Buchtipp: „Capital et idéologie“ 7 Lehren aus 1248 Seiten: Der neue Piketty für Lesefaule

In seiner Heimat erregte das neue Buch des französischen Ökonomen viel Aufsehen.
Paris Wer über Ungleichheit und den modernen Kapitalismus reden will, kommt an Thomas Piketty nicht vorbei. Schon gar nicht rhetorisch. Da steht er also, der Star-Ökonom, mitten in den modernen Hallen der noch jungen „Paris School of Economics“.
Piketty unterrichtet hier seit 2007, es ist seine intellektuelle Heimat. Vielleicht ist er auch deshalb gleich auf Betriebstemperatur. „Privates Eigentum ist eine exzellente Sache“, sagt er, „solange es innerhalb vernünftiger Grenzen für die Konzentration wirtschaftlicher Macht bleibt.“
Piketty ist eine Thesenmaschine. Mit „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ hat sich der französische Wirtschaftsprofessor in die Gilde der Vordenker geschrieben. 2,5 Millionen Mal hat sich das Werk bis heute verkauft.
Auch in seinem neuen, bislang nur auf Französisch erschienenen Wälzer „Capital et idéologie“ verwandelt der 48-Jährige spröde Zahlenreihen in interessante, provokante Analysen und Thesen. Die Erstauflage von 60.000 Exemplaren war in drei Tagen verkauft.
Wie fasst man 1248 Seiten in wenigen Sätzen zusammen? Versuchen wir uns an einem Piketty für Lesefaule – mithilfe seines neuen Buchs und mithilfe von Piketty selbst.
1. Das ist Pikettys zentrale These
Den Ursprung zunehmender weltweiter Ungleichheit sieht der Professor in der „Heiligsprechung“ des Privateigentums. Ungleichheit sei nicht wirtschaftlich oder technisch bedingt, sondern ideologisch und politisch.
Im Gespräch verweist er darauf, dass die Vorstellung eines sakrosankten Eigentums aus der Zeit gefallen sei. „Weiterzugehen in der Logik der Mitbestimmung und darin, dass die Macht rotieren sollte, ist für mich absolut in der Logik des 21. Jahrhunderts“, führt er aus. Die Zeit sei vorbei, in der die Eliten alles unter sich ausmachen konnten. „Die Quittung für diese Politik sind Populismus und spontane Bewegungen wie die Gelbwesten“, warnt er.

Thomas Piketty: Capital et idéologie
Seuil 2019
1248 Seiten
27,99 Euro
deutsche Fassung: ab 11. März 2020 bei C.H. Beck.
Piketty bemüht sich im Buch um eine Weltgeschichte der Ungleichheit, die nicht eurozentristisch ist. Die ist beeindruckend, aber nur dann, wenn es um Europa und Amerika geht, speziell in der Beschreibung von Kolonialismus und Sklaverei. Sie wird erschreckend oberflächlich bei der Analyse der kommunistischen und postkommunistischen Gesellschaften. Das hat mit einem Denkfehler zu tun. Aber dazu später mehr bei den Schwachstellen des Buchs.
2. Das ist Pikettys positivste Botschaft
Der Professor hat eine optimistische Botschaft an seine Leser: Es gibt kein vorgezeichnetes Schicksal. Das politische Kräfteverhältnis entscheidet, welchen Weg eine Gesellschaft nimmt. Oder wie Piketty im Buch schreibt: „Ideen und Ideologien zählen in der Geschichte. Sie erlauben es, sich permanent neue Welten und Gesellschaften vorzustellen und sie zu gestalten.“
Der Sozialdemokratie habe diese Gestaltungskraft nach dem Zweiten Weltkrieg eindrücklich gezeigt: Massive Umverteilung, neue Rechte für die Arbeitnehmer wie die deutsche Mitbestimmung gingen einher mit hohem Wirtschaftswachstum. Ausdrücklich würdigt der Ökonom das deutsche Grundgesetz mit seiner Aussage: „Eigentum verpflichtet.“
Das sei ein Durchbruch zur Entheiligung des Eigentums. Doch später hätten die europäischen Sozialisten intellektuell und politisch vor der Globalisierung versagt.
3. Das ist Pikettys Lösungsvorschlag für das Problem der Ungleichheit
Die Lösung für die zunehmende weltweite Ungleichheit sieht Piketty in der Auflösung der Konzentration von Eigentum in den Händen weniger und in einem egalitären Bildungssystem. Progressive Vermögens- und Erbschaftsteuern und die Grundausstattung jedes Bürgers mit einem Vermögensstock, in Frankreich rund 120.000 Euro, sollen Kapital mobil machen.
Neue Handelsabkommen müssten freien Kapitalverkehr an den Austausch von Steuerdaten koppeln. Nur rund 75 Seiten des Gesamtwerks sind den „Elementen für einen partizipativen Sozialismus“ gewidmet, wie Piketty seine Reformvorschläge nennt. Da bleibt vieles vage.
Zweifel an seinem Vorschlag lässt Piketty im Gespräch mit dem Handelsblatt nicht gelten. „Das liebe ich an den Liberalen“, sagt er mit beißender Ironie, „die Konzentration des Vermögens in den Händen weniger ist ihnen egal, aber 120 000 Euro für jeden Bürger, das macht ihnen große Sorge!“
Den Einwand, dass in Russland die Umverteilung des in Staatshand konzentrierten Eigentums mithilfe von Anteilscheinen für alle Bürger sehr schnell zur Konzentration in den Händen der Oligarchen führte, weist er ebenfalls zurück. Sein Steuersystem sorge für eine permanente Umverteilung.
4. Das sagt Piketty zu Kapitalismus und Eigentum
Piketty ist zwar spätestens seit „Kapital im 21. Jahrhundert“ zum Propheten der Linken geworden, aber er ist kein völliger Feind des Privateigentums an Produktionsmitteln.
Das Privateigentum an Produktionsmitteln (...) zählt zu den Elementen der Dezentralisierung. Thomas Piketty
Er kennt beide Seiten des Kapitalismus. Die brutale, die in einem bekannten Marx-Zitat entlarvt wird: „Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn: 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß.“ Aber er kennt auch die andere Seite, die Fortschrittsdynamik des Kapitalismus.
Kapital und Eigentum können Produktivkräfte freisetzen, weil die Aussicht auf Gewinn aus investiertem Geld weniger Fantasie, Innovation, Leistung mobilisiert. Piketty verteidigt in seinem Werk das Eigentum deshalb auch an mehreren Stellen ausdrücklich: „Das Privateigentum an Produktionsmitteln, korrekt reguliert und begrenzt, zählt zu den Elementen der Dezentralisierung und der institutionellen Organisation“, schreibt er. „Sie erlauben es, individuelle Bestrebungen und Charakteristika auszudrücken und dauerhaft zu entwickeln.“
5. Das sagt Piketty zu den Anleihekäufen der Zentralbanken
Bissig kritisiert der Wirtschaftsprofessor hingegen den Ankauf privater Wertpapiere durch die Zentralbanken: „Rein technisch gesehen könnten die Fed oder die EZB versuchen, das gesamte private Kapital der USA oder Westeuropas aufzukaufen.“ Doch seien „die Zentralbanken und ihre Verwaltungsräte nicht besser ausgerüstet, das gesamte Eigentum eines Landes zu verwalten, als es die zentrale Planwirtschaft der Sowjetunion war“.
6. Das ist Pikettys erste große Schwachstelle
Die positive Seite des Kapitals spielt allerdings im Buch kaum eine Rolle. An keiner Stelle erklärt Piketty, wo seiner Ansicht nach die – akzeptable oder förderungswürdige – Initiative des privaten Unternehmers umschlägt in ein Übermaß an wirtschaftlicher Macht, die durch hohe Steuern aufgelöst werden müsse. Das ist die erste intellektuelle Schwachstelle seines Werks.
Warum also sagen Sie nicht, ab wann für Sie die vernünftige Grenze überschritten ist, Herr Piketty? „Wie viele Seiten meines Buchs haben Sie gelesen?“, faucht er zurück. Die Antwort – so gut wie alle – stellt ihn nicht zufrieden: „Dann lesen Sie noch mal!“ Es folgt eine lange Ausführung über die Macht der Lords in England und weitere historische Lehren. Und dann Pikettys Quintessenz: Es gebe keine mathematische Grenze, ab der die Konzentration des Kapitals in den Händen weniger gefährlich werde.
Wir bleiben hartnäckig, hätten gerne die Antwort für heute: Wenn Privateigentum an einem Start-up gut ist, muss man es dann zum Beispiel mit einer konfiskatorischen Steuer belegen, sobald es zum Einhorn wird, sprich eine Milliarde Euro wert ist? Der Professor weicht aus: „Es hat keinen Sinn, Unternehmen für Unternehmen zu diskutieren, das muss man für die ganze Gesellschaft betrachten.“
In England hätten 1914 die reichsten ein Prozent 60 Prozent des Vermögens besessen, nach dem Zweiten Weltkrieg sank dieser Wert durch drastische Steuern auf 20 Prozent. „Meiner Ansicht nach führt es zu keiner wirtschaftlichen Verbesserung, über rund 30 Prozent hinauszugehen“, urteilt er. Die USA seien aber bereits bei 40 Prozent. Eine genauere Antwort bekommt man nicht von ihm.
7. Das ist Pikettys zweite große Schwachstelle
Der Franzose beschränkt sich auch zu sehr auf die Konzentration des Vermögens als Ursache von Ungleichheit. Er hebt hervor, dass die chinesische Gesellschaft, die sich noch als kommunistisch bezeichnet, schon heute wesentlich ungleicher ist als die europäischen. Nicht der europäische „Hyperkapitalismus“, sondern der rot gefärbte, expansive chinesische Kapitalismus ist also die größere Gefahr.
Doch Piketty analysiert nicht, mit welchen Mechanismen China das inzwischen überwiegende Privateigentum mit der absoluten Eingriffsmacht der Partei verbindet – das zweite schwere Manko seines Buchs.
Mir geht es darum, die Debatte zu eröffnen, nie darum, sie zu entscheiden. Thomas Piketty
Gerne kontert der in Frankreich bewunderte und beneidete Ökonom Fragen nach konkreteren Aussagen mit einem argumentativen Zauberstab: Niemand habe den Stein der Weisen, nur ein großer und ständiger gesellschaftlicher Diskurs könne klären, welches Maß an Ungleichheit etwa der Vermögensverteilung eine Nation aushalten wolle. „Man muss den abstrakten und allgemeinen Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit misstrauen“, schreibt er: „Die Gerechtigkeit muss vor allem als eine ständige, kollektive Beratung verstanden werden.“
Das ist richtig, aber manchmal auch ein Mittel, um Antworten schuldig zu bleiben.
Bei allen Schwächen des Buchs: Es wird politische Wirkung haben. Der detaillierte Nachweis, dass Europa und Amerika in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts den Anteil des obersten Zehntels am gesamten Reichtum massiv vermindert haben und diese Phase mit sehr starkem Wachstum einherging, dürfte Forderungen nach einer stärkeren Umverteilung befördern. Weil Piketty andere Instrumente für sozialen Aufstieg neben der Umverteilung zu wenig in den Blick nimmt, könnte sich die Debatte völlig darauf verengen.
Aber immerhin: Er fordert zur Debatte heraus, nun ist es an anderen zu reagieren. Oder wie Piketty am Ende seines Buchs schreibt: „Mir geht es darum, die Debatte zu eröffnen, nie darum, sie zu entscheiden.“
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.