Neuer Essayband von Jürgen Osterhammel: Adlerblick auf die Weltgeschichte
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Neuer Essayband von Jürgen OsterhammelAdlerblick auf die Weltgeschichte
Als Festredner auf dem Geburtstag von Angela Merkel wurde der Historiker Jürgen Osterhammel über die Fachwelt hinaus bekannt. Auch aus seinem neuen Essayband könnte die Bundeskanzlerin einiges mitnehmen.
Düsseldorf Bundeskanzlerin Angela Merkel dürfte in diesem Jahr wohl nicht viel zum Lesen kommen. Sollte aber die CDU-Politikerin vor dem Sturz ins Getümmel des Bratwurstwahlkampfs zwischen Seligenstädter Fußgängerzone und Ludwigshafener Mehrzweckhalle noch einmal intellektuelle Stimulanz suchen, könnte ihre Wahl auf „Die Flughöhe der Adler“ fallen. Immerhin handelt es sich dabei um den neuen Essayband ihres Lieblingshistorikers Jürgen Osterhammel. Die Globalisierungen (die der Wissenschaftler lieber im Plural verwendet) oder den bröckelnden Zusammenhalt des Westens betrachtet der Autor darin in gebotener Flughöhe – kreisend und mit analytisch scharfem Blick. Das ist eine Perspektive, die der nach eigener Aussage „vom Ende her denkenden“ Kanzlerin gefallen dürfte.
Die Geschichte von Merkel und dem Konstanzer Geschichtsprofessor reicht einige Jahre zurück. Die Bundestagswahl 2013 war gerade vorbei, die anstrengenden Koalitionsverhandlungen mit einer unwilligen SPD endlich überstanden. Im anschließenden Skiurlaub stürzte Merkel unglücklich und zog sich einen Haarriss im Becken zu, der sie mehrere Wochen ans Bett kettete. Ihre Rekonvaleszenz soll die Kanzlerin genutzt haben, um das 1 500-Seiten-Opus „Die Verwandlung der Welt“ durchzulesen, Osterhammels anekdotenreiche Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts. Der Historiker selbst weiß die Episode nicht zu bestätigen und äußerte sich erst kürzlich im „Guardian“, dass er nicht hoffe, dass Merkel das Buch von vorne bis hinten gelesen habe: „Es gibt viele andere wichtige Bücher, aus denen man etwas lernen kann.“
Sicher dagegen ist, dass Merkel den Autor des gelehrten Werks über Globalisierung und Aufstieg des modernen Nationalstaates ein halbes Jahr später zu ihrem 60. Geburtstag als Festredner einlud, wo er eine Stunde lang über die „Zeithorizonte der Geschichte“ sprach. „Dass sich eine Regierungschefin einen wissenschaftlichen Vortrag anhört, ist ungewöhnlich“, sagt der Autor im Rückblick. Der Berliner Korrespondent einer britischen Tageszeitung habe ihm nachher erklärt, in Großbritannien sei das undenkbar.
Festredner
Autor Osterhammel (r.) auf dem Geburtstag der Kanzlerin.
Im Vortrag, der in dem Essayband erstmals in voller Länge veröffentlicht wird, verhandelt Osterhammel die Frage, welchen Zweck die Geschichtswissenschaft für die aktive Politik hat. Geschichte sei „gerade in einer konvergierenden Welt zu einer Identitätsressource ersten Ranges“ geworden. Russland etwa wähle einen „reichsnostalgischen Sonderweg mit unverblümter Revisionsbereitschaft“. Die Kanzlerin dürfte mit Blick auf die seinerzeit tobende Krim-Krise d’accord gewesen sein. Die Analyse behielt ihre Richtigkeit auch nach dem Vortrag: Dass ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat mit dem Nostalgie-Claim „Make America great again“ auf große Resonanz stoßen würde, hätte man aus Osterhammels Ausführungen auch schon ableiten können.
Heute erinnert sich der Festredner an eine unprätentiöse, uneitle Kanzlerin – Eigenschaften, die man dem vielfach ausgezeichneten Historiker ebenfalls bescheinigen kann. „Die Flughöhe der Adler“ ist durchzogen von klugen Gedanken, die selbst in den älteren Essays noch keinen Staub angesetzt haben – obwohl sich Osterhammel mehrfach als Kritiker ausschweifender Zukunftsprognosen zu erkennen gibt. Der Essay „Was war und ist ‚Der Westen’?“ stammt aus dem Jahr 2011. Inmitten der Obama-Präsidentschaft beschrieb der Historiker den Westen als schwach definiertes, historisch fragiles Konstrukt, dessen Bestand nicht gesichert ist: „Wir mögen kurz vor dem Ende des europäischen oder westlichen Zeitalters stehen, ohne es zu wissen und zu ahnen.“
Sechs Jahre später nennt der amtierende US-Präsident die Nato „obsolet“, attackiert Deutschland und die EU und scheint Russlands Präsident Wladimir Putin näher zu stehen als Angela Merkel. „Die Fragilität des Westens zeigt sich aktuell sehr deutlich“, sagt Osterhammel nun.
Jürgen Osterhammel – Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen Gegenwart.
C.H.Beck
München 2017
300 Seiten
ISBN: 34067048406
19,95 Euro
Aus der Adler-Flughöhe sieht die transatlantische Solidarität ohnehin nicht wie gottgegeben aus. Der Historiker erinnert an den widerwilligen Kriegseintritt der Amerikaner in beiden Weltkriegen oder die unterschiedlichen Abgrenzungen vom „Nicht-Westen“. Für die Europäer sei das seit jeher Russland oder der Nahe Osten gewesen, für die Amerikaner lange Zeit eher Ostasien.
„Trump ist der Westen egal“
„Der Westen hat immer einen Widerpart gebraucht, gemeinsame Werte allein halten dieses Solidaritätskonstrukt nicht zusammen“, erläutert Osterhammel. Der Sieg Donald Trumps habe die Tendenz zur inneren Spaltung des Westens verstärkt, aber nicht ausgelöst. „Die 63 Millionen, die ihn gewählt haben, sind ja nicht vom Himmel gefallen.“ Daher könnte Angela Merkel, für die „New York Times“ schon die „letzte Verteidigerin des liberalen Westens“, bald nicht mehr viel zu verteidigen haben: „Donald Trump ist der Westen völlig egal. Der Westen und Europa könnten bald deckungsgleich sein, auch wenn es nach wie vor starke Verbindungen zwischen den liberaldemokratischen Kräften in Europa und anderen Teilen der Welt, auch den USA gebe. Dass er einen Niedergang des Westens selbst keineswegs wünscht, macht Osterhammel dabei sehr deutlich.
Der Nationalismus Trumps ist nur ein Beispiel für die Pandemie antiglobalistischer Bewegungen wie etwa der Brexiteers oder der Front National. Sie haben sich auf die „Globalisierung“ eingeschossen. Osterhammel dagegen hält das Wort für „eine rhetorische Leerformel, solange es suggeriert, dass die Dinge in der Welt immer dichter zusammenhängen“.
Jürgen Osterhammel – ein ausgezeichneter Wissenschaftler
Der Historiker Osterhammel lehrt und forscht an der Universität Konstanz. Mit seinen Werken über Globalisierung, britische und chinesische Geschichte gilt der 64-Jährige als einer der führenden Vertreter der Globalgeschichte.
Sein 2009 erschienenes Buch „Die Verwandlung der Welt“ wurde 2014 ins Englische übersetzt. Zuletzt wurde Osterhammel mit dem Toynbee Prize ausgezeichnet, benannt nach dem britischen Universalhistoriker Arnold Toynbee.
An dieser Stelle klingt in Osterhammels Aufsatz auch eine zumindest semantische Kritik an Merkel an: Er zitiert ihr Diktum aus dem vergangenen Juli, die Flüchtlingskrise zeige „die Kehrseite der positiven Effekte der Globalisierung“. Die wirtschaftliche Globalisierung, von der das Exportland Deutschland profitiert, und der Verlauf der Flüchtlingsströme hingen allenfalls lose zusammen.
„Die Politik muss einfacher reden, als sie denkt“, sagt Osterhammel zu Merkels Aussage. „Der Satz der Kanzlerin klingt eher wie eine nachträgliche Rationalisierung.“ Ihm geht es darum, Globalisierungen nicht als Schicksal darzustellen, dem Politiker unterworfen sind. Eine Kritik an Merkels eigentlicher Entscheidung sei das jedoch nicht: „Sie zieht die Konsequenz aus europäischen Moralvorstellungen und der internationalen Menschenrechtspolitik der letzten Jahrzehnte.“
So oder so: Drohende Deglobalisierungen und ein denkbares Scheitern des Westens versprechen Merkel für den Fall einer Wiederwahl fordernde Jahre – politisch wie intellektuell. Gut, wenn sie zwischendurch auf die Flughöhe des Adlers abheben kann.
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