Buchrezension Zwei ehemalige Verfassungsrichter erörtern das Wesen der Freiheit

Während der Pandemie ist die Freiheit unter Druck geraten.
Berlin Maskenpflicht, Ausgangssperren, Schul-, Geschäfts- und Grenzschließungen – in der Pandemie erließ die Politik Freiheitsbeschränkungen, die zuvor kaum jemand für möglich gehalten hätte. Die Folge: eine beispiellose Klageflut. Nicht nur Wutbürger oder „Querdenker“ zogen vor Gericht. Viele Bürger sahen und sehen sich durch die Coronaauflagen in ihren Grundrechten zu stark eingeschränkt.
Da lässt es aufhorchen, wenn sich gleich zwei ehemalige Verfassungshüter zu Wort melden. Hans-Jürgen Papier, von 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts, und Udo Di Fabio, von 1999 bis 2011 Richter am Bundesverfassungsgericht.
Papier sieht die „Freiheit in Gefahr“, so der Titel seines neuen Buches. Er erkennt im Klimawandel und in wirtschaftlichen Verteilungskämpfen, internationalem Terrorismus oder Pandemien neue Herausforderungen, die ein „bisweilen unbeweglich gewordenes Gemeinwesen unter einen gewaltigen und ungewohnten Anpassungsdruck“ setzen.
Sein Rezept: seit der Aufklärung erkämpfte Freiheiten nicht leichtfertig verspielen, sich die Wesensmerkmale des freiheitlichen Verfassungsstaates deutlicher vor Augen führen und sich darauf konzentrieren, das System wieder „funktionsfähiger“ zu machen.
Di Fabio nennt sein Buch zwar „Coronabilanz“. Gleichwohl ist die Pandemie für ihn nur der Ausgangspunkt, um herauszustellen, dass es die westlichen Gesellschaften generell „mit einer Erschütterung ihres Selbstbildes und ihres Selbstverständnisses“ zu tun haben. Durch Corona meint Di Fabio nun allerdings wieder ein Denken in nationalen Machtkategorien ausmachen zu können: „Der Staat wird stark durch die Krise, er ist zurück auf einer Bühne, die ihn bereits von der Besetzungsliste der Zukunft genommen hatte.“

Hans-Jürgen Papier: Freiheit in Gefahr: Warum unsere Freiheitsrechte bedroht sind und wie wir sie schützen können.
Heyne
München 2021
288 Seiten
22 Euro
Auch die EU mache einen neuen Selbstbehauptungsanspruch geltend. Das könne eine „Blaupause für die Zukunft“ werden, etwa mit Blick auf die Transformation der Wirtschaft auf dem Weg zur Klimaneutralität oder ganz allgemein auf Ideen wie Nachhaltigkeit, Diversität und Gerechtigkeit.
Anstoß für beide Schriften ist jedoch zunächst die Coronakrise. Bei Papier findet der Leser den leichteren Einstieg. Deutschlands oberster Richter a. D. wählt das Format des „populären Sachbuchs“, wie er es selbst nennt. Papier analysiert, wie das Virus die Grundrechte aushebelt. „Szenen einer Politik im Krisenmodus“ nennt der Jurist die Anfangszeit ab dem März 2020, in der „live beobachtet werden konnte, wie die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen zwischen Experten und Entscheidungsträgern diskutiert und abgewogen wurde“.
Dabei war nach Papiers Wahrnehmung aber nicht immer klar, ob alle Einlassungen „strikt zur Sache“ gemeint waren oder ob es – wie im Falle der Landesväter Laschet und Söder – nicht eher um die Profilierung der eigenen „Politiker-Persona“ ging. So etwas dürfe nicht sein.
Der Staat habe fundamentale Grundrechte weitgehend außer Kraft gesetzt, erklärt der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident und präsentiert eine lange Liste der Einschränkungen: allgemeine Handlungsfreiheit und klassische Bewegungsfreiheit, Religionsfreiheit, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, Kunstfreiheit, Freiheit von Forschung und Lehre, Berufs- und Eigentumsfreiheit.
Das sei zwar grundsätzlich erlaubt, etwa aufgrund von Gefahr für Leib und Leben, aber stets zu rechtfertigen und zu überprüfen. Andernfalls werde „das ganze System von Freiheitlichkeit suspendiert“.
Keine Lektüre für Wutbürger
Die Verhältnismäßigkeit sieht der 78-jährige Staatsrechtler nicht immer als gegeben und erinnert an das Beherbergungsverbot, die Einführung der Sperrstunde, Hotspotregelungen, die 180-Quadratmeter-Regel für den Handel oder die schließlich gekippte Osterruhe. Hier hätten belastbare Beweise gefehlt, dass die Maßnahmen faktisch halfen, das Infektionsgeschehen einzudämmen. Solch irrationalen, „kopflosen“ oder widersprüchlichen Entscheidungen zerstören das Staatsvertrauen und sind „Gift für die rechtsstaatliche Demokratie“, rügt Papier.
Dass der Staat Grundrechte einkassiert, um die Gesellschaft einer Welt im Wandel anzupassen, kann kaum eine befriedigende Lösung anstehender Probleme sein. Hans-Jürgen Papier, Verfassungsrichter a. D.
Alles in allem bilanziert er aber einen angemessenen Ausgleich des Staates zwischen den Freiheitsinteressen seiner Bürger und der Verpflichtung, auf Dauer die Sicherheit der Allgemeinheit zu gewährleisten: „Trotz aller aufeinanderfolgender Phasen von Lockdowns und Lockerungen sind wir aber noch relativ frei, können wir uns doch weiterhin auf unsere Grund- und Freiheitsrechte berufen.“ Im achten Jahrzehnt seines Bestehens gebe das Grundgesetz noch immer einen verlässlichen Rahmen ab.
Di Fabio, bei Amtsantritt damals jüngster Richter am Bundesverfassungsgericht, killt gleich in seinem Vorwort jeden Leseanreiz für eindimensionale Rezipienten: „Dieses Buch ist keine Abrechnung mit der Coronapolitik. Es ist keine Lektüre für Wutbürger.“
Die Pandemie habe die westlichen Demokratien getestet und diese hätten diesen Test „im Wesentlichen“ bestanden, befindet Di Fabio. Die autokratischen, populistischen Systeme und auch die Diktaturen hätten unter dem Strich keine besseren Ergebnisse gebracht, in einigen Fällen wie in Brasilien hätten sie „willkürlich Tod und Krankheit in Kauf genommen“, ohne dass klar wäre, ob sie deshalb wirtschaftlich oder sozial besser dastünden.
„Der demokratische Rechtsstaat und auch die Marktwirtschaft haben sich als handlungsfähig erwiesen“, schreibt Di Fabio. Die Werteordnung der Grundrechte, das humane Paradigma habe sich behauptet: „Es war richtig, die Gefahr einer medizinischen Versorgungskatastrophe und den Schutz vulnerabler Gruppen zum Handlungsmaßstab bei der Begrenzung des Infektionsgeschehens zu machen.“

Udo di Fabio: Corona-Bilanz. Lehrstunde der Demokratie.
C.H. Beck
München 2021
250 Seiten
24,95 Euro
Für den Leser ist das Fachbuch keine leichte Kost. Der 67-jährige Rechtswissenschaftler, der in jungen Jahren auch in Soziologie promovierte, bezieht sich auf die „Funktionssysteme“ Wissenschaft, Wirtschaft, Politik oder Recht, in denen „bestimmte Zwecke dominieren und Handlungen an diesen Zwecken als rational gemessen werden können.“ Das Rechtssystem, mit den Gerichten in der Mitte, frage „nach Rechtmäßigkeit (oder natürlich binär immer mitgedacht: nach Rechtswidrigkeit) und sonst nach nichts“.
Hier blitzt durch, dass Niklas Luhmann mit seiner Systemtheorie einst der Doktorvater von Di Fabio war. Wer sich auf den Überbau einlässt, erhält spannende Einsichten. Etwa, wenn Di Fabio beschreibt, was geschieht, wenn das System Politik auf das System Wissenschaft prallt.
Über lange Etappen der Pandemie, so Di Fabio, hätten Regierungen gewirkt, als hingen sie „am Gängelband“ einiger tonangebenden Virologen. Dabei sei es naiv zu glauben, es gebe repräsentativen Rat für ein komplexes Sachthema.
Umgekehrt hätten Wissenschaftler häufig keine rechte Vorstellung, welche Mittel der Politik auf ihrer jeweiligen Kompetenzebene zur Verfügung stünden und wie man das Verhalten von Gerichten bei der zügigen Durchsetzung einer Maßnahme kalkulieren müsse.
Wer eine Fundgrube zur Freiheit sucht, der wird bei Papier fündig. Am Ende steht ein Plädoyer für eine Stärkung von Bürgerengagement und Selbstbestimmung anstelle einer „nahezu alle Lebensbereiche erfassenden staatlichen Verantwortung“, die nur zur „Infantilisierung der Gesellschaft“ beiträgt.
Wer den Bogen von der Corona- hin zur Klimakrise mit Zwischenstopp bei einer expansiven Geldpolitik schlagen will, der greife zu Di Fabio. Er sieht die Welt auf eine Art „ökologische Planwirtschaft“ zusteuern, in der der europäisch und international eingebundene Staat immer mehr zu einer „Bewirtschaftungseinheit“ der überstaatlich vereinbarten oder gerichtlich vorgegebenen Planziele wird. Der Gestaltungsspielraum schrumpfe dadurch, woran auch die Wähler mit ihren Stimmzetteln kaum noch etwas ändern könnten.
Teils gegensätzliche Auffassungen
Beide, Hans-Jürgen Papier, Sohn eines Berliner Bäckermeisters, und Udo Di Fabio, Sohn eines Duisburger Bergmanns, haben nach ihrer Amtszeit am Bundesverfassungsgericht mit Einlassungen die öffentliche Debatte mitgeprägt.
In der Flüchtlingspolitik warf Papier der Kanzlerin mit Blick auf die Grenzöffnung „Rechtsbruch“ vor. Di Fabio verfasste ein Gutachten für den damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Seehofer und erklärte darin Grenzschließungen und eine Begrenzung der Flüchtlingsaufnahme für zulässig, sobald die staatliche Handlungsfähigkeit und Ordnung gefährdet sei.
In ihren neuen Büchern kommen sie nun zu teils gegensätzlichen Auffassungen. Beispiel: die Rolle des Parlaments. Papier konstatiert „mit großer Besorgnis“ ein „Verstummen“ der Parlamente in der Coronakrise.
Bei der politischen Entscheidungsfindung würden die Verfahrensweisen nicht mehr eingehalten: „Wenn es um derart gravierende Maßnahmen wie das Herunterfahren des gesamten gesellschaftlichen Lebens geht, kann die Willensbildung sicherlich nicht über längere Zeit allein zwischen den Regierungen von Bund und Ländern abgesprochen werden, ohne dass die dafür nötige parlamentarische Legitimation eingeholt wird.“
Angesichts der Länge der Krise findet es Papier auch fragwürdig, von einer „Stunde“ der Exekutive zu sprechen. Er sieht grundsätzlich ein „Hochzonen“ von Verantwortlichkeiten, um den Preis, dass sich die Gesetzgebung weiter von den Bürgern entferne.
Der Staat wird stark durch die Krise, er ist zurück auf einer Bühne, die ihn bereits von der Besetzungsliste der Zukunft genommen hatte. Udo di Fabio, Verfassungsrichter a. D.
Anders Di Fabio. Er warnt davor, die Pandemie als „epochale Zäsur oder als Erschütterung“ des Systems der parlamentarischen Demokratie zu überzeichnen. Nüchtern bilanziert er zwar einen parlamentarischen Bedeutungsverlust.
Dieser entstehe jedoch, weil die meisten Gesetze ohnehin auf eine Initiative der Bundesregierung zurückgingen, „die dann im Parlament bitte schön nicht allzu heftig diskutiert werden sollen“. Das Parlament sei nicht mehr der Ort einer Begrenzung der Exekutive, sondern häufig ein Raum, der nach Regelungen ruft.
In diesem Punkt sind sich dann beide Autoren einig: Gesetzgebung ist keine Allzweckwaffe und erzeugt im Übermaß bürokratische Lasten. Di Fabio erklärt: „Die Logik des politischen Betriebes verlangt nach ständigen Betätigungsnachweisen.“ Jede Ministerin und jeder Minister, jeder EU-Kommissar spreche stolz davon, welche Gesetzgebungsvorhaben in der Legislaturperiode durchgesetzt worden seien.
So wachse die Zahl der Gesetze unaufhörlich, im europäischen Mehrebenensystem und im föderalen System, „während der Gesetzesrückbau schon durch die schiere Masse des komplex verflochtenen Rechts zu einer aussichtslosen Sisyphosarbeit zu werden scheint – einer Arbeit zudem, mit der letztendlich keine politischen Meriten zu erlangen sind“.
Papier fordert denn auch: „Generell sollte die Rechtsetzung nicht weiter überregulieren.“ Nicht jede aktuell auftretende Fragestellung brauche ein neues Gesetz. Lieber weniger, dafür aber handwerklich bessere und absehbar nachhaltige Gesetze schaffen.
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