Offener, zugänglicher, politischer – so baut Ulrike Lorenz die Klassik Stiftung Weimar um
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Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar im InterviewUlrike Lorenz: „Wir wollen die Existenzfragen von Menschen in den Mittelpunkt stellen“
Offener, zugänglicher, politischer – so baut Ulrike Lorenz die Klassik Stiftung Weimar um. Die Präsidentin spricht über neue Vermittlungsansätze, Digitalprojekte und eine Graphic Novel über Goethe.
Die gewitzte Kunsthistorikerin ist dabei, die Weihestätten der Klassiker zu entstauben und fit zu machen für die nächste Generation.
(Foto: Candy Welz)
Weimar Die Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar treffen wir im ehemaligen Stadtschloss des beschaulichen Residenzstädtchens. Die Stufen in ihr Büro geht man nicht. Vielmehr schreitet man die flachen Marmortreppen im prachtvollen Treppenhaus hinauf. So fürstlich der Aufgang, so funktional der Arbeitsraum, dominiert von einem Großbildschirm für die allgegenwärtigen Videokonferenzen.
Ulrike Lorenz ist eine energische, gewitzte Kunsthistorikerin, die Erfahrung hat mit Changemanagement. Sie ist dabei, die Weihestätten der Klassiker zu entstauben und fit zu machen für die nächste Generation. Das Ziel: Umformung in eine unüberhörbare kulturpolitische Instanz.
Frau Lorenz, Sie sind seit 2019 Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar. Was gehört alles dazu? Rund 30 Museen, Dichterhäuser, Schlösser und Parks, das Goethe- und Schiller Archiv, die Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Wir sind eine der größten Kulturstiftungen Deutschlands, vermitteln und erforschen nicht nur Werke der Kunst, sondern auch Literatur, Philosophie, Design. Im 19. Jahrhundert wurde hier das Leitbild der deutschen Kulturnation entwickelt, das wir heute neu denken.
Goethe und Schiller bilden das Zentrum, aber es gehören auch viele weitere Institutionen dazu. Die Weimarer Klassik um 1800 bildet das Fundament. Aber unser Spektrum reicht bis zur Moderne. Mit der Eröffnung des Bauhaus Museums 2019 hat die Klassik ein Spielbein bekommen. Genau das hat mich gereizt. Ich kann die Stiftung kulturpolitisch nur formen, weil dieses Spannungsfeld von klassisch bis experimentell unter einem Stiftungsdach vereint ist. So kann der Sprung in die Aktualität gelingen.
Im Namen Klassik Stiftung Weimar steckt ja auch Deutschlands erste Demokratie drin und damit die gesellschafts-politische Debatte. Welche Verpflichtung leiten Sie daraus ab? In den schärfer werdenden öffentlichen Auseinandersetzungen, speziell in Thüringen, definieren wir die Klassik Stiftung als demokratische Institution, die nicht nur Schätze bewahrt, sondern auch Diskurse anstiftet. Wir agieren – bewusst im Kontext des KZ Buchenwald vor den Toren Weimars – im vollen Bewusstsein der Ambivalenz der Moderne. Der Bezug zur Weimarer Republik und ihrer Kultur der Innovation ist eminent wichtig für unser Programm.
Ulrike Lorenz
„Wir bieten Schutzräume nicht nur für Sammlungen, sondern auch für Gedanken. Wir gestalten Denkräume für Diskussion, auch für Streit.“
(Foto: Candy Welz)
In Thüringen ist die AfD stark. Wie begegnet die Stiftung dem Populismus – gerade in einem Wahljahr? Unsere Kernkompetenz liegt in der Differenzierung. Die Klassik Stiftung denkt und handelt komplex. Lust auf Komplexität und am Selberdenken – die entfachen wir mit Weimarer Ideen bei einem möglichst breiten Publikum. „Anschauende Urteilskraft“ – ein Motto Goethes – in die Öffentlichkeit zu bringen ist eine tolle Motivation.
Wie gehen Sie vor? Als Kulturinstitution bieten wir Schutzräume nicht nur für Sammlungen, sondern auch für Gedanken. Wir gestalten Denkräume für Diskussion, auch für Streit. Menschen müssen sich in ihrer Unterschiedlichkeit überhaupt erst einmal wahrnehmen. Verständigung über verschiedene Perspektiven hinweg streben wir mit unseren „Weimarer Kontroversen“ an, aber auch mit experimentelleren Formaten, in denen wir gesellschaftlich auseinanderdriftende Akteure ins direkte Gespräch bringen und selber zu Zuhörenden und Lernenden werden.
Die Macherin
übernahm 1990 als junge, unbelastete Kunsthistorikerin aus Gera die Leitung des dortigen Otto-Dix-Hauses. Die Kunstsammlung Gera baute sie zu einem Zentrum der Otto-Dix-Forschung aus. Von 2004 bis 2008 war die promovierte Wissenschaftlerin Direktorin am Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg.
warb sie von 2009 bis 2019 eine 50- Millionen-Euro-Spende der Stiftung von SAP-Mitgründer Hans-Werner Hector ein. Damit gelang es ihr, den Neubau der Kunsthalle 2018 termin- und budgetgerecht zu eröffnen.
steht die mehrfach preisgekrönte Museumsleiterin der Klassik Stiftung Weimar als Präsidentin vor.
Wie wird einer von Deutschlands bedeutendsten Schlösser- und Archiv-Komplexen zu einer allseits wahrgenommenen kulturpolitischen Instanz? Das ist natürlich die One-Million-Dollar-Frage. Der erste Schritt ist Selbstdefinition: Bescheiden wir uns in der Rolle der Gralshüterin deutscher Geschichte oder gehen wir auf die Straße als Brückenbauerin ins Heute und Morgen? Denn was wir nicht vermitteln, findet nicht statt. Aber wie werden wir darüber hinaus zu einer Institution, die Orientierung bietet? Kultur kann Menschen etwas geben, das mehr ist als Brot und Spaß. In der positiven Wahrnehmung von Differenz entsteht Urteilsfähigkeit. Historische Erfahrung führt zu einem bewussteren Umgang mit der eigenen Zeit, stellt aktuelle Entwicklungen in große Zusammenhänge. Kultur kann eine ethische Kompassfunktion übernehmen.
Sie verändern gerade die Institution so, dass deren Museen, Dichterhäuser und Schlösser zu Orten der Demokratiebildung werden. Offener, zugänglicher, politischer – mit dieser Haltung will die Klassik Stiftung Menschen reinziehen in eine ganze Kulturtopographie, die man sich im Flanieren und im Verknüpfen erschließen kann. Blockbuster sind nicht unser Format. Aber darüber hinaus gilt es auch, andere, nicht wissenschaftliche Perspektiven in unsere Arbeit einzubeziehen. Das heißt, die Deutungshoheit der Experten zu brechen. Geschichte wird nur lebendig, wenn sie sich mit den Empfindungswelten der Menschen heute verbindet.
Eine Herkulesaufgabe… ... noch läuft vieles zu stark in den Eigenlogiken der Gedächtnisinstitutionen. Das muss sich ändern, wenn wir anschlussfähig sein wollen. Jede Zeit blickt anders auf Geschichte und ihre Artefakte – das muss in der Forschung deutlicher markiert werden, aber vor allem auch in unseren Ausstellungen, im Umgang mit Sammlungen.
„Das Grüne Labor unterwegs“
Es erklärt Passanten, warum der Erhalt alter Baumriesen so zentral ist für das Konzept des Landschaftsgartens.
(Foto: Sebastian Wanke / Klassik Stiftung Weimar)
Wie schließen Sie zum aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurs auf? Als öffentliche Institution nehmen wir den Auftrag ernst, die Existenzfragen von Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Gottfried Herder hat um 1800 über Klima und seinen Einfluss auf Kulturen nachgedacht. Goethe mit seiner sinnlichen und respektvollen Beobachtung der Natur könnte wieder ein Vorbild sein. Es lohnt sich, von heute aus unsere Klassiker neu zu befragen. Historische Objektivität kann es nicht geben. Das ist ein Kulturwandel für die Klassik Stiftung.
Was bleibt deren Kapital? Wir bringen originale historische Substanz, kulturelle Ressourcen ein. Unser Leistungsspektrum reicht von der Goethe-Edition bis zur Denkmalpflege, schließt Ausstellungen, Lesungen, Bildungsangebote und wissenschaftliche Tagungen ein. Die Zusammenarbeit mit Künstlern, Schriftstellern und Geisteswissenschaftlern aus aller Welt soll sich intensivieren. Seit Kurzem versuchen wir, unsere Programme in Themenjahre zu bündeln. Ich kann mir vorstellen, Kulturpolitik aus der Praxis heraus zu beraten. Mit uns kann man rechnen.
Die Kulturpolitik wird sich nach der Wahl neuformieren. Wo brauchen Sie neue Freiheiten? Der postpandemische Kassensturz wird auch Strukturen hinterfragen. Wie sollen sich hybride Kulturinstitutionen künftig organisieren, um existentiellen Herausforderungen gerecht zu werden? Für neue Antworten braucht es Experimentierfelder.
Das Ensemble
wird getragen von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Freistaat Thüringen und der Stadt Weimar. Neben rund 30 Dichterhäusern, Schlössern und Museen zählen auch die historischen Gartenanlagen mit über 3200 Bäumen dazu. 35 Gärtner stellen die größte Berufsgruppe der knapp 400 Mitarbeitenden.
heißt die erste gesellschaftspolitische Ausstellung im Schiller-Museum. Stiftungsbestand und zeitgenössische Kunst spiegeln mit Wort und Objekt die Dualität von Leben und Tod sowie die Zerstörung der Natur. Bis 26. September.
Klimapakt und digitale Transformation erfordern, dass sich die Gesellschaft wie die Stiftung wandelt. Warum hat die deutsche Sektion der „Fridays for Future“ in Dresden angedockt und nicht in Weimar? Im Vorlauf auf unser Themenjahr „Neue Natur“ haben wir diesen Impuls nicht gehabt. Erst beim „Ideenlabor Weimar“ im Rahmen des „Neuen Europäischen Bauhauses“ wurde mir die Nähe der Klima-Jugendbewegung zum Naturverständnis Goethes deutlicher. Jetzt planen wir themenbezogen Kooperationen.
Im Themenjahr „Neue Natur“ spielt erstmals auch der Landschaftsgarten an der Ilm eine Hauptrolle. Unsere kostbaren Parkanlagen leiden spürbar unter dem Klimawandel: Dürre, Ungeziefer, Hochwasser – alles hängt zusammen. Es greift einem ans Herz, wenn 200-jährige, prägende Baumriesen gefällt werden müssen. Das verwundete Holz haben wir mit jungen Architekten zum „Grünen Labor“ verbaut – einem modernen Pavillon im Park für Veranstaltungen. Mit interaktiven Parkmodellen erreichen wir jüngere Leute und machen deutlich, warum und wie wir die begehbaren Landschaftsbilder der Goethe-Zeit gegen Übernutzung und Klimawandel schützen.
Können denn Philologen einen Beitrag zum Thema Klimawandel leisten? Sehr viele Kolleginnen und Kollegen tragen zum Themenjahr bei – das ist ja gerade die Idee. Ohne eine Expertin aus dem Goethe Schiller Archiv hätte es zum Beispiel die Graphic Novel in unserem neuen Magazin nicht gegeben. Aber natürlich wollen wir auch den Betrieb selbst grüner machen. Bei laufenden Bauvorhaben setzen wir auf Kraft-Wärme-Kälte-Kopplung, Solaranlagen und Zisternen. Aber den Fuhrpark der 35 Gärtner auf E-Mobilität umzustellen, ist ein fast unlösbares Problem.
Ein Goethe-Lyrik-Forscher ist es gewohnt, zu Kennern zu sprechen. Wie kann er sich dem Laienpublikum auf Instagram stellen? Da ist noch einiges zu tun. Forscher sollten nicht ins Koma fallen, wenn Goethe oder Nietzsche auf Instagram locker rüberkommen. Unter unseren Wissenschaftlern gibt es schon leidenschaftliche Twitterer. Andere werden ermutigt, unzensiert eigene Beiträge zu wagen. Die Vielstimmigkeit der Stiftung selbst ist auch ein Zeichen der Öffnung.
Wieland-Zimmer
Die „Dichterzimmer“ im Schloss begründeten die Klassikerverehrung nach Goethes Tod.
(Foto: Thomas Müller / Klassik Stiftung Weimar)
Die digitale Transformation ist zentral für die Stiftung: Wie sieht Goethe 4.0 aus? Gerade digitalisieren wir Goethes originales Arbeitszimmer, arbeiten mit der Bauhaus Universität Weimar am Projekt „Goethe Experience“ mit 3D-Animationen. Für das, was wir hier ausprobieren, gibt es keine Blaupause. Wir sammeln völlig neue Erfahrungen, arbeiten mit Spieleentwicklern und Programmiererinnen, bringen Kulturgeschichte und Digital Natives zusammen.
Da ist viel Know-how gefragt. Ich stelle mir die Klassik Stiftung als ein digitales Forum vor, in dem sich nicht nur Forschungsfragen klären, sondern auch Neugier und Erlebnishunger befriedigen lassen. Dafür richten wir eine Querschnittsdirektion ein. Es geht definitiv nicht um eine digitale Verdoppelung, sondern um die Veränderung der Welt.
In der Konsequenz wird die Digitalisierung sich auch auf die Mitarbeiter auswirken. Vielleicht brauchen wir nicht weniger, aber andere Professionen und Fähigkeiten, komplexere Arbeitsbiografien und Ausbildungshintergründe.
Zurzeit wird die Vierflügelanlage des Stadtschlosses saniert. Was ändert sich? Wir restaurieren kein Schlossmuseum, sondern gestalten ein Bürgerforum, das Menschen mit verschiedenen Interessen anziehen soll. Neben den historischen Schauräumen wird es Bildungswerkstätten, einen Seminarbereich rund um die berühmten Dichterzimmer und eine zentrale Ausstellungsfläche der Klassik Stiftung geben. Die Kapelle wird zum Veranstaltungsraum, den wir mit anderen teilen wollen. Der Schlosshof soll zur Bühne unter freiem Himmel werden. Ab nächstem Jahr wandert das Grüne Labor vor die Südfassade – da wollen wir schon mal testen, wie sich das anfühlt, wirklich offen für die Zivilgesellschaft zu sein.
Wie gewinnt die Stiftung ein Publikum jenseits der gebildeten Leser von Safranskis süffigen Klassikerbüchern? Wir gehen mit unseren Vermittlerinnen in die Stadtteile, in Schulen und Vereine, aufs Land, in die Dörfer des Thüringer Waldes. „Grünes Labor mobil“ heißen unsere drei Lastenfahrräder, die wie Pop-up-Stores aktuelle Beiträge aus der Stiftung zu den Leuten bringen.
Flo Döhmer
Die 2015 aufgenommene Fotografie über die Spätfolgen der Tschernobyl-Katastrophe ist in der Ausstellung „Ich hasse die Natur“ zu sehen.
(Foto: Klassik Stiftung Weimar)
Jüngere Besucher interessieren sich oft für zeitgenössische Kunst. Doch die geschenkte und angekaufte Sammlung Maenz ruht derzeit im Depot. Seit der Umwidmung des Neuen Museums für die Vorgeschichte des Bauhauses und Henry van de Veldes Wirken in Weimar haben wir keinen speziellen Ort mehr für zeitgenössische Kunst. Dafür setzen wir in der Neukonzeption unserer Dichterhäuser und Ausstellungen auf die direkte Kooperation mit Künstlerinnen und Künstlern, aktuell etwa in der multimedialen ökologischen Ausstellung im Schillermuseum „Ich hasse die Natur“.
Die Klassik Stiftung zählte 2019 über eine Million Besucher. Welche Konsequenzen hat der Lockdown für 2020 und 2021? Ein Defizit von rund einer Million Euro für 2020. Im Moment werden Einnahmeverluste durch Einsparungen und Projektförderungen von Bund und Land fast ausgeglichen.
Was erwartet die Besucher in den kommenden Jahren? 2022 rücken wir Sprache ins Zentrum. Dabei geht es nicht nur um die berühmten Dichter Weimars, sondern auch um unsere heutigen Ängste: „hate speech“, die Rolle der sozialen Medien, gesellschaftliche Polarisierung, die über Sprache funktioniert. Wir diskutieren, wie sich öffentliche Meinung bildet. Unter dem Motto „Türen auf“, wollen wir die Wohnhäuser Schillers und Goethes auf Straßenniveau für Passanten öffnen. Da trifft uns im Alltag Lyrik wie ein Blitz.
Und 2023? Da wird das erste reale Wohnlabor der Bauhäusler, das „Haus am Horn“, 100 Jahre alt. Keine 300 Meter entfernt steht Goethes Gartenhaus aus dem 18. Jahrhundert. Grund genug, uns mit dem Wohnen heute zu beschäftigen. Wie viel Platz braucht ein Mensch? Wie wollen wir leben? Die alte Bauhaus-Frage ist aktueller denn je ...
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