Buchrezension Soziologe prognostiziert Rückbesinnung auf Nationalstaaten

Für Streeck ein Kunstgebilde der politischen Eliten, das bald zwangsläufig zerfalle.
München Zu den Klassikern gehobener deutscher Debattenkultur gehört die Frage, was in diesen Zeiten überhaupt noch „links“ ist. Im Englischen klingt das Thema gleich noch mal raffinierter: „What’s left?“ Unter diesem Rubrum diskutierte man vor fast 25 Jahren über den Wandel der Sozialdemokratie.
Es standen sich gegenüber: Orthodoxe mit Gerechtigkeits- und Sozialbeglückungsanspruch, der in der Arbeiterbewegung wurzelte, und Modernitätsprediger, die auf eine „Neue Mitte“ sozial bewegter Aufsteiger und einen „dritten Weg“ zielten. Schablonenhaft wird man mit den Figuren Oskar Lafontaine auf der einen sowie Gerhard Schröder und Tony Blair auf der anderen Seite die Protagonisten der Lager gut gefasst haben.
Wer den bekannten Soziologen Wolfgang Streeck liest, wird nicht lange brauchen, um festzustellen, wem da seine Sympathien gehören. Schröders Diktum, es gebe keine rechte oder linke Wirtschaftspolitik, sondern nur eine gute oder schlechte, steht für den einstigen Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln exemplarisch für die Verirrungen der Linken – das sei „globalisierungspragmatische Entpolitisierung der Politik“.
Er macht, quasi nebenbei, eine neue Konfrontation aus: Hier wie ehedem die Traditionalisten, die Deutschland gerechter machen wollen, dort aber die jüngeren, von Klimaschutz und Europa Beseelten, die glaubten, über eine „Good Governance“ in der Welt, über eine politische Steuerung internationaler Beziehungen, große Fortschritte erreichen zu können. Der vom Autor quasi rituell gegeißelte „Neoliberalismus“ könne hier einfach „an ein universalistisch erweitertes Gerechtigkeitsverständnis andocken“.

Wolfgang Streeck: Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus.
Suhrkamp
Berlin 2021
538 Seiten
28 Euro
Streeck lässt wenig Zweifel, dass er diese zweite Gruppe mit all den Bourgeois-Bohémiens („Bobos“), diese – sagen wir – „Purpose“-Gemeinde der Hipster-Kultur, zurückholen will von ihrer Reise zu einem linksgewandten Globalismus. Das ist seine primäre Zielgruppe.
Das Weltbild des Autors bleibt auf Hunderten Buchseiten unerschütterlich. Quell allen Übels ist immer wieder ein antidemokratischer „Neoliberalismus“, der in seinen Todeskämpfen von einem ungezügelten Kapitalismus nicht lassen will und ihn in größeren Einheiten organisiert, eben in einer Weltwirtschaft oder in „Europa“ – für Streeck ein Kunstgebilde der politischen Eliten, das bald zwangsläufig zerfalle zugunsten von Nationalstaaten, in denen das Volk noch etwas zu sagen hat und nicht nur das Kapital von Goldman Sachs und Blackrock.
Im „Kampf gegen den Marktliberalismus“ komme jetzt, schreibt Streeck, „erschwerend hinzu, dass die neoliberalen Globalisierer Verbündete in der grün-linken postindustriellen Mitte der Gesellschaft gewonnen haben, die sich vor dem selbstregulierenden Weltmarkt weniger fürchten als vor dem regulierenden Nationalstaat, der ihnen nach außen tendenziell aggressiv und nach innen tendenziell diktatorisch erscheint“. Das Böse und sein Opfer, so das Narrativ.
Das ist der Sound dieses Werks, das im Grunde ein neues „What’s left?“- Buch ist, eine Selbstverortung, was Karl Marx, Ferdinand Lasalle und August Bebel heute bedeuten. Es gibt hier stets Rot und Schwarz, Demokratie und Neoliberalismus, Willy Brandt und Friedrich August von Hayek, aber irgendwann kommen dann doch Zweifel an den vom Autor fest betonierten Annahmen.
Der Weltmarkt reguliert sich eben auch für „Globalisten“ nicht automatisch selbst, weshalb es beständig Arbeiten am Objekt gibt, an neuen Gesetzen wie einer globalen 15-Prozent-Mindestbesteuerung von Unternehmen zum Beispiel, man nennt es „Politik“.
Und zweitens wird nicht einfach „reguliert“, nur weil es einen „Nationalstaat“ gibt, zumal die Musik in einer Welt der internationalen Arbeitsteilung ohnehin oft ganz woanders spielt. Die mit dem System immer noch verbundenen Wohlfahrtsgewinne – ein breites Sortiment verfügbarer, bezahlbarer Produkte – will man ja wohl nicht abschaffen. Auch „Demokratisierung des Konsums“ ist Demokratie.
Im Grunde will Streeck eine „Schweiz für alle“
Wenn man so will, macht Streeck sozusagen die Grenzen wieder zu. Er möchte zeigen, „dass die Welt, wenn sie überhaupt regiert werden soll, nur unterteilt regiert werden kann“. Je globaler ein Zusammenhang sei, „desto komplexer, Staatlichkeit überfordernder, am Ende unregierbarer“ sei er – und auch „staatsfreier, demokratischen Prozessen entzogener und deshalb undemokratischer“.
Im Grunde will der emeritierte Professor eine „Schweiz für alle“, verkennend, dass es dann eine Schweiz überhaupt nicht gäbe. Das Land lebt ja gut von der europäischen Währungs- und Wirtschaftsunion, die manchmal vergisst, auch eine politische Union zu sein.
Europa sei ein „politisches Passepartout, für alles brauchbar, für nichts ungeeignet“, diagnostiziert Streeck dagegen wenig gnädig. Er wettert gegen das in Brüssel, Berlin und Paris mit Feuereifer über die Köpfe der Leute hinweg betriebene Integrations- und Zentralisierungsprojekt; es sei ein „Überbleibsel aus den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, das sich überlebt hat und immer mehr Schaden anrichtet, wenn man sich seiner nicht bald entledigt“.
Alternative Deutschland? Nein, so einfach ist es nicht, Streeck schwärmt von einem Europa „friedfertiger, nichtimperialer, demokratischer und souveräner Klein- und Mittelstaaten“ und vergisst, dass jeder neue Zoll, jede neue Währung den Frieden reduziert. Vielmehr geradezu Wirtschaftskriege untereinander fördert, anstatt diese mit den Supermächten USA und China zu führen.
Die angebliche, hayekianisch ausgerichtete kapitalistisch-anarchische Weltherrschaft der Globalisten ist in Wirklichkeit längst ein Systemstreit politischer, machtversessener Blöcke. Dagegen Einzelstaaten setzen zu wollen gleicht dem Versuch, das Matterhorn-Gebirge mit Sandalen zu besteigen.
Streeck will den Nationalstaat rehabilitieren
Zweifelsohne versucht das einstige SPD-Mitglied, das später bei der linken Bewegung „Aufstehen“ mitmachte, „zwischen Globalismus und Demokratie“ ein „Grand Design“ der Politik zu entwerfen – den Nationalstaat will er rehabilitieren, im „Patt zwischen ratlosen Regierenden und lustlosen Regierten“. Es handelt sich also um eine ambitionierte Arbeit mit teils brillanten Passagen, immer voller Verve, wie sie Überzeugten so ansteht, oft anregend, immer herausfordernd, und sei es als These für eine Antithese.
Klar, dem Buch fehlen, warum auch immer, Personen- und Sachregister, und es hat auch Redundanzen, die man nicht als Kunst der Wiederholung loben möchte. Und doch: Streeck ist lesenswert, weil er die Spannungsbögen moderner Gesellschaften beschreibt.
Es zeichnet ihn aus, dass er selbst eine gewisse Problematik thematisiert: Sein Buch könnte als Material für jene politische Zangenbewegung von links und rechts gesehen werden, die eine sozialdemokratisierte Mitte bedroht, die dann zweckdienlich als „Altparteiensystem“ gelabelt und zur Entsorgung freigegeben wird.
Durchaus faszinierend, wie sich Streeck eine ehrenwerte Galerie von respektablen Kronzeugen für sein Opus magnum gegen die „neoliberale Hegemonie“ und „Entgrenzung der Wirtschaft“ zusammenstellt: den Ökonomen John Maynard Keynes, den österreichischen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi, den Computerexperten Herbert Simon sowie den Historiker Edward Gibbon, der über den Untergang des Römischen Reichs forschte.
Natürlich lassen sich noch viele Kritikpunkte gegen Streecks Demokratiefibel anführen. Wie „neoliberal“ ist zum Beispiel die Bundesrepublik mit ihren immer höheren Sozialausgaben und einer in der Wirtschaft etablierten Mitbestimmung, sehr zum Kummer mancher „Kapitalisten“?
Sollten die USA, Indien oder China irgendwie geteilt werden?
Der naheliegendste Einwand ist natürlich der einer idealisierten „Kleinstaaterei“, wie Jürgen Habermas es nennt, das Ausloben vieler dezentraler Entscheidungszentren, was zum neofeudalen Chaos wie im 19. Jahrhundert vor Friedrich List und dem Deutschen Zollverein führen könnte. Im Gegenzug dekretiert Streeck, „Großstaaterei“ sei weder „als marktwirtschaftliches noch als technokratisches und schon gar nicht als demokratisches, sondern allein als kapitalistisches Projekt verfolgbar“.
Sein Ideal des allenfalls mittelgroßen „Nationalstaats“ ist zu hinterfragen. Sollten dann die USA, Indien oder China irgendwie geteilt werden? Und wenn Größe nicht einfach von einem Professor abzuschaffen ist, wie sollte dann mit ihr umgegangen werden? Und wer, bitte schön, schafft jene „internationale Friedensordnung“, in die die wunderbaren Nationalstaaten einzufügen seien?
Schließlich: Wie das skizzierte konföderale Staatensystem Europas, das die Einzelstaaten umgibt und etwa die Verteidigung organisiert, im Detail aussehen soll, bleibt ebenfalls unbestimmt. Wir können es nur ahnen. Wir hören nur von ganz neuer Selbstbestimmung nach einem Fall der Europäischen Union, von der Utopie Marke „Auferstanden aus den Ruinen“. Aber am Ende ermüdet auch das ewige, wenig differenzierte Kartätschen des „Neoliberalismus“, man vermisst Differenzierungen zum deutschen „Ordoliberalismus“ als Überbau der Sozialen Marktwirtschaft.
Für Streecks Agenda erweist es sich als misslich, dass nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die größten Probleme global sind. Sie verschwänden nicht einfach, wenn wir uns alle „schweizerisieren“. Wie will man Klimakatastrophe, Migration, Terrorismus oder Pandemien bekämpfen, wenn nicht durch supranationale Beschlüsse und Institutionen?
Die Effizienz von Streecks „nichtimperialer Staatenordnung“ darf bezweifelt werden
Natürlich, an das Klimaschutzabkommen von Paris 2015 hat sich kaum einer gehalten, aber wer etwas erreichen will, kann diese Abmachung einfordern. Es darf bezweifelt werden, dass Streecks ausgelobte „nichtimperiale Staatenordnung“ hier effizienter wäre: Souveräne Nachbarstaaten sollen, so seine Vision, „genossenschaftlich, das heißt freiwillig und gleichberechtigt zusammenarbeiten“. Liefe es dumm, hätten wir auf diese Weise nicht die schöne Schweiz, sondern das illiberale Ungarn vervielfältigt.
Am bedenklichsten in Streecks Buch ist die Dämonisierung der Märkte. Sie sind bei ihm nicht – wenn sie intelligent und Kartell-widerstandsfähig organisiert sind – Treffpunkte der Freiheit, die dafür sorgen, dass Ansprüche von Menschen befriedigt werden.
Sie sind Teil und Werkzeug kapitalistischer Übermacht. Dass Kohlekraftwerke nun verschwinden, weil der Finanzkapitalismus aus grundsätzlichen Überlegungen nicht mehr in sie investiert, passt nicht ins Bild eines angeblich unreformierbaren Systems.
Was also ist heute „links“? Streeck-Gegner Schröder würde wie ehedem sagen, dass mit einer Politik, die die Linkspartei noch links zu überholen versuche, kein Blumenstrauß zu gewinnen sei, und dann seine Standardweisheit platzieren: „Die SPD war immer dann erfolgreich, wenn sie nicht nur soziale, sondern auch wirtschaftliche Kompetenz hatte.“
Mehr: Die etwas andere Politik – Buchempfehlungen zum Wahlkampf.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.
Auch wieder so ein erklärter AFD ler.
Ein alter Mann halt!