Buchrezension US-Autorin Eula Biss reflektiert über die Widersprüche des Kapitalismus

Die Erfinderin des Brettspiel-Klassikers verdiente lediglich 500 Dollar an ihrer Idee – ein Sinnbild für die Widersprüche des Kapitalismus.
München Der Kapitalismus ist derzeit kein Publikumsliebling. Unerfreuliche Begleitumstände haben seinem Ruf geschadet: die Finanzkrise 2008, Skandale wie „Dieselgate“, die Kluft zwischen Arm und Reich, die Klimakatastrophe. Er ist immer irgendwie schuld an allem.
Vor allem bei Jüngeren, die nach 1980 geboren sind, erscheint das „System“ als eher bedrohliches Mysterium, dem nur in einer behaglich-harmonischen Hygge-Eigenwelt zu entkommen ist. Kapitalismus? Nein danke! Give peace a chance, am besten in meinem Garten.
Die US-amerikanische Autorin Eula Biss, 44 Jahre alt, setzt in diese Konfliktzone ein Buch, das doppelstrategisch halb auf das populäre Genre der Selbsterkundung, ja „Selbstentblößung“ setzt, wie sie selbst meint, halb auf Fremdrecherche zum Thema Geld, Arbeit und Status.
Sie schwört sich, immer offen über das Tabuthema Geld zu reden, und hält so akribisch wie autobiografisch im Tagebuch fest, was der Kapitalismus mit ihr, Ehemann John und Sohn David im Alltag so macht. Sie fragt jeden, der kompetent erscheint, nach diesem unbekannten Wesen namens Kapitalismus aus und arbeitet sich durch einschlägige Wälzer zum Thema. Sie pflegt planvoll das Bewusstsein für den eigenen blinden Fleck.
Die vielfach preisgekrönte Schriftstellerin, die etwa in „Notes from No Man‘s Land“ über Rassismus schrieb und zuletzt übers Impfen publiziert hat, legt hier eine eindrucksvolle Kette von Essays vor, die um Konsum im englischen Sinne von „consumption“ kreisen – um einen Verzehr, auch Schwindsucht also –, die statt Glück Fragen hinterlassen.

Eula Biss: Was wir haben. Über Besitz, Kapitalismus und den Wert der Dinge.
Hanser
München 2021
320 Seiten
24 Euro
„Having and Being Had“ heißt das Werk im Original, das plakativ Doppeldeutigkeit vermittelt: „Haben und gehabt werden“. Man liebt und leidet mit käuflicher Materie. Man steckt viel Zeit in Arbeit, um Dinge und ein Leben zu ermöglichen, das wiederum Zeit für Müßiggang und Reflexion zurückschenken soll – ein permanenter Tausch von schlechter gegen gute Zeit. Nennt sich Leben.
Hier wird jemand zur System-Erforscherin, die in einem armen Viertel von Chicago aufwuchs, die sich jahrelang als Künstlerin durchwurstelte, die in New York von Aushilfsjobs und 10.000 Dollar im Jahr lebte und die sich dann nach Bucherfolgen und einer Karriere als Universitätsprofessorin etwas Besseres leisten kann: einen Ziegelbungalow für 500.000 Dollar. Er liegt in einem gentrifizierten Stadtteil, in dem Schwarze ausziehen müssen, weil Weiße kommen.
Das Prekäre früherer Jahre verschwindet bei 125.000 Dollar Haushaltseinkommen im Traumland „Suburbia“ mit seiner „Illusion der Dauerhaftigkeit“. Der Hauskauf ist nun mal kapitalistischer Initiationsritus der Mittelschicht.
Es geht aber auch um Distinktion, das eigentliche Versprechen des Kapitalismus, aus der die „Gesellschaften der Singularitäten“ des Soziologen Andreas Reckwitz folgen. Eine davon wären zu Geld gekommene Künstlernaturen, die in Bungalows leben und über Wohlstand klagen.
Es gibt eben keine Klassen mehr, nur Hunderte Klassen, weiß auch Eula Biss. Und von denen häuft jede ihre eigenen Möglichkeiten zu Bildung und Fertigkeiten an, Strategie: „opportunity hoarding“. Schwarze Kinder und die Kinder Indigener fallen in diesem nicht ganz ungefährlichen Spiel öfter durch als Nachwuchs mit asiatischer Herkunft und weiße Kinder.
Als seien Verbraucher keine Menschen
Nun zählt für die Hausbesitzerin die Suche nach dem richtigen Weiß der Wandfarbe, ein Problem, das im System auswahlreich gelöst wird, von „Prudence White“ bis „Etiquette“. Von zu kaufenden Möbeln ist nur der von Amish People gefertigte Esstisch wirklich brauchbar, der Ikea-Tisch schwächelt, auch wenn der Konzern wirbt: „Für Menschen, nicht für Verbraucher“, ganz so, als seien Verbraucher keine Menschen.
Als die Heldin dieser Essay-Sammlung einmal in einem öffentlichen Waschsalon waschen muss, teilt sie ihr Erwachsenenleben in zwei Phasen auf: „die Zeit, in der ich keine Waschmaschine besaß, und die Zeit danach“. Zielgenau zitiert sie die Anthropologin Elizabeth Chin über Menschen, die so entfremdet seien, „dass sie zu Gegenständen reduziert werden, während die Dinge, die sie herstellen und kaufen, sich das Lebendige angeeignet haben, das den Menschen selbst abhandengekommen ist“.
In diesem Mittelschichtmilieu ist der Erhalt des Erreichten das Beste, was zu schaffen ist. Instandhaltung ist die Steuer, die auf dieses Leben zu entrichten ist. Eula Biss kann nun eine polnische Putzfrau und einen Eislauftrainer für den Sohnemann bezahlen, auch wenn sie sich dabei nicht wohlfühlt. Solcher Kauf von Dienstleistungen gehört ja zur „weißen Privilegiertheit“, die sie eigentlich ablehnt. Für Menschen aus ihrer Schicht sei „sich etwas leisten können“ meistens gleichbedeutend „mit einer Zurschaustellung meiner Werte, nicht meiner finanziellen Möglichkeiten“, schreibt Biss.
Sie macht die Widersprüche unseres Lebens deutlich. Das ist ihr Thema. Das System ist voll davon. Das ist wie bei „Monopoly“, das als „The Landlord’s Game“ (Das Vermieterspiel) von der Stenotypistin Elizabeth Magie erfunden wurde, die ihre Patente dann aber für 500 Dollar verkaufte. Von den „Monopoly“-Tantiemen, die später flossen, sah sie nichts.
Es ist wie mit der Kudzu-Pflanze
Mit wunderbarer Ironie und Lakonie beschreibt Biss, gewissermaßen auftragsgemäß, wie sie immer stärker in den Sog des Kapitalismus gerät. Das Ganze begann schon vor einigen Jahren, als sie 45.000 Dollar Starthilfe von der Stiftung der Familie Guggenheim bekam, die ihr Vermögen mit Rohstoffminen in ärmeren Ländern gemacht hatte.
Im neuen Leben ist das mit Hypotheken belegte Haus erst mal eine geheiligte Investition: „Jetzt leben wir in unserem Geld.“ Und die wird mit Erträgen aus Investmentfonds gefüttert, in die ein Teil ihres Lehrergehalts fließt. Darum kümmert sich die Teachers Insurance and Annuity Association, der weltgrößte landwirtschaftliche Investor.
Von ethischer Geldanlage ist nicht die Rede. Biss: „Ich bezahle Zinsen für einen Kredit, mit dem ich in einem Haus leben kann, das selbst eine Investition ist, während ich mein überschüssiges Einkommen in Aktien investiere, um Geld für die Zukunft zu erzeugen.“
An dieser Stelle fragt man sich dann doch kurz, warum das alles so sein muss – außer vielleicht von der verlegerischen Idee her betrachtet, der modischen Kritik an der strukturellen Amoralität des Kapitalismus eine persönliche, literarische, funkelnde Essay-Kollektion hinzuzufügen. Die hier so fulminant auftretende Autorin hat in Wirklichkeit ja die Freiheit, mit ihrem Geld ganz anderes anzufangen, sei es der Aufbau einer Landkommune oder die Geldanlage in Sonnenenergie. Macht sie aber nicht.
Sondern schwärmt aus sicherer Distanz von der „Ökonomie des Schenkens“ und den Versuchen alternativen Wirtschaftens in den USA: von Indianerstämmen, die auf Festen Dinge verbrannten, nach dem Motto: „Reichtum töten“. Oder den englischen „Diggers“ des 17. Jahrhunderts, für die Grund und Boden Allgemeingut war und die mit dieser radikalen Idee nach der Einwanderung in Nordamerika aber scheiterten.
Zu den Lieblingen in der etwas lang geratenen Reihe zitierter Kapitalismus-Kritiker gehört John Kenneth Galbraith: Der Ökonom hielt in „Gesellschaft im Überfluss“ fest, dass Armut in den USA keine Anomalie sei, weitverbreiteter Wohlstand dagegen schon. Und schrieb: „Reich zu sein hat seine Vorteile, man hat zwar oft genug versucht, das Gegenteil zu beweisen, doch das ist nie recht gelungen.“
Das sehen in New York aktuell viele Reiche anders. Sie fühlen sich mit ihren Dollar unwohl, weil auch sie die vier Millionen für ihre Eigentumswohnung als Exzess ansehen. Statt Luxus demonstriert man daher Sparsamkeit.
Gegen Ende des Buchs, zum 40. Geburtstag, gräbt die Kapitalismus-Erleidende ein zwei Meter breites Loch in ihrem Garten, wo sich die Kudzu-Pflanze immerzu ausbreitet wie das Geld in der Welt und sich doch nicht wegjäten lässt. Es handelt sich um ein „ruheloses Grab“ für einen Baum. Die harte Arbeit ist jetzt ehrlicher Genuss. Und Biss denkt: „Ich werde ein Buch verkaufen – dieses Buch –, um mir Zeit zu kaufen. Meine Zeit, die ich bereits für das Schreiben verwende, wird sich selbst finanzieren.“
Könnte klappen. Kapitalismus lebt, insbesondere, wenn man ihn so richtig schön kritisiert.
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