Neues Buch zum Reichstagsbrand Biedermänner und Brandstifter

Ein Fanal der Gewalt.
Schon vier Wochen nach der Machtübernahme legte Adolf Hitler den Hebel um: Mit der Notverordnung vom 28. Februar 1933 setzte er Prinzipien des Rechtsstaats außer Kraft. Sofort wurden 5 000 Regimegegner verhaftet. Die Notverordnung, die das Fundament für die totalitäre NS-Diktatur bildete, ging als „Reichstagsbrandverordnung“ in die Geschichte ein.
Am Vorabend war der Plenarsaal des verwaist wirkenden Berliner Reichstags in Flammen aufgegangen. Der oder die Täter hatten ein Fanal gesetzt: Wenig später schon brannten die Bücher, dann die Synagogen, dann die Welt. Im Mai 1945 schließlich lagen Deutschlands Großstädte in Schutt und Asche.
Heute noch zählt der Großbrand zu den mysteriösesten Kriminalfällen des 20. Jahrhunderts. Die Nachkriegsjustiz trug wenig zur Aufklärung bei. 1967 wandelten Berliner Richter das vom Leipziger Reichsgericht im Dezember 1933 verhängte und im Folgemonat durch das Fallbeil vollstreckte Todesurteil gegen den angeblichen Einzeltäter Marinus van der Lubbe post mortem in eine achtjährige Zuchthausstrafe um. Erst 2008 hob die Bundesanwaltschaft seine Verurteilung wegen Brandstiftung und Hochverrat durch die NS-Justiz aus formalen Gründen auf. Inhaltlich befasste sich die Behörde nicht mit dem Fall.

Konnte der Niederländer das Feuer überhaupt alleine legen?
Nach wie vor stehen sich zwei Positionen unversöhnlich gegenüber: Bis Ende der 1950er-Jahre herrschte die Meinung vor, die Nationalsozialisten hätten den niederländischen Wirrkopf van der Lubbe nur als „nützlichen Idioten“ benutzt und sich selbst als Brandstifter betätigt, um die Bevölkerung vor der letzten Reichstagswahl am 5. März 1933 einzuschüchtern. Dann nahm die Debatte eine überraschende Wende: Die Auffassung setzte sich durch, van der Lubbe habe ohne fremde Hilfe das Flammenmeer im Plenarsaal entfacht.
Der US-Historiker Benjamin Carter Hett lässt den Politthriller nun in neuem Licht erscheinen. Überzeugend zieht sein Buch „Der Reichstagsbrand“ nicht nur die Einzeltäterthese in Zweifel. Es beleuchtet auch dunkle Seilschaften, die die Theorie von van der Lubbes „Alleintäterschaft“ nach 1945 wieder salonfähig machten. Bei den Seilschaften handelte es sich meist um frühere Gestapo-Männer, die als Ermittler und Zeugen vor dem Reichsgericht den „Einzeltäter“ van der Lubbe ans Messer geliefert hatten. Bei einer Gemeinschaftstat wäre ihm die Todesstrafe wohl erspart geblieben. Denn 1933 blickte die Welt auf den Prozess in Leipzig. Und Hitler war trotz Unterdrückung der Opposition daran gelegen, gegenüber dem Ausland noch den Anschein von „Normalität“ zu wahren. Einen eindeutig politischen Prozess konnte sich die junge NSDAP-Regierung noch nicht leisten: Obwohl Parlamentspräsident Hermann Göring Hitler am 27. Februar vor dem brennenden Reichstag gesagt hatte, jetzt beginne der „kommunistische Aufstandsversuch“, musste das Reichsgericht die neben van der Lubbe angeklagten vier Kommunisten mangels Beweisen freisprechen.
Wäre nach dem Krieg nun rausgekommen, dass die ehemaligen Gestapo-Männer – inzwischen meist wieder bei der Kriminalpolizei oder Geheimdiensten untergekommen – van der Lubbe per Meineid dem Henker ausgeliefert hatten, hätten ihnen hohe Freiheitsstrafen gedroht. In erster Linie, schreibt Hett, wurde die Einzeltäter-These seit den späten 1940er-Jahren von Ex-Gestapo-Chef Rudolf Diels und seinen früheren Untergebenen Heinrich Schnitzler, Walter Zirpins, Helmut Heisig und Rudolf Braschwitz wiederbelebt: „Kein Zufall ist dabei, dass dieselben ehemaligen Gestapo-Mitglieder von den späten 1940ern bis in die frühen 1960er-Jahre beinahe ständig von Strafverfolgung bedroht waren.“
Koordiniert hat die Seilschaften Fritz Tobias. Dem Verfassungsschützer gelang es 1959, die spektakuläre Serie „Stehen Sie auf, van der Lubbe“ im „Spiegel“ zu veröffentlichen. Nun schien der Niederländer als Einzeltäter überführt. Danach drängten Tobias und seine Mannen den Chef des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), Helmut Krausnick, auf die Einzeltäterthese umzuschwenken. Krausnick war erpressbar, weil er seine NSDAP-Mitgliedschaft verschwiegen hatte. 1964 veröffentlichte der bekannte Historiker Hans Mommsen dann einen Aufsatz, in dem er „das Verdienst von Fritz Tobias“ hervorhob und wie Tobias resümierte, „dass niemand anders als der Holländer van der Lubbe den Brand legte“. Damit, so Hett, stieg die Darstellung des Reichstagsbrands durch frühere Gestapo-Mitglieder „zum dominanten westdeutschen Narrativ“ auf. Von der Justiz hatten die Männer nichts mehr zu befürchten. Sie genossen nun als Biedermänner in ihren Reihenhäusern die Früchte des „Wirtschaftswunders“.
Dabei zeigt Hetts akribische Recherche, dass van der Lubbe das Großfeuer kaum allein gelegt haben kann – zumal er auf Brandbeschleuniger verzichtete und ihm vor seiner Verhaftung für die Tat zwischen 21.18 und 21.27 Uhr keine zehn Minuten blieben. Der im Prozess apathisch wirkende Niederländer reklamierte für sich zwar die Alleintäterschaft. Schon vor dem Reichsgericht aber hatten Brandsachverständige betont, die Tat könne sich nicht so wie von ihm geschildert ereignet haben – zumal van der Lubbe ortsunkundig und zu 80 Prozent erblindet war. Die Experten hielten „eine Unterstützung von mehreren Personen“ für wahrscheinlich.
Gestützt auf breites Quellenmaterial, zeigt Hett, wie sich dubiose Figuren zur Tatzeit aus dem Reichstag davonstahlen. Zeugen erklärten, im Gebäudekeller bewaffnete Polizisten gesehen zu haben. Hetts Fazit: Mitglieder einer SA-Brandstiftertruppe dürften hauptverantwortlich für den Großbrand sein. Einige prahlten gar mit der Tat – und wurden 1934 beim „Röhm-Putsch“ ermordet.
Mit neuen Dokumenten aus 25 Archiven bestätigt Hett die alte These, dass van der Lubbe nur Helfershelfer der Nazis war. Nicht klären kann der Autor, wie der Kontakt zwischen van der Lubbe und den SA-Männern zustande kam. Unklar bleibt auch, ob Göring und Propagandachef Joseph Goebbels in das Komplott verwickelt waren. Die Forschung hat also noch einige Rätsel zu lösen. Den Weg dafür hat Hett mit seinem verdienstvollen Buch bereitet. Damals wie heute ist die Auseinandersetzung über den Reichstagsbrand weit mehr als ein akademischer Streit. Die Einzeltäterthese hat Rechtsextreme stets beflügelt. Sie bot ihnen die Chance, den Vorwurf eines NS-Verbrechens als „Lüge“ zurückzuweisen. Das ermöglichte den Brückenschlag zur „Kriegsschuld“- und „Auschwitz-Lüge“. Heute verschwimmt die Grenze zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus wieder. Hett muss sich darauf gefasst machen, in diesem Milieu nun als „Hassfigur“ zu gelten.
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