Die Gegenwart scheint uns das Ende der „Dialektik der Aufklärung“ zu beweisen. Konnten Theodor Adorno und Max Horkheimer, die Gründer der Kritischen Theorie und Autoren des gleichnamigen Buches, noch behaupten, Gesellschaft, Industrie, Technik und Kultur seien als fundamental verschiedene und somit geschiedene Sphären zu begreifen, belehrt uns die Aktualität nun eines Schlechteren. Diese Trennung der Lebens- und Erkenntniswelten ist nicht mehr: Eine Invasions-Armee von High-Tech-Medien wie Computern, Mobiles, GPS-Systemen, Google-Vernetzungen etc. hat unsere Kultur und unsere Gesellschaft – von Kindesbeinen an über sämtliche Lebenswelten hinweg – digital erobert und perforiert; alles gerät in den Sog der Zweckrationalität des „technisch-industriellen Komplexes“. Demokratien drohen sich deshalb in Technokratien zu verwandeln.
Doch ist das wahr? Ist der Prozess der Aufklärung im Absolutismus der Technokratien storniert? Am entschiedensten protestiert dagegen ein 85-jähriger Mann. Einst ein Schüler der beiden Parade-Dialektiker Adorno und Horkheimer, aber auch ein Lehrling Heideggers. Er widerspricht mit einem unbezwingbaren Beharren auf der Möglichkeit der öffentlichen Wahrheitsfindung und damit Korrektur – typisch.
Der letzte kristische Zeitgeist
Der Sozialphilosoph und Ruhestörer Jürgen Habermas besteht darauf, dass nicht zusammengehört, was von überwölbenden Interessen zusammengeschmiedet werden will: Industrie, Gesellschaft und Kultur. Er ist der letzte bedingungslos kritische Zeitgeist, der zwar akademisch elaboriert, aber massenmedial wirksam Einspruch gegen den vermeintlichen Fortschritt erhebt. Für ihn die „Kolonialisierung der Lebenswelt“.
Seine Einsprüche erhebt der „Nein-Sager“ Habermas gegen so ziemlich alles, vor allem aber gegen Gott und die Welt: gegen instrumentelle Humangenetik, gegen amoklaufende Terrorismus-Bekämpfung, gegen ein sich von seinem Ursprung abgewandtes „Eliteprojekt“ Europa und die zunehmend technokratischen Züge marktkonformer Gesellschaften. Kaum ein prominentes Thema, das er nicht – mit höchster Präzision und unbedingtem Willen zum Konkreten – nutzt, um einen gesellschaftlichen, öffentlich herbeizuführenden Konsens anzumahnen. Seinen eigenen Widerspruch begreift er als Vorstufe des öffentlich zumindest möglichen Konsenses.
Ein „Produkt der Reeducation“
Seine quälenden Grundsatzfragen bedrängen uns: Wohin führt sie uns, die Große Koalition aus Markt und Demokratie? Wie kann Europa die Teilnahme der Einzelnen ermöglichen, wenn diese nicht länger an jenen Gesetzen beteiligt sind, denen sie ausgesetzt sind? Ist das demokratisch? Entwickeln sich unsere Gesellschaften im neoliberalen Sog in nicht viel mehr als in riesige Profitcenter? Fördern diese Gesellschaften tatsächlich Partizipation oder finden sie ihren Zweck in der Absicherung des Marktes? Erleben wir kulturell-gesellschaftlichen oder nur technologischen Fortschritt, wenn die Armee des „industriell-technischen Komplexes“ voranschreitet? Und wie beschädigt sind Demokratien, die sich scheinbar willenlos einer Usurpation des technischen Fortschritts überlassen und so der „Wissenschaft und Technik als Ideologie“, wie eines seiner wichtigen Bücher heißt, aufsitzen?
Habermas, der Anfang der 80er-Jahre mit avancierten theoretischen Konstrukten (wie der zentralen „Theorie des kommunikativen Handelns“) in der akademischen Welt Furore machte, ist ein öffentlicher Intellektueller wie ihn sonst nur die diskursverwöhnte französische Öffentlichkeit kennt. Er selbst beschreibt sich als „Produkt der Reeducation“ nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und als einen am amerikanischen Pragmatismus eines Charles Sanders Peirce und John Dewey („The Public Sphere“) geschulten Philosophen.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.