, da die Gussformen noch jungfräulich, nie benutzt und nicht abgenutzt waren.“ Die Mischung aus Sinnlichkeit und Kraft von Claudels Komposition, die ausdrucksvollen Gesichter und sensible Details wie das wunderbare Relief der Adern auf den kräftigen Händen des Mannes kennzeichnen diese Skulptur als Meisterwerk aus der Reifezeit Claudels.
Als Camille Claudel dieses womöglich auch autobiografische Werk schuf, hatte sie das Atelier ihres Lehrers und Geliebten Rodin bereits verlassen, um ihren eigenen Weg einzuschlagen. Ihre kühne Skulpturengruppe zeigt drei Figuren in spannungsreicher Bewegung. Sie verkörpern die drei Lebensalter des Menschen, die Jugend, die Reife und das Greisenalter.

Die Jugend verkörpert ein nacktes, junges Mädchen, das zerbrechlich auf dem Boden kniet. Ihren flehend ausgestreckten Armen entzieht sich die zentrale Figur der Komposition, ein reifer, muskulöser Mann, der einer Figur aus Rodins berühmter Plastik „Die Bürger von Calais“ nachgebildet ist. Eine alte Frau umfängt den bereits vom Alter gezeichneten Mann, eine Figur, die als Klotho, die Schicksalsgöttin, gedeutet wird. Sie wird den Lebensfaden durchtrennen. Die drei Figuren vereint Claudel in einer dynamischen Aufwärtsbewegung, die schließlich die Form einer sich aufbauenden Welle annimmt.
Es ist der Initiative des Gießers Eugène Blot zu verdanken, dass Claudels Meisterwerk 1907 überhaupt erstmals, wenn auch in verkleinerter Form, in Bronze ausgeführt werden konnte. Die ursprüngliche Gipsversion war 1899 vom französischen Staat bei Claudel in Auftrag gegeben worden; als herausgelöster Teil der Skulptur wurde das junge Mädchen unter dem Titel „L‘Implorante“ auch im Salon der Société Nationale des Beaux-Arts ausgestellt.
Doch der staatliche Auftraggeber war nicht bereit, das Werk in Bronze oder Marmor ausführen zu lassen. Stattdessen vollbrachte Blot mit seinem Sandguss eine technische Meisterleistung. Der Gießer war zugleich Händler und Sammler und setzte sich für Bildhauer wie Maillol, Rodin und Claudel ein.
Bei Semonts Entdeckung handelt es sich um das erste Exemplar der fünf Güsse von Eugène Blot. Nr. 3 befindet sich im Claudel-Museum in Nogent-sur-Seine. Die anderen drei Güsse bleiben weiterhin verschollen. Darüber hinaus gibt es zwei später realisierte Güsse des Originalmodells in Paris, im Rodin-Museum und im Musée d‘Orsay.
Am Kunstmarkt stoßen Werke von Camille Claudel auf wachsendes Interesse: 2013 verkaufte Sotheby‘s in London „La Valse – Première version“ für sechs Millionen Euro und 2017 Artcurial in Paris „L‘Abandon“ für rund 1,2 Millionen und einen späteren Guss von „La Valse“ für 1,46 Millionen.

Seit der Sotheby’s-Auktion 2013 ist die in Paris wiederentdeckte Skulptur das bedeutendste Werk der Künstlerin, das auf dem Kunstmarkt auftaucht. Die Skulptur wird am 16. Februar in Orléans für einen Schätzpreis von 1,5 bis zwei Millionen Euro zum Aufruf kommen.

Das Interesse an Camille Claudel beflügelt auch mehrere aktuelle Ausstellungen: Noch bis 19. Februar läuft eine Einzelausstellung im Art Institute in Chicago, die zuvor im Getty Center in Los Angeles zu sehen war. Eine weitere Ausstellung zu Camille Claudel und Bernhard Hoetger wird im Juni 2025 in Berlin in der Alten Nationalgalerie eröffnen, und in Nogent-sur-Seine beleuchtet eine Ausstellung das Wirken von Camille Claudels Bildhauerkolleginnen in Paris.
Rückblende: Die französische Bildhauerin Camille Claudel stand lange im Schatten ihres Lehrers und Geliebten Auguste Rodin, der als einer der Wegbereiter der Moderne gilt. Die künstlerische Begabung der Tochter eines Finanzbeamten wurde vom Vater mit Nachdruck gefördert. 1883 traf Claudel erstmals den 24 Jahre älteren Rodin, war erst seine Mitarbeiterin, dann Modell, Muse und schließlich Geliebte. Nach der Trennung von Rodin geriet sie in eine schwere psychische Krise und verbrachte mehr als 30 Jahre in einer Nervenheilanstalt. Camille Claudels künstlerisches Schaffen wurde erst ab Mitte der 1980er-Jahre als eigenständig wiederentdeckt. Da sie seit 1905 viele ihrer Arbeiten systematisch selbst zerstörte, ist ihr Oeuvre schmal geblieben.
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