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Zeitgenössische Kunst Magische Kunstmaschinen aus Schrott

In einem Dorf nahe Bonn entstehen aus Fundstücken kinetische Kunstwerke. Schöpfer der beweglichen Skulpturen ist der Bildhauer Willi Reiche.
06.05.2021 - 14:26 Uhr Kommentieren
Das kinetische Konstrukt von 2005 besteht aus dem Sternrad eines Heuwenders, einem Gummi-Fingerrad, einer Fingerscheibe und weiteren Rädern aus Landmaschinen. Zwei wasserspeiende Zapfpistolen weichen gegenläufig vor und zurück. Quelle: VG Bild-Kunst, Bonn 2021; Privatbesitz
Willi Reiche „Wasserspiel II“

Das kinetische Konstrukt von 2005 besteht aus dem Sternrad eines Heuwenders, einem Gummi-Fingerrad, einer Fingerscheibe und weiteren Rädern aus Landmaschinen. Zwei wasserspeiende Zapfpistolen weichen gegenläufig vor und zurück.

(Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2021; Privatbesitz)

Bonn Siebsterne, die einst im Inneren von Rübenrodern rotierten, das Sternrad eines Heuwenders, Zapfpistolen, ein Schwung- und ein Flügelrad. Das waren einmal nützliche Dinge, bis sie ausgemustert, ersetzt und zu Schrott wurden. Sie bekamen ihre zweite Chance, weil der Bildhauer Willi Reiche sie entdeckte und neu zusammenfügte.

Kleine Elektromotoren, Tauchpumpen, die Schwerkraft oder eine Handkurbel verwandeln sie in Kunstmaschinen. Spielerisch speien sie Wasser wie die über dreieinhalb Meter breite Außenskulptur „Wasserspiel II“ von 2005. Oder sie werfen grafische Muster an die Wand wie das frühe Lichtobjekt „Siebsternsonne“ von 1998. Hier gewährleistet ein Schleifkontakt, dass die im Zentrum sitzende Kopfspiegellampe auch während der Drehbewegung mit Strom versorgt wird.

Was Reiche seit 23 Jahren in einem Dorf südwestlich von Bonn zusammenbaut, bewegt sich und gibt Töne von sich. Heulenden Singsang in Intervallen produzieren ein Dutzend auf Stangen montierte Schneckenlüfter, wenn sie zarte, schwarze Nylonsöckchen aufblasen und dabei von einem hin- und herschwankenden „Kälbermilcherwärmer“ begleitet werden. Das filigran auf einen niedrigen Eisenwagen montierte Ensemble trägt den Titel „Blaskonzert“.

Ein Donnern entfährt dem zum Resonanzkörper umgebauten rostigen Druckluftbehälter, während eine Eisenkugel an seiner Innenseite spiralig nach unten gleitet. Die Schutzkappen von Gasflaschen, die sie dabei streift, geben glockenartige Töne von sich.

Wer das übermannshohe „A Tön(n)schen please“ (2014) in Aktion erleben will, muss allerdings fleißig kurbeln. Nur so lässt sich die Kugel über ein zentrales Schneckengewinde, die sogenannte archimedische Schraube, wieder nach oben befördern.

Mit der typischen Baskenmütze auf dem Kopf fotografiert der Künstler das Schattenspiel der Skulptur „Holy Prong“ (2014), eine Art kinetische Pagode auf vier Tragmasten. Quelle: VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Willi Reiche

Mit der typischen Baskenmütze auf dem Kopf fotografiert der Künstler das Schattenspiel der Skulptur „Holy Prong“ (2014), eine Art kinetische Pagode auf vier Tragmasten.

(Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2021)

Reiche, Jahrgang 1954, hat Kunstgeschichte studiert, einen Grafikbetrieb geleitet und sich ab 1990 voll auf das Dasein als Künstler konzentriert. Er kennt sich aus mit Hebelwirkung, Kraftübertragung, Rotation, Schwungkraft und Niedervoltelektrizität. Und er weiß, was man mit Sektkühlern, Schornsteinventilatoren, Gemüsedämpfern und einer Kugelwaschmaschine noch so alles machen kann: Dinge voller Torheit und Magie, Objekte, die mit ihren besonderen Qualitäten die Sinne trainieren, spielerisch, vergnüglich, voller Humor.

Natürlich fühlt sich Reiche dem großen Meister der bizarr klappernden, rostigen Maschinen, Jean Tinguely, verbunden. Wie der Schweizer kombiniert er Fundstücke und Bewegung; jedoch spielerischer, technisch vielfältiger und mit mehr Sinn für skurrile und ästhetische Effekte.

Die Siebsternzinken entfalten dank der zentral integrierten Beleuchtung reizvolle Schattenbewegungen an der Wand. Quelle: VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Willi Reiche „Siebsternsonne“ 1998

Die Siebsternzinken entfalten dank der zentral integrierten Beleuchtung reizvolle Schattenbewegungen an der Wand.

(Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2021)

Das Lachen in der Brust und der unbändige Spaß, als Betrachter mit involviert zu werden, gehören dazu wie bei so vielen Künstlern der kinetischen - also bewegten - Kunst. Der Dadaismus der 1920er-Jahre mit seiner Affinität zum theatralischen Spiel mit Gefundenem lässt grüßen, und auch eine Gruppierung von Künstlern, der Tinguely angehörte: der Nouveau Réalisme der späten 1950er- und 1960er-Jahre. Mit neuen Techniken und gefundenen Materialien integrierte dieser Stil die alltägliche Lebensrealität in die Kunst, um ihren erhabenen Status zu sprengen.

Eine der letzten Zusammenkünfte der Kinetikerzunft war die als Hommage an Tinguely konzipierte Ausstellung in Montreux anlässlich seines 25. Todestages 2016. Ansonsten gibt es nicht allzu viele Museen, die einen Schwerpunkt auf Kunst in Bewegung gelegt haben. Das Musée Tinguely in Basel gehört dazu, das MAD (Mechanical Art and Design) Museum in Stratford upon Avon in England und in kleinerem Maßstab das Kunstmuseum in Gelsenkirchen.

Die strenge Formgebung dieser 2018 entstandenen Skulptur erinnert an Stilelemente des Art Déco, die Architektur von Lichtspielhäusern, Theatern und Filmpalästen. Quelle: VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Willi Reiche „Bügelpalast"

Die strenge Formgebung dieser 2018 entstandenen Skulptur erinnert an Stilelemente des Art Déco, die Architektur von Lichtspielhäusern, Theatern und Filmpalästen.

(Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2021)

In London gibt es die Kinetica Art Fair, kuratiert vom Kinetica Museum London, das seit zehn Jahren eine entsprechend spezialisierte Sammlung aufbaut. Erwähnenswert ist auch das Roboter-Kunstfestival „Robodonien“ in Köln, an dem Reiche mehrere Male teilnahm.

Nicht erhaben, eher geerdet sind die Skulpturen Reiches. Charakteristisch ihre Verbundenheit mit den Gebrauchsutensilien von Bauern und heimischen Industriebetrieben; aber auch mit den Menschen. Mit Schülern der Hans-Dietrich-Genscher-Schule in Wachtberg baute er aus rostrotem industriellem Gratschrott eine riesige Drachenskulptur mitten in einem Kreisverkehr. Die beeindruckende Figur, ausnahmsweise ohne bewegliche Teile, ist längst zum Wahrzeichen der auch als „Drachenfelser Ländchen“ bekannten Landschaft avanciert.

Die 2002 geschaffene Kunstmaschine zeichnet sich durch ungewöhnlich viele Farbakzente aus. Geschmiedete Schnörkel treffen auf zweckorientiertes Industriedesign, eine blaue Bunkerlampe oder einen grünen Radspanner. Quelle: VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Willi Reiche „Zur Kommunion meiner Tante Waltraud"

Die 2002 geschaffene Kunstmaschine zeichnet sich durch ungewöhnlich viele Farbakzente aus. Geschmiedete Schnörkel treffen auf zweckorientiertes Industriedesign, eine blaue Bunkerlampe oder einen grünen Radspanner.

(Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2021)

Soeben erschien im Eigenverlag unter dem Titel „Kunstmaschinen Willi Reiche“ ein erstes Werkverzeichnis der kinetischen Skulpturen, das auch mit einem Glossar der Fachbegriffe aufwarten kann. Denn wer weiß schon, wozu Siebsterne und Schneckenlüfter gut sind? Herausgeberin ist Tania Beilfuß. Das Buch kostet 24,95 Euro und ist unter http://kunstmaschinen.de/katalog/ zu beziehen.
Willi Reiches „Kunstmaschinenhalle“ nahe Remagen kann nach Voranmeldung besichtigt werden.

Mehr: Ausstellung zum 90. Geburtstag: Heinz Mack in Düsseldorf: „Für mich ist Bewegung die eigentliche Form des Bildes“

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