
Die Menschen nehmen zunehmend kleinere Mahlzeiten wie Tacos, Wraps, Sushi oder Suppen zu sich.
Hamburg Den spannendsten Trend kann man nicht kauen. Oder doch? Beyond Plastic oder „Intelligente Verpackungen braucht die Welt“, ist genau genommen kein Trend, sondern das sich rasant entwickelnde Vorhaben, die Plastikzeit in den Griff zu kriegen. Die stellt auch das Food Business vor Herausforderungen: Industrie und Handel sowieso, Gastronomie und Landwirtschaft ebenso.
Die Österreicherin Hanni Rützler, Ernährungswissenschaftlerin und Food-Trend-Forscherin seit mindestens 25 Jahren, Inspirationsquelle für die Nahrungsmittel- und Getränkebranche, widmet als Autorin des Foodreports aus dem Zukunftsinstitut der Lebensmittelverpackung von morgen einen Schwerpunkt in der Ausgabe 2020.
Darin macht sie den Handlungsdruck deutlich, nimmt alle in die Pflicht – auch die Konsumenten –, stellt Entwicklungen innovativer Start-ups aus allen Teilen der Welt vor, Prototypen von Pommes-Tüten aus Kartoffelschalen oder Trinkhalme aus Apfeltrester zum Beispiel, denkt über totalen Verpackungsverzicht nach und merkt an: „Der Weg in die Post-Plastic- und Zero-Waste-Ära ist noch lang – je früher wir die Reise starten, desto besser.“
Rützlers Reisen in die Zukunft des Essens werden stets gespeist von den großen Strömungen des Zeitgeists; aktuell von der Urbanisierung, der Verbindung zwischen Essen und Design und eben vom globalen Müll. Der wiederum ist untrennbar verbunden mit einem weiteren Riesenthema: dem Leben in sogenannten Wohlstandsgesellschaften.
„Lebensmittelüberfluss und die schier endlosen Auswahlmöglichkeiten nötigen uns ständig zu Entscheidungen“, sagt Hanni Rützler dem Handelsblatt. Zugleich wüssten Verbraucher in den digitalen Gesellschaften immer mehr über die Herkunft von Lebensmitteln und erwarten Transparenz. „Ich spreche daher von Prosumenten, wenn ich auf Wechselwirkungen wie diese hinweise.“ Aufgeklärte Konsumenten würden professionellere und moralischere Ansprüche an Nahrung stellen als durchschnittliche Verbraucher.

Der Lebensmittelverpackung von morgen widmet die Österreicherin einen Schwerpunkt im Food Report 2020.
(Foto: Andreas Jakwerth)
All das spiegelt sich in zahlreichen Food Trends, die sie in nunmehr sieben Reports als Treiber für die Veränderungen der weltweiten Esskulturen beschreibt. Entsprechend liest sich die Food-Trend-Map 2020 wie ein bemerkenswerter Einfallsreichtum an Anglizismen. Es dominieren lauter hippe Termini, „weil die in ihrer Knappheit oft präziser sind als entsprechende deutsche Worte,“ so die Expertin. Allerdings stellt sich ein ums andere Mal die Frage, was wohl gemeint sein könnte.
Doch zunächst zur Struktur. In einem Cluster mit den sieben sich farblich unterscheidenden Metaebenen Nachhaltigkeit, Qualität, Alltag, Gesundheit, Beyond Food, Glokal, Genuss sind 38 Ernährungsstile zu finden. Manche wirken auf mehreren Ebenen: Free From passt nicht nur zur Gesundheit, sondern auch in den Alltag. Andere bleiben auf einer Ebene: True Food bei Qualität oder Food Pairing bei Genuss.
Nichts wirkt statisch, alles ist in Bewegung. Und genau darum geht es: Food Trends verändern sich permanent, sind wie alle Trends nie linear und eindimensional, sondern komplex und vernetzt, stehen für den Wandel von Normen, Bedürfnissen und Lebensstilen. Manche werden im nächsten Report nicht mehr auftauchen, andere entwickeln sich weiter, bis hin zu einer neuen Esskultur.
„Food Trends stehen aber auch für Antworten auf Probleme, die seit Jahrzehnten unseren Essalltag begleiten: Skandale, ungesunde Fertiggerichte oder Diäten, das Elend der Tiere in der industriellen Massenhaltung und auf den Transportwegen“, ergänzt Rützler. Food Trends sollen das „Weiter so“ der entsprechenden Branchen stören und einen analytischen Blick auf die Dinge provozieren. Einerseits.
Andererseits spricht die Wissenschaftlerin nur dann von Food Trends, wenn die Antworten oder Lösungen auf mehreren Ebenen wirksam würden. Ein neues Produkt sei noch kein Trend. Wahre Innvovation brauche Tiefe, Zeit und Geduld, und habe eine Haltbarkeit von fünf bis zehn Jahren. „Die Welt befindet sich im Umbruch. In Zukunft muss unser Ernährungssystem gesünder, ressourcenschonender, emissionsfreier werden.“
Der Wandel der Esskultur auf der Ebene der Mahlzeiten: Nicht mehr die Essenszeiten strukturieren unseren Alltag, sondern wir passen unsere Essgewohnheiten und -strukturen dem schnelleren, mobileren und flexibleren Leben an – mit kleinen Portionen. Der Foodreport 2020 nennt das Snackification: die Auflösung der klassischen Kategorien Frühstück, Mittag- und Abendessen und davon, wann, wo und wie gegessen wird.
Minimahlzeiten wie Bowls, Salate, Wraps, Tapas, Sushi oder Suppen werden überall eingenommen, oft “on the go” und spontan. Der Konsument erwartet, dass alles gleichermaßen frisch und gesund, genussvoll und nicht industriell hergestellt ist und individuell kombiniert werden kann. Große Küche auf kleinen Tellern: Eine solche Entwicklung wird auch das Angebot klassischer Restaurants verändern, schreibt Hanni Rützler, sie werden sich noch mehr auf die Wünsche ihrer Gäste einstellen müssen. “Snacks lösen mehr und mehr die traditionelle Speisenfolge auf. Die Dreieinigkeit von Vorspeise, Hauptgang und Dessert wird immer häufiger hinterfragt. Im Ergebnis machen die strikten Regeln Platz für kreativere und offenere Essmöglichkeiten.”
Hanni Rützlers Prognose im Foodreport 2019 hieß: Bei gleichbleibender Wirtschaftslage bestimmen ein sinkender Fleischverbrauch und zunehmender Konsum einer pflanzlichen Kost mit Gemüse, Kräutern und Getreiden die nächsten Jahre. „Diese Ernährung schließt Fleisch nicht aus, rückt es aber aus dem Zentrum heraus und liefert zusätzliche Proteine aus anderen Quellen, mit einem liebevollen Blick auf alles Pflanzliche.”
All das klingt gesund, ethisch und ökologisch korrekt und doch nicht nach Entsagung. Und umfasst unterschiedliche Trends. Von einer flexitarischen über eine vegetarische Ernährung bis hin zu veganen Novel-Food-Produkten, die tierische Produkte auf Basis pflanzlicher Rohstoffe imitieren. „Jedoch werden wir uns in der Zukunft wahrscheinlich nicht strikt pflanzlich ernähren”, heißt es. „Auf lange Sicht wird sich der Flexitarier durchsetzen. Damit ist eine überwiegend vegetarische Ernährung gemeint, in der man gelegentlich hochwertiges, biologisch produziertes Fleisch zu sich nimmt.”
Immer mehr Menschen wollen Lebensmittel sinnlich wahrnehmen. Was esse ich da eigentlich, wo kommt es her, woraus setzt es sich zusammen, wie ist es verarbeitet, zubereitet und, vor allem, wie schmeckt es: Gewissermaßen als Ausdruck eines Gegentrends zu klassischen Convenience- und “anonym” verpackten Produkten in den Supermärkten kaufen sie Obst, Gemüse, Fleisch, Wein, Käse, Backwaren und Co. so oft wie möglich auf dem Wochenmarkt, direkt im Hofladen, beim Winzer, in Spezialgeschäften.
Im Foodreport 2018 lautet das zentrale Thema: Näher ran an die Produkte. Es geht ums schauen, riechen, probieren; darum, die Atmosphären der Produktionsstätten einzufangen, die Produzenten kennenzulernen, mit ihnen über die Herstellung zu sprechen, mehr über die Verarbeitungsschritte und ideale Zubereitungsarten in Erfahrung zu bringen. Immer mehr Produzenten setzen daher auf die Möglichkeit, den Konsumenten mehr Einblick in ihre Arbeit zu gewähren und sie auch an der Herstellung teilhaben zu lassen – nicht nur in beobachtender Form. Um das Produkt ins rechte Licht zu rücken, inszenieren sie sich und ihre Tätigkeiten. Alles für eine Esskultur, die echtes Essen zelebriert und Handwerk ehrt.
Nachhaltiger halt. Für immer mehr Produzenten, Gastronomen und Konsumenten wird Nachhaltigkeit laut Rützler zu einem wesentlichen Kriterium bei der Beschäftigung mit Lebensmitteln und Speisen. Die Kategorie ist neu im Vergleich zur Food-Trend-Map 2018. Das Thema nicht. Denn der Zug fährt längst: in vielen Unternehmen, auf Restauranttellern, in privaten Kühlschränken, auf Wochenmärkten ohnehin.
Nicht zuletzt wird seit geraumer Zeit „containert“: Lebensmittel werden aus den Mülltonnen der Supermärkte gefischt, um Verschwendung zu minimieren. Die großen Supermärkte in Tschechien sind sogar gesetzlich verpflichtet, nicht Verkauftes kostenlos an Hilfsorganisationen abzugeben.
Mal abgesehen davon, dass Menschen auch in Containern wühlen, weil das Geld nicht zum Einkaufen reicht – aber das ist ein anderes Thema –, ist im Foodreport 2020 aus dem guten alten „Wir werfen nichts weg“ nun Re-use Food geworden; aus dem Gärtnern und Genießen selbst produzierter Nahrung das klingende Gourmet Gardening.
Die neue Esskultur heißt Hinterfragen
Aber stimmt schon, der Zug verträgt weitaus mehr Anhänger. Heißt die neue Esskultur dennoch Nachhaltigkeit? Nein, sie heißt Hinterfragen, entgegnet die Autorin: „Die Kriterien, die wir dafür heranziehen, um auf das Ernährungssystem mit verändertem Einkaufs- und Konsumverhalten reagieren zu wollen und können, sind immer auch Ergebnisse einer differenzierten Betrachtung. Die vielen Food Trends wiederum stehen für die unterschiedlichen Formen des kritischen Konsumierens. In Summe kann man durchaus sagen, dass Hinterfragen schon Mainstream und somit zur Signatur unserer Esskultur geworden ist.“
Stevan Paul aus Hamburg, renommierter Fachautor für Kochen und Kulinarik, erlebt, dass insbesondere junge Generationen sich vom industriellen Geschmackseinerlei emanzipieren. Ob Street Food, Craft Beer oder die eben auf der Frankfurter Buchmesse präsentierten Kochbuch-Neuerscheinungen: „Die Menschen wollen selbst aktiv werden und lernen“, sagte er am Rande eines Fachsymposiums, das der Genussverein Feinheimisch in Schleswig-Holstein zu Thema Perspektivwechsel in der Gastronomie gerade veranstaltet hat.
Ein Käse-Atlas, ein Buch über Hühner, handgemachte Pasta oder den richtigen Umgang mit Tofu waren für Paul nur einige Beispiele dafür, dass es eine wachsende Schar aufgeklärter „Prosumenten“ jetzt noch genauer wissen will. „Gepaart mit einer allgemeinen Trendmüdigkeit stecken dahinter weitere Bedürfnisse: der Wunsch nach Individualität und Selbstbestimmung in unübersichtlichen Zeiten.“
Reden wir also übers Essen, reden wir über die eigene Identität: über Werte und Gewohnheiten, Persönlichkeit und Prioriäten. Wir sind, was wir essen – und immer mehr auch, was wir aus Überzeugung nicht essen, betont Hanni Rützler. „Wie wir uns ernähren und darüber kommunizieren, ist längst eine Chiffre für Selbstinszenierung und Weltdeutung.“
Die sich daraus entwickelnde, naturgemäß verwirrende Vielfalt versuche sie zu clustern. Für Unternehmen und Gastronomen taugt sie dann als Orientierungshilfe, wenn die auf Themen fokussieren, die der eigenen Philosophie entgegenkommen. Der Verbraucher wiederum kann bei seinen Konsumentscheidungen an Ideen andocken, die ins eigene Wertespektrum passen oder schlicht den stressigen Alltag erleichtern.
Mehr: Die Umsatzskala von Vitaminpillen & Co. ist nach oben offen, bei der Sinnfrage aber wird es eng. Forscher raten, für Nahrungsergänzungsmittel kein Geld auszugeben.

1 Kommentar zu "Food Report 2020: Reisen in die Zukunft des Essens"
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Natives Olivenöl extra“ bedeutet 1. Güteklasse. Das rote und das blaue EU-Gütesiegel sowie das grüne Euro-Blatt für Bioprodukte helfen dem Konsumenten bei der Auswahl. Ein gutes Olivenöl ist eine ausgewogene Mischung aus fruchtig, bitter und scharf. Baumpfl ege und Ernte sind der kostspieligste Teil der Olivenölherstellung (75% der Kosten). Olivenöl aus Gegenden, wo maschinell geerntet wird, ist deutlich billiger, als wenn die Ernte von Hand erfolgt. Achten Sie auf die Herkunftsangaben auf dem Etikett: „Natives Olivenöl extra aus der EU und aus Drittländern“, „Natives Olivenöl extra aus Ländern der EU“, „Natives Olivenöl extra aus einem bestimmten Land (z. B. Italien, Spanien oder Griechenland)“. Je kleiner das Herkunftsgebiet, desto besser ist meist die Qualität. Auch für die Abfüllung sorgt im besten Fall der Hersteller selbst. Freiwillige Gütesiegel, wie geschützte Ursprungsbezeichnung (g.U.) und geschützte geografi sche Angabe (g.g.A.) – DOP (Denominazione di Origine Protetta) und IGP (Indicazione Geografi ca Protetta) – besagen, dass alle oder manche Produktionsschritte in der Region erfolgen. Die entsprechenden Spezifikationen bestimmen Gebiet und Bodenqualität, welche Anteile welcher Olivensorten erlaubt sind, wie Ernte und Verarbeitung zu erfolgen haben und, welche chemischen und organoleptischen Eigenschaften das Öl haben muss. Das „Euro-Blatt“ kennzeichnet Produkte aus biologischem Anbau und stellt sicher, dass während sämtlicher Herstellungsphasen keine chemischen Substanzen und ausschließlich natürliche Pfl anzenschutzmittel eingesetzt wurden.
Weitere Informationen rund um das Thema Olivenöl finden Sie unter www.lookingfortheperfectfood.eu/de