Buchrezension Kanzlerin des Bewahrens: Was von 16 Jahren Angela Merkel bleibt

„Ich kann Leute in Positionen bringen, aber laufen müssen sie schon selbst.“
München Zu den vielen Schleifen im langen Amtsabschied der Angela Merkel gehört ihre selbst gesetzte Erkenntnis, man vermisse erst etwas, wenn es nicht mehr vorhanden ist. Bevor wir womöglich wirklich etwas vermissen sollten nach 16 Jahren Bundeskanzlerin, beschäftigen sich erst einmal Kohorten von Autoren auf allen Kanälen mit ihrem Wesen und Wirken.
In der Schlussetappe ihrer Regentschaft wird so offenbar ein Vakuum gefüllt. Merkel, das unbekannte Wesen. Die Frau, die aus dem Osten kam. Sozialisiert im roten Zwangsbeglückungssystem, dem sie zu entweichen wusste, dann erweckt in den Wirren der Wende als „Mädchen“ Helmut Kohls. Über der Demontage des Pfälzers wurde sie zur ersten Machiavellistin des Landes.
In der anschwellenden „Angie“-Erklärungspublizistik fallen zwei Bücher gestandener Journalisten auf: Sie stehen für einen unaufgeregten, erzählerischen „Rekonstruktivismus“, für die faktenbasierte Darstellung von Vorgängen. Dieser Qualitätsjournalismus hebt sich wohltuend ab von jener manieristischen Realitätsdarstellung, die schon das Nennen von Menükarten als Enthüllung begreift, aber auch von reißerischen Kampagnenstücken des Boulevards, die stets Helden und Idioten brauchen.
Da ist also zum einen Robin Alexander von der „Welt“. Er beschreibt in einem außergewöhnlich präzisen Report die Agonie der letzten Merkel-Jahre, das Buhlen der zu kurz springenden Epigonen um die Macht, das Chaos, das die Spinnenkönigin mit ihrem Küchenkabinett gelassen registriert.
Und da ist zum zweiten die XXL-Biografie von Ralph Bollmann, der auf 800 Seiten chronologisch – mit 55 Seiten Quellenverzeichnis – das Leben seines Objekts seziert wie der Zoologe eine neue Riesenstabschrecke aus Madagaskar.
Die liberale Demokratie gekittet
Der Autor der „Frankfurter Allgemeinen“ geht mit äußerster Akribie gegen die Misslichkeit vor, dass die misstrauische Kanzlerin am liebsten per Telefon und SMS kommuniziert hat, um bloß keine Spuren vertraulicher Vorgänge zu hinterlassen. „Angela Merkel war als Kanzlerin der Veränderung angetreten, sie wurde eine Kanzlerin des Bewahrens“, formuliert Bollmann. In diesem Satz steckt die ganze Größe und Tragik ihrer 16 Jahre.
Auf die Disruptionen der neuen Zeit hatte die Christdemokratin keine strategischen Antworten, nicht auf die Digitalisierung, nicht auf den Klimaschutz, nicht auf Bildungsanforderungen. Die Infrastruktur rottete vor sich hin. Sie habe nicht als „halbtotes Wrack“ aus der Politik ausscheiden wollen, zitiert Bollmann und schlussfolgert, „einen Reformstau hinterlässt sie in vielen Bereichen gleichwohl“.
Andererseits war sie die große Krisenbezwingerin, eine Katastrophe löste die nächste ab: Finanzkrise, Euro-Krise, Fukushima, Ukraine, Flüchtlingsfrage, Brexit, Trump, die Pandemie. Dass Deutschland im Vergleich gut durchs schwere Wetter segelte und international weiter recht anerkannt ist, kann sie auf ihrem Habenkonto verbuchen.
Als „Außenkanzlerin“ habe sie die liberale Demokratie gekittet, wo es möglich war, die Euro-Zone gerettet und auch die Christdemokratie stabilisiert mit ihrer Linie, „die politische Mitte zu besetzen und dort eine kulturelle Hegemonie zu erreichen“, so Bollmann.
Das stärkste Statement ihrer gesamten Amtszeit habe sie während der Flüchtlingsdebatte gegeben: „Wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“
Bollmann zeichnet das Bild einer nüchtern-pragmatischen Politikerin, einer „Vernunfteuropäerin“, der Helmut Schmidt näher lag als Helmut Kohl und deren spezielle Art von Charisma mehr und mehr im liberalen Milieu durchschlug: sachlich, unaufgeregt, ruhig, ein Gegenmodell zum populistischen, autoritativen Typ.

Ralph Bollmann: Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit.
C. H. Beck
München 2021
800 Seiten
30 Euro
Andererseits sei ihr Vertrauen in eine glückliche Zukunft der West-Demokratie erschüttert, die sie als DDR-Bürgerin so bewundert habe, konstatiert der Autor. Das liege auch an der Art, „wie ihr in der Flüchtlingsdebatte das Wort im Mund verdreht wurde“.
Im Persönlichen leistet Bollmanns Standardwerk eine ordentliche Gesamtschau der Zusammenhänge, ohne ganz große Neuigkeiten zutage zu fördern. Aber man liest gerne noch einmal die Geschichte von Pfarrer Horst Kasner, geboren als Horst Kazmierczak, und seiner Frau Herlind, einer Lehrerin, die mit ihrer kleinen Tochter von Hamburg erst ins nordbrandenburgische Dorf Quitzow, dann in die uckermärkische Kleinstadt Templin zogen.
Die gesamte Familie wahrte intellektuell sowohl zum westlichen Kapitalismus als auch zum Sozialismus Distanz. Tochter Angela hatte mit ihrer Systemskepsis in der DDR nur die Wahl, Theologie oder Natur- und Ingenieurwissenschaften zu studieren.
Sie entschied sich für Physik in Leipzig und promovierte erst nach auffallend vielen Boheme-Jahren in Berlin. „Grundrechenarten und Naturgesetze konnte eben selbst die DDR nicht außer Kraft setzen“, sagte sie einmal: „Zwei mal zwei musste auch unter Honecker vier bleiben.“ Selbst interessierte sich Merkel für russische Kultur, Solidarnosc in Polen und war gerne in der FDJ aktiv.
Rasch nach der Wende suchte sich die Physikerin eine politische Gruppierung, die Aufstiegschancen versprach: das „Demokratische Forum“ des Rainer Eppelmann, das eine Allianz mit der CDU einging. Sie machte sich nützlich, wurde Pressesprecherin, später auch beim christdemokratischen DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière. Eine Karriere begann. Frauenministerin, Umweltministerin, Generalsekretärin, Parteichefin, Fraktionschefin. Kanzlerin – das ganz große Besteck.
Früh hatten sich jene Qualitäten gezeigt, die sie später zur Machtpolitikerin erster Güte machten. Zum Beispiel, dass sie eine wichtige Entscheidung unbarmherzig ausführt, wenn sie diese einmal getroffen hat. So verließ sie Knall auf Fall, ohne Debatte, ihren ersten Mann. Später hat sie mit dieser Härte in der CDU Kohl und die Mitglieder des „Anden-Pakts“ neutralisiert: Friedrich Merz, Roland Koch, Günther Oettinger, Christian Wulff.
Als Frau geoutet
Eine andere Qualität ist, männlichen Drang zu Gockeleien präzise analysiert und genutzt zu haben. „Es war ihre große Stärke, dass sie Leute lesen konnte“, sagt einer ihrer Ex-Dozenten. Je stärker sich Merkel als Kanzlerin etablierte, desto besser konnte sie dieses Talent ausspielen – und desto mehr habe sie sich zur Identität als Frau bekannt, so Bollmann: „Fast könnte man von einem Outing sprechen, nachdem sie in der frühen Zeit als CDU-Vorsitzende ihr Frausein fast versteckt hatte.“
Als Nachfolgerin hätte sich Angela Merkel „eine kluge, liberale, pragmatische, unsentimentale Powerfrau“ gewünscht, schreibt Robin Alexander in seinem Buch, „eine wie sie“. Doch Annegret Kramp-Karrenbauer sei an den hohen Ansprüchen gescheitert.
Irgendwann unterstellte die Kanzlerin ihrem einstigen Protegé sogar Gelüste an einer Palastrevolution, im Wissen, dass es ohne Brutalität in der Politik nun mal nicht gehe. Diejenigen, die sich nicht auf eine Schlacht um höchste Ämter vorbereiten, haben sie auch nicht verdient, das sei, so Alexander, Merkels sozialdarwinistisches Polit-Denken: „Ich kann Leute in Positionen bringen, aber laufen müssen sie schon selbst.“ Wie es am Ende doch Armin Laschet zum Kanzlerkandidaten brachte, schildert Alexander mit großem Neuigkeitswert.
Mit Biograf Bollmann ist er sich einig, dass Merkel als Gegenspielerin Donald Trumps in die Geschichte eingehen werde, als „letzte Verteidigerin des freien Westens“. Aber der Preis sei hoch gewesen: „Ihr Körper ist gezeichnet, vor zwei Jahren hatte sie mehrere Zitteranfälle in der Öffentlichkeit. Auch ihre Seele ist strapaziert.“

Robin Alexander: Machtverfall. Merkels Ende und das Drama der deutschen Republik. Ein Report.
Siedler
München 2021
384 Seiten
22 Euro
Im Grunde schildert der Autor die letzten Kanzlerin-Jahre als Zeit einer Getriebenen, die schon 2017 am liebsten Schluss gemacht hätte, dann aber wegen all der Zumutungen durch Trump doch blieb. Und dann kam auch noch die Causa Corona hinzu und die Selbsterkenntnis: „Uns ist das Ding entglitten.“
Alexanders Resümee: „So viel Staat war nie, aber auch nie so viel Staatsversagen.“ Man stritt in Ministerpräsidentenkonferenzen auf Wirtshaus-Niveau, etwa als Markus Söder eine Tirade gegen Finanzminister Olaf Scholz fuhr: „Ich weiß nicht, was Sie getrunken haben. Sie sind hier nicht Kanzler. Sie sind nicht der König von Deutschland oder der Weltenherrscher. Da brauchen Sie gar nicht so schlumpfig herumzugrinsen!“
Merkels letzte Etappe ihrer Amtszeit habe mit einer Audienz im Weißen Haus begonnen, stichelt Alexander, „sie endet in Schlumpfhausen.“ Die Verklärung ihrer Ära wird mit Sicherheit noch folgen.
Mehr: In 90 Minuten um die Welt: Kanzlerkandidaten streiten über Mali, China und Orbán.
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