Marktanalyse: Coole Feinmalerei von vor 100 Jahren

München. Die Neue Sachlichkeit ist zwischen unterkühlter Feinmalerei und radikaler Sozialkritik angesiedelt. Ihr Markt hat sich stark gewandelt. Heute sind vor allem lange Zeit übersehene Künstler und Künstlerinnen bei Sammlern und Museen gefragt.
Der Kunstmarkt bekommt seine Impulse nicht unbedingt von Jubiläen. Aber wenn in der nächsten Woche in der Mannheimer Kunsthalle die Ausstellung „Neue Sachlichkeit. Ein Jahrhundertjubiläum“ öffnet, wird die sogenannte Malerei des kühlen Blicks wieder Gesprächsstoff sein.
Im Jahr 1925 fasste ebenfalls in Mannheim die legendäre Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ die damaligen realistischen Tendenzen unter diesem Stilbegriff zusammen. Er hat sich bis heute gehalten für eine Malerei, die zwischen distanzierter Feinmalerei und radikaler Sozialkritik angesiedelt ist und heute als Spiegel der 1920er-Jahre bei Sammlern und Museen gefragt ist.
Viele der damals ausgestellten Künstler wie Otto Dix, George Grosz, Christian Schad erzielten in den letzten Jahrzehnten Millionensummen. Viele andere jedoch, vor allem Malerinnen, wurden damals übersehen. Deswegen überrascht dieser Markt immer wieder mit unbekannten Meisterwerken von beachtlichem Steigerungspotenzial.
Einer, der viele Jahre im Schatten der großen Namen stand, ist Albert Birkle. Bei Lempertz erzielte sein explosives, expressiv-realistisches Gemälde „Irrsinn“ von 1925 unlängst 900.000 Euro inklusive Aufgeld. Bei Grisebach sprach einen Interessenten die distanziert, aber mit surrealem Unterton gemalte „Dame im offenen Wagen“ aus demselben Jahr an. Das Sinnbild für die moderne Frau und die gerade aufkommende Automobilbegeisterung kostete 190.000 Euro. Sämtliche aufgeführten Preise enthalten Aufgeld und Steuern.

Nicht alle Gemälde Birkles sind im sechsstelligen Preisbereich angesiedelt. Und das untermauert die Perspektive der Berliner Auktionatorin Irene Lehr auf den Markt der Neuen Sachlichkeit. „Es kommt einzig auf die Bilder an“, ist ihre Überzeugung. Als sie vor ein paar Jahren das bewusst schlichte, naiv wirkende Gemälde „Blick aus dem Fenster“ aus dem Jahr 1926 von der unbekannten Stralsunderin Edith Dettmann für 1000 Euro aufrief, kletterten die Gebote auf 13.000 Euro. Von ihr sind lediglich drei neusachliche Bilder bekannt.
Lehrs These ist aber auch auf die bedeutsamen Namen übertragbar, etwa auf Georg Scholz’ sarkastisches Gemälde „Tote Hühner“ von 1926. 488.000 Euro hat ein Amerikaner 2022 in ihrem Auktionshaus, das mittlerweile eine Drehscheibe für die Neue Sachlichkeit geworden ist, gezahlt. Die Taxe lag bei 100.000 Euro. Denn das Gemälde enthält, was diesen Stil auszeichnet: die präzise, emotionslose Darstellung der Realität, die doppelbödige Magie der Dinge, das Metaphysische der Räume sowie die Stimmung der Zeit.
Kunsthändler sprechen von einem ausgetrockneten Markt für Neue Sachlichkeit
Ganz bewusst hat Georg Scholz die Hühner nicht wie appetitlich gebratenes Geflügel gemalt, sondern als groteske Anspielung auf eine Gesellschaft zwischen Elend und Machtgebaren. Die eine Kreatur zwischen den Schenkeln brutal aufgeschlitzt und ausgenommen; die andere verächtlich hingeworfen wie eine verstoßene Geliebte. Bedrohlich liegt daneben die Schraube des Fleischwolfes als blitzblankes Folterwerkzeug. So ätzend und anklagend war Scholz nur in seinen besten Bildern. Fast harmlos und müde wirkt dagegen sein Porträt eines Mädchens, das Irene Lehr diesen Herbst weit unter der Taxe für 7680 Euro inklusive Aufgeld weiterreichte.
Eine ganz andere Sicht auf den Markt haben Galeristen und Händler, die die Neue Sachlichkeit vor 40 Jahren zum begehrten Sammelgebiet machten. Für Michael Hasenclever, Michael Haas und auch für den Londoner Händler Richard Nagy ist der Markt ausgetrocknet. Die Nachlässe sind inzwischen vermarktet, die Jahrhundertgemälde von Grosz und Dix in bedeutenden Sammlungen. Aus ihrer Sicht fehlt der Nachschub.

„Das internationale Interesse hochpotenter Sammler ist sehr limitiert und die Stücke von wirklicher Museumsqualität sind äußerst rar“, beschreibt Richard Nagy im Gespräch mit dem Handelsblatt das Dilemma. Sein letztes, messerscharf gemaltes Frauenporträt von Christian Schad aus den 1920er-Jahren hatte er Ronald Lauder für das Neue Museum in New York verkauft. Er könne in den USA leichter französischen Impressionismus als deutsche Kunst der 1920er-Jahre verkaufen, fügt er noch an. Otto Dix’ Zeichnung „Liebespaar mit Kapuzinerkresse“, die er 2012 für 500.000 Euro bei Karl & Faber gekauft hat, gehört noch heute zu seinem Stock. Ihr Preis beträgt rund 650.000 Euro.
Die großen Namen mit glorreichen Millionenzuschlägen seien weniger geworden, merkt Rupert Keim, Geschäftsführer von Karl & Faber, an. Es ist fast zehn Jahre her, dass er ein so kesses, das moderne Lebensgefühl transportierende Gemälde wie die „Sich schminkende Frau“ von Karl Hubbuch aufrufen konnte. Der Preis lag damals etwas über 90.000 Euro.
Hohe Nachfrage nach neusachlichen Gemälden
Es gibt Konstanten wie die Landschaften und die damals beliebten Kakteenbilder von Alexander Kanoldt im Preisbereich zwischen 60.000 und 120.000 Euro. Doch wie Irene Lehr hat auch Rupert Keim beobachtet: Hohe Qualität von weniger populären Künstlern reizt Sammler eher als ein schlechtes Bild eines prominenten Künstlers.
Im Sommer erst versteigerte Keim das Porträt einer eleganten Dame von Werner Schramm. Der hat nur wenige neusachliche Bilder gemalt. Die distanzierte Darstellung und die feinmalerische Ausführung von Mantel und Pelzkragen – vergleichbar einem Holbein-Gemälde – trieben den Preis von taxierten 25.000 Euro hoch auf rund 70.000 Euro.
Die Nachfrage nach neusachlichen Gemälden ist aktuell hoch. Diandra Donecker, Co-Geschäftsführerin im Auktionshaus Grisebach, erzählt im Handelsblatt-Gespräch von einer neuen Phase der Wiederentdeckung. Sammler im Alter zwischen 45 und 65 Jahren suchten Bilder, die das Lebensgefühl der 1920er-Jahre zwischen Apokalypse, Zeitenwende und neuem Selbstbewusstsein transportierten, so Donecker.

Die Forschung, aber auch der Kunsthandel selbst hat zu vielen Wieder- und Neuentdeckungen geführt. Der Hannoveraner Ernst Thoms war lange Zeit unterbewertet. 2023 wurde sein direktes, frontal gesetztes Selbstporträt bei Grisebach für 25.000 Euro weitergereicht. Ins Blickfeld gerückt sind endlich zahlreiche Malerinnen. Elfriede Lohse-Wächter, eng befreundet mit Otto Dix, wurde wegen psychischer Instabilität Opfer der NS-Euthanasie und war jahrelang vergessen. Ihre vibrierenden Milieuzeichnungen erschienen erst ab den 1990er-Jahren auf dem Auktionsmarkt.

Das Werk der Hamburgerin Anita Rée wurde lange nicht beachtet. Die besten ihrer perspektivisch leicht verzerrten Architekturansichten werden heute im hohen fünfstelligen Euro-Bereich gehandelt. Und auch Ilona Singer mit ihrem trockenen, unprätentiösen Stil wird erst seit Kurzem wahrgenommen. Bei Ketterer erzielte Singers Porträt „Robert von Mendelssohn“ 2019 stattliche 64.000 Euro. Zehn Jahre zuvor hatte es ein Kenner in Prag im Dorotheum für umgerechnet circa 7000 Euro herausgefischt.
Nur neun Gemälde sind von der im KZ ermordeten Malerin bekannt. Ilona Singers Kakteenarrangement in einem aseptischen, klaustrophobischen Zimmer wird Anfang Dezember bei Karl & Faber für 12.000 Euro aufgerufen. Nachschub für einen Markt, der begeistert und zwischen High und Low viel zu bieten hat.





