Buchrezension Wie sich 80 „Vorausdenker*innen“ Deutschlands Zukunft vorstellen

Beiträge zum Thema Gesundheit nehmen in „Zukunftsrepublik“ breiten Raum ein. Anscheinend hat hier die Corona-Pandemie zum Vorausdenken animiert.
Düsseldorf Wer denkt nicht ständig an sie: die Zukunft. Im Moment mehr denn je. Wie wird es mir und meinen Lieben, meinem Unternehmen und der Gesellschaft gehen? Wie wird mein Unternehmen die Krise, den Lockdown überstehen? Werden wir die Herausforderungen, die Schicksalsschläge bestehen? Wie können wir uns auf die Zukunft vorbereiten?
Diese Zukunftsungewissheit hat sechs junge Unternehmer zusammengeführt und veranlasst, ein Buch herauszugeben, in dem sie selbst sowie 74 weitere überwiegend junge Persönlichkeiten ihre Zukunftsvisionen skizzieren.
Zu den Herausgebern zählen: Marie-Christine Ostermann, Geschäftsführerin des Lebensmittelgroßhändlers Rullko, Celine Flores Willers, Gründerin und Chefin der Beratung The People Branding Company, Miriam Wohlfarth, Gründerin und Geschäftsführerin des Fintechs Ratepay, Daniel Krauss, Mitbegründer und -geschäftsführer von Flixbus, Andreas Rickert, Gründer und Vorstandsvorsitzender der gemeinnützigen Beratungs- und Analysegesellschaft Phineo, sowie Hauke Schwiezer, Geschäftsführer der Bildungsplattform Startup Teens.
„Der Auslöser für das Buch war der erste Lockdown der Corona-Pandemie im März 2020. Er hat uns als junge in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft engagierte Menschen hart getroffen“, berichtet Mitherausgeberin Marie-Christine Ostermann im Gespräch mit dem Handelsblatt. Weiter sagt sie: „Wir setzen uns ja schon seit Jahren im Rahmen der Plattform Startup-Teens für die Förderung des unternehmerischen Denkens und Handelns in Deutschland ein. In Zeiten wie diesen, in denen das ganze Land aufgrund des Coronavirus heruntergefahren wird, scheint das wichtiger und dringlicher denn je. Dieses Buch soll deshalb auch ein Weckruf sein. Wir möchten mit unseren Zukunftsvisionen einen Beitrag dazu leisten, aus dieser Stillstandsrepublik eine Zukunftsrepublik zu machen.“
Und tatsächlich: Herausgekommen ist ein Buch mit mehr als 350 Seiten, das nicht nur so kurzweilig zu lesen ist, wie es der Klappentext verspricht: „Dieses Buch ist ein Feuerwerk an Visionen, persönlichen Einschätzungen und Wegweisern für das kommende Jahrzehnt.“ Das Buch, das im Campus Verlag am 10. Februar erscheint, ist noch viel mehr. Es ist auch eine Art Kompendium jungen Unternehmertums in Deutschland. Es zeigt, dass Helmut Schmidts berühmter Satz „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!“ nicht immer stimmt.

M. Ostermann, C. Flores Willers, M. Wohlfarth, D. Krauss, A. Rickert, H. Schwiezer (Hg.): Zukunftsrepublik. 80 Vorausdenker*innen springen in das Jahr 2030.
Campus
Frankfurt 2021
349 Seiten
24,95 Euro
Das Buch erscheint am 10. Februar.
In ihm schreiben neben den sechs Herausgebern weitere Gründer und Jungunternehmer wie Anna Yona (Wilding Shoes) und Laura Tönnies (Corrux), Nachfolger in Familienunternehmen wie Raoul Roßmann, Sarna Röser und Fabian Kienbaum, Investoren wie Christian Miele und Frank Thelen, gestandene Unternehmer wie Natalie Mekelburger, Patrick Adenauer und Florian Langenscheidt sowie Managerinnen wie Jenny Friese (Apotheker- und Ärztebank). Sie werden flankiert von Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft wie Anna Herrhausen (Deutsche Bank), Ute Elisabeth Weiland (Land der Ideen), Johannes Vogel (FDP), Thomas Jarzombek (CDU) und Eckhard von Hirschhausen (Beststellerautor).
Die Stärke des Werks liegt in seiner Vielfältigkeit und Unaufgeregtheit. Die 80 „Vorausdenker*innen“, wie sie sich selbst nennen, springen gedanklich in das Jahr 2030 und beschreiben, wie es dann zugehen könnte in Deutschland. Und dieses „könnte“ ist ein positiv gedachtes „sollte“. Die schon sprichwörtlich gewordene „German Angst“ kommt in keinem der Beiträge vor. Es wird vorausgedacht, nicht unkritisch, aber optimistisch. Die Beiträge sind kurz. Keiner braucht mehr als fünf Seiten.
Jeder für sich und doch auch alle zusammen entwickeln die 80 Autoren ihre Zukunftsvisionen. Einige bleiben dabei eng in ihrem beruflichen Umfeld oder Wirkungskreis. So beschreibt die Bankerin Jenny Friese die bargeldlose Zukunft, die Sprecherin des Vorstands der Siemens-Stiftung Nina Smidt das hybride Klassenzimmer und Hauke Schwiezer von der Initiative Startup-Teens das „innovativste Land der Welt“ mit einer „Universität Neuschwanstein“.
Andere Autoren widmen sich bewusst grundsätzlicheren Themen. Flixbus-Mitgründer und -CTO Daniel Krauss schreibt etwa darüber, dass die Gleichstellungsdebatte im Jahr 2030 hoffentlich „Schnee von gestern“ ist und gleichberechtigt gearbeitet wird.
Johanna Strunz, geschäftsführende Gesellschafterin des Leuchtenherstellers Lamilux, wünscht sich ein „Europa der Clubs“, das „handlungsfähig, agil und stark“ ist. Und Mutter (Sonja, 49) und Tochter (Laetitia, 18) Stuchtey liefern mit ihrem Beitrag „Die Vereinten Regionen Europa“ ein schönes Beispiel erzählter Fiktion: Eine junge Frau namens Nicky sinniert im Jahr 2030 in einem Café in Berlin über den erfolgreichen Wandel der vergangenen zehn Jahre: „Wer hätte das gedacht? Wer hätte gedacht, dass ein so festgefahrener Zug durch einen Stoß das Gleis wechseln würde?“ Der Stoß, das war die Coronakrise.
Einige Zukunftsvisionen bleiben leider allgemein bis abgehoben und erinnern an Wünsch-dir-was. Andere Beiträge wie die von Raoul Rossmann (35) sind sehr konkret. Der Sohn und designierte Nachfolger des Drogeriegründers Dirk Rossmann (74) beschreibt, wie im Jahr 2026 die Onlineplattformen Amazon, Google und Facebook zerschlagen werden. Die Folge: „Die geknackten Monopole beflügeln Innovationen und den stationären Handel.“ Und weiter heißt es in Rossmanns Zukunftsvision: „Die neuen Ansätze im Handel kombinieren neueste Technologien mit Menschen vor Ort.“
Breiten Raum nehmen Beiträge zum Thema Gesundheit ein. Anscheinend hat hier die Corona-Pandemie zum Vorausdenken animiert. Der Mediziner und Unternehmer Christian Tidona beschreibt, wie sich der Selbstverwaltungsapparat der Gesundheitsbranche auf eine einzige gesetzliche Krankenkasse verschlankt. Die Gründerin und Geschäftsführerin des Start-ups Inveox, Maria Sievert, zeigt auf, wie Technologie zum wesentlichen Baustein einer modernen, präventiven Gesundheitsversorgung werden kann.
Und der Mediziner und Bestsellerautor Eckhard von Hirschhausen wunschträumt einfach mal drauf los: „2030 sind Menschen gesünder als 2020, weil sie saubere Luft atmen, wenig Fleisch essen und damit auch weniger Übergewicht, Herzinfarkte und Schlaganfälle erleiden. Und vor allem sind die seelischen Erkrankungen zurückgegangen, weil sich die Menschen ihr Leben nach übergeordnetem Sinn und Gemeinwohl ausrichten statt nach kurzfristigem Profit und Eigennutz.“
Einen grundlegenden Zukunftsentwurf für Deutschland und Europa liefert der frühere US-Botschafter in Deutschland, John Kornblum. Er analysiert: „Über Jahrzehnte wurden bei Deutschlands und Europas junger Generation Zukunftsängste und Ungewissheit genährt. Keine Experimente. Keine Risikobereitschaft. Deutschland und Europa haben den Punkt erreicht, an dem sich der Frieden der Nachkriegszeit und das Narrativ der Stabilität als kontraproduktiv erwiesen haben.“
Der 77-Jährige empfiehlt: „Europa braucht eine gänzlich andere Roadmap in Richtung Zukunft, und zwar im gesellschaftlichen, aber auch im intellektuellen Bereich.“ Und weiter: „Ein neues Narrativ könnte auf einer Kombination des Wirtschaftsbegriffs „Wert“ oder „Wertschöpfung“ und dem sozialen und politischen Konzept von Werten basieren.“ Sein Wunsch: „Die Europäer entwickeln in der Nach-Trump-Ära gemeinsam mit den Amerikanern ein neues Narrativ.“ Vorbilder wären die Mondlandung der Apollo oder der Mauerfall von Berlin.
Wir möchten mit unseren Zukunftsvisionen einen Beitrag dazu leisten, aus dieser Stillstandsrepublik eine Zukunftsrepublik zu machen. Marie-Christine Ostermann (Rullko-Geschäftsführerin)
Absolut lesenswert ist auch der Beitrag von Florian Langenscheidt – auch wenn er bisweilen wie eine Zitatesammlung berühmter Persönlichkeiten von Immanuel Kant bis Winston Churchill daherkommt. Der Beitrag bildet zwar nicht den Abschluss des Buchs, sondern versteckt sich – streng dem alphabetischen Prinzip folgend – in der Mitte des Bandes, der Beitrag kann jedoch als eine Art grundlegender Schlusspunkt verstanden werden.
Langenscheidt formuliert einen „Appell“ für Optimismus. Er schreibt: „Und da wir nicht wissen, was auf uns zukommt (und die Krisen kommen immer schneller), ist Zuversicht am bedeutsamsten. Zuversicht hinsichtlich unserer Fähigkeit zu Anpassung und Überleben, unserer Kreativität, unserer Resilienz und unserer Fähigkeit zu Empathie, gegenseitiger Akzeptanz und Unterstützung, Factfulness und Liebe.“
Und weiter schreibt der 65-jährige Verleger, Bestsellerautor und Wagniskapitalgeber: „Und so wichtig klassische Energiepolitik auch ist, die wichtigste erneuerbare Energie für unser Land ist Optimismus. Als Grundhaltung der Welt gegenüber.“ Langenscheidt schließt mit: „,Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.‘ Martin Luthers berühmter Satz umreißt diese Einstellung auf das Schönste.“
Und so soll es bei der „Zukunftsrepublik“ auch nicht bei einem reinen Buchprojekt bleiben, das einmal veröffentlicht bald Staub ansetzt. „Wir möchten, dass aus der Zukunftsrepublik eine Bewegung wird. Wir werden das Buch digital verlängern. Wir haben uns dazu die Domain Zukunftsrepublik.de gesichert. Alle, die sich berufen fühlen, können dort auch Beiträge veröffentlichen und so die Debatte digital fortführen“, sagt Mitherausgeber und Flixbus-CTO Daniel Krauss. Deutschland dürfe nicht den Anschluss verlieren. Die Zukunft müsse jetzt entwickelt werden.
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