Buchrezension: „Hitler – eine globale Biographie“ War Hitler in erster Linie Antikapitalist?

Erst die unerfüllte Liebe des Diktators zu Briten und Amerika habe zur Katastrophe geführt, meint Historiker Brendan Simms. Ist da etwas dran?
München Unter den Monstern der Zeitgeschichte, die uns weiter beschäftigen, nimmt Adolf Hitler einen gehobenen Platz ein. Der Mann, dessen „tausendjähriges Reich“ gerade einmal zwölf Jahre dauerte, der Europa mit Krieg überzog und den Tod zu einem „Meister aus Deutschland“ machte.
Der Kunstmaler aus Braunau wuchs auf im untergehenden Habsburger Reich und wurde erst 1932 zum Deutschen, als ihn seine Schergen zum Regierungsrat beim Landeskultur- und Vermessungsamt des „Freistaats Braunschweig“ bestellten – einer frühen NS-Zone der Weimarer Republik.
Seit Jahren ist Deutschlands Kulturwesen ohne diese stummelbärtige Schreckensfigur – und damit ohne die Faszination des Bösen – kaum denkbar. Sei es in Büchern wie „Er ist wieder da“ und „Jojo Rabbit“, die als „kontrafaktische“ NS-Darstellung („Was wäre, wenn ...“) mit der Logik des Markts verfilmt werden, sei es in der wellenförmig verlaufenden Debatte der Historiker – das Thema bleibt.
Mehr als 150.000 Bücher und Aufsätze sind über den Diktator erschienen, darunter Standardwerke von Alan Bullock, Joachim Fest, Ian Kershaw, Volker Ullrich, Wolfram Pyta und Peter Longerich.
Es gibt also weder Mangel an Hitler-Wissen noch ein Defizit an Thesen. Und doch tritt mit Brendan Simms nun ein Geschichtsprofessor auf, der vorgibt, eine neue Formel zum Verständnis des wohl nie ganz zu Verstehenden gefunden zu haben, eine Folie, die er über die bekannte Vita des rassistischen und faschistischen Aufsteigers legt. Es ist wie bei Marxisten, die über den Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit die Welt erklären.
Bei Simms, Professor für Geschichte der internationalen Beziehungen an der englischen Universität Cambridge, zählt vor allem ein Grundsatz: dass Hitlers „Hassliebe“ und sein Hauptaugenmerk „Angloamerika“ und dem internationalen Kapitalismus gegolten hätten (der wiederum vom „Weltjudentum“ durchsetzt sei).
Der Sowjet-Bolschewismus spielte hingegen nur eine schwächere Rolle. Der Hass auf den Kapitalismus ist in dieser Theorie zuerst da gewesen, gefolgt vom Hass auf Juden. Das sei bisher von den Geschichtswissenschaftlern nicht verstanden worden, erklärt Simms, und vermutlich deswegen wiederholt er die Hauptthese an vielen Stellen in seiner „globalen Biografie“.
Redundanz ist Marketing
Global ist hier erst einmal, wenn man so will, eine rassenkundliche Erkenntnis. Der Antikapitalist Hitler, wie hier verstanden, sei ein Bewunderer der „Angelsachsen“ gewesen, deren Vorfahren ja oft aus Deutschland eingewandert waren.
Die Briten verkörperten „in fast jeder Hinsicht“ die von ihm „bevorzugte Art der Rassenhebung“, schreibt Simms: „Tatsächlich betrachtete er die Briten und Amerikaner angelsächsischer Herkunft als die besseren Germanen.“ Beweise: Er wollte Internate nach englischem Vorbild schaffen, die Hafenstadt Hamburg mit Wolkenkratzern wie New York gestalten und über eine Pressekampagne die amerikanischen und englischen Medien für sich einnehmen.
1934 empfing der an die Macht gelangte Hitler den Chef von General Motors genauso wie US-Pressetycoon William Randolph Hearst. Erst später sei es gegen den „jüdisch-kapitalistischen Weltfeind“gegangen – erst als die hofierten Angelsachsen und Amerikaner in Simms“ Koordinatensystem nicht vom Kapitalismus und den Juden lassen wollten.
Hitler bewunderte das britische Empire und die USA – und kam von ihnen nicht los. Brendan Simms (Historiker)
In diesem Kontext deutet Brendan Simms, der im Bayerischen Kriegsarchiv sowie im Auswärtigen Amt neue Dokumente gefunden haben will, eine Begegnung auf den französischen Schlachtfeldern 1918 geradezu schicksalhaft: Hitler lieferte zwei amerikanische Gefangene den eigenen bayerischen Truppen ab.
Die beiden seien für den Gefreiten, so der Autor, die Nachkommen von Auswanderern gewesen, die ihre Heimat wegen des mangelnden „Lebensraums“ verlassen hätten – den er später im Osten schaffen wollte.
„Damals begann also alles: die Besessenheit von Deutschlands demografischer Schwäche…“, raunt Simms, der aus Hitlers Frühzeit Parolen wie „Tanz ums goldene Kalb“ oder „Majestät des Geldes“ und Attacken auf die „absoluten Gegner England und Amerika“ zitiert.
Anfang der 1920er-Jahre polemisierte Hitler gegen das „internationale Börsen- und Leihkapital“ als „Nutznießer“ des Versailler Vertrags; sie hätten Deutschland auf den Status einer „Kolonie“ herabgedrückt. Der Bolschewismus sei dem Agitator als perfides Mittel des jüdischen Großkapitals erschienen, Russland übernahmereif zu machen, schlussfolgert der globale Hitler-Biograf Simms.
Man weiß nicht, was hier kruder ist: die Theorien Hitlers oder die Exegese des Geschichtswissenschaftlers von der Insel, auf der heute noch jede Nazi-Devotionalie besonderen Schauer erzeugt. Unzweifelhaft aber, dass US-Autobauer Henry Ford, ein glühender Antisemit, für den ersten Nationalsozialisten ein großes Idol war.
So entstand früh die Idee vom „Volkswagen“ als „Beförderungsmittel auch des kleinen Mannes in die Natur – wie in Amerika“, was Hitlers Intimus Rudolf Heß notierte. Das Land brauche ein Auto wie den Ford T, sagte der „Führer“ 1930 – eine Hoffnung, die Ingenieur Ferdinand Porsche erst 1938 erfüllte, mit dem Modell des „Käfers“. Die Folgen sind bekannt und können in Wolfsburg besichtigt werden.

Brendan Simms: Hitler – eine globale Biographie.
Deutsche Verlags-Anstalt
Zürich 2017
1056 Seiten
44 Euro
Muss die deutsche Geschichte nun umgeschrieben werden? Wohl kaum. Brendan Simms liefert ein in sich stimmiges Erklärungsmuster, das jedoch sehr an einem anglozentrierten Weltbild klebt. Der ganze Nazismus ist hier im Grunde genommen eine verhängnisvolle Affäre Hitlers mit den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich, ein psycho-pathologischer Fall zurückgewiesener Bewunderung und nicht erfüllter Liebe, die dann in Feindseligkeit und Aggressivität umschlug.
Man kann das wahlweise starker Tobak oder dünne Suppe nennen. Einer der Kernsätze, die Simms auch jüngst in einem langen „Spiegel“-Gespräch untergebracht hat, lautet: „Wer nicht über Hitlers Antikapitalismus reden möchte, sollte auch über seinen Antisemitismus schweigen.“ Doch reden muss man über beides, nur am besten in der richtigen Reihenfolge und Priorisierung.
Im Übrigen weisen, in Simms' Diktion, der Antikapitalismus Hitlers und der der Kommunisten zwangsläufig auf Gemeinsamkeiten, die Mitte der 1980er-Jahre im „Historikerstreit“ rund um Ernst Nolte eine Rolle spielten.
Doch der irischstämmige Hitler-Autor will diesen Gedankenzug nicht mitmachen und wendet sich leidenschaftlich gegen Noltes These, wonach der Holocaust eine „verzerrte Kopie von Stalins Großem Terror“ gewesen sei – es habe sich vielmehr um einen „Präventivschlag gegen Roosevelts Amerika“ gehandelt. Antikapitalismus auch hier.
Die Frage drängt sich auf: Lassen sich so wirklich sechs Millionen ermordete Juden erklären? Haben nicht vielmehr die Unruhen in der Münchener Räterepublik nach Ende des Ersten Weltkriegs den Demagogen Hitler geformt?
Bewirkte nicht die blutige Auseinandersetzung mit Kommunisten und Sozialisten im Straßenkampf jene Radikalisierung, deren Folgen zu 1945 führten? Und: War nicht der Judenhass damals üblich in weiten Teilen der Gesellschaft – eine Stimmung, die Hitler aufgesaugt hat?
Nähe zu den Stahlbaronen
Tatsächlich hat Hitler in „Mein Kampf“ und im „Zweiten Buch“ viel stärker den Bolschewismus seziert als den Kapitalismus. In Naziprogrammen war die Verstaatlichung von Banken und Schlüsselindustrien zwar ein durchlaufender Posten, die reale Politik aber war alles andere als antikapitalistisch.
So konnte Hitler im Januar 1932 bei seiner Rede im voll besetzten Industrie-Club Düsseldorf viele Bedenken bei den anwesenden Wirtschaftsgrößen ausräumen. Nach der Machtübernahme 1933 suchte er noch größere Nähe zu den Stahlbaronen Fritz Thyssen und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach. Er brauchte sie zur Kriegsvorbereitung.
Die Masche, den Lauf der Geschichte einem vorgeblichen Antikapitalismus-Lebenskampf des Selfmade-Demagogen Hitler unterzuordnen, ist stellenweise anregend, als Gesamtkonstrukt jedoch intellektuell nicht durchzuhalten.
So erscheint es mehr als gewagt, den Kampf der Deutschen gegen die Briten in Nordafrika in seiner Wichtigkeit über die Schlacht von Stalingrad zu stellen, wo 750.000 Soldaten starben – zehnmal mehr als in Tunesien. Man kann aber nicht anders, wenn man eine „unanswered love“ zu den „besseren Germanen“ in London und New York als große Prämisse sieht.
In seiner Beweisführung bleibt Simms zuweilen im Ungefähren, etwa wenn er das „Politische Testament“ von 1945 erwähnt: Darin habe Hitler nicht über den Kommunismus, sondern erneut über die „internationalen Geld- und Finanzverschwörer“ geschrieben, die die Völker Europas wie „Aktienpakete“ behandeln würden.
Diese Form von Geisterbeschwörung trifft auf ein neues Deutschland, in dem die Opageneration dem „Führer“ in dessen Sinne entgegengearbeitet hatte und die rechtsextreme AfD heute eine erinnerungspolitische Wende fordert, die heimische Soldaten als Helden und Hitler als Schurken begreift, der den Deutschen das Rückgrat gebrochen habe. Eine zu starke Fixierung auf den Diktator kann da antiaufklärerisch sein.
Der Wissenschaftler Simms hat einige instruktive Bücher über Europa geschrieben. Nun jedoch sieht es ganz so aus, als sei er Opfer eines eigenwilligen Hitler-Zentrismus geworden.
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