Buchtipp: „Kurzschlusspolitik“ Warum die Politik inzwischen mehr Menschen verunsichert als die Wirtschaft

Der US-Präsident steht sinnbildlich für die „Kurzschlusspolitik“, die Henrik Müller in seinem Buch beschreibt.
Berlin „Die Welt ist aus den Fugen geraten“, stellte der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier fest – und fasste in einer Metapher zusammen, was an Krisen, am „New Normal“, an „Weltunordnung“ vor sich ging. Steinmeiers Zitat stammt aus dem Jahr 2015. Seitdem spitzten sich Konflikte zu, entschieden sich die Briten für den Brexit, wählten die Amerikaner Donald Trump zum Präsidenten.
Angesichts der zunehmend unübersichtlichen internationalen Lage, welche die exportstarke deutsche Wirtschaft besonders hart trifft, kommt ein neues Buch zur rechten Zeit. Verfasst hat es der Wirtschaftsjournalist und „Spiegel Online“-Kolumnist Henrik Müller, früher unter anderem stellvertretender Chefredakteur des „Manager Magazins“ und seit mehr als sechs Jahren Professor an der Universität Dortmund.
Sein Werk geht politischen, ökonomischen, sozialen und vor allem medialen Trends auf den Grund. Kein Wunder, Müller lehrt wirtschaftspolitischen Journalismus und erforscht unter anderem innovative Indikatoren, die er aus Daten in Pressearchiven mithilfe ökonometrischer Berechnungen gewinnt. Und so macht Müller Unsicherheit messbar.
Das könnte dank Künstlicher Intelligenz in Zukunft immer besser gelingen. Denn Zeitungsarchive haben den Vorteil einer jahrzehntelangen Historie. Mittels Archivanalyse kommt Müller zu dem Schluss, dass bis zur Finanzkrise im Jahr 2008 die wahrgenommene Unsicherheit überwiegend von der Wirtschaft ausgegangen sei – Stichwort „Turbokapitalismus“.
Danach tritt die Politik als Quelle des Phänomens in den Vordergrund. Erwähnt wird in der Innenpolitik die „Merkel’sche Ruhe“, während die „hyperaktiven Akteure“ in den Notenbanken und vor allem die internationale Politik generell destabilisierten. Spitzen im Ausschlag der Skala gibt es in der Euro-Krise, sei es beim Brexit oder Grexit, aber auch wegen Trump und der aktuell ausufernden Handelskonflikte.

Henrik Müller: Kurzschlusspolitik
Piper
256 Seiten
22 Euro
„Politik ist erratisch geworden“, konstatiert Müller. „Kurzschlusspolitik“ – so der Titel seines Buchs – verhindere vernünftige politische Entscheidungen, was zum zentralen Unsicherheitsmoment für die Unternehmen werde. Anstelle von gesellschaftlichen Debatten als „Entdeckungsverfahren“ – nicht zufällig ein Begriff des liberalen Großdenkers Friedrich August von Hayek – trete impulsive Meinung, befeuert von neuen Medienwelten. Sie blendeten das Normale und Abgewogene systematisch aus, förderten das Extreme und Schrille.
„Die Hochachtung des demokratischen Kompromisses kommt aus der Mode“, klagt der Autor. Statt des Ausgleichs von Interessen rücke das Bedürfnis nach Anerkennung ins Zentrum. Dabei geht es durchaus auch um den Einzelnen, der mitmacht bei der weltweit wachsenden Bilderflut und der Verknappung und Komprimierung von Inhalten – ob auf Youtube, Twitter oder in einer Push-Meldung.

Der Autor dieses Artikels ist Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie und Mitglied des BDI-Präsidiums.
Die neue Form der Auseinandersetzung verderbe die westlichen Demokratien im Innern – und sogar das internationale Machtgefüge. Man denkt an den twitternden Trump und fürchtet die nächste Runde einer ungesunden Zollspirale.
Die Zeit des Multilateralismus, des freien Welthandels und seiner Institutionen ist bedroht. Der Wert des Pariser Klimaabkommens aus dem Jahr 2015 ist vollkommen unklar. Dabei würden globale Lösungen für die immensen Herausforderungen am besten funktionieren. Das aber, so macht „Kurzschlusspolitik“ klar, droht immer unwahrscheinlicher zu werden.
Müller verarbeitet Begriffe wie Identität und Narrativ, erzählt von Chinas Staatschef Xi Jinping und der Klimaaktivistin Greta Thunberg, verbindet die Argumente elegant, wie man es aus seinen Artikeln kennt. Sein Fazit: Die liberale Gesellschaftsordnung sei dabei, ihre Bürger zu verlieren. Müller empfiehlt Anstand und Vernunft als Allheilmittel – und gibt zu, dies seien „zwei auf bedrückende Art altmodische Begriffe“. Deshalb aber müssen sie nicht falsch sein.
Müller rät zur politischen Regulierung der Informationsinfrastruktur Social Media und verlangt als ersten Schritt mehr Transparenz. Zudem fordert er den klassischen Journalismus auf, anstelle kurzfristiger Aufmerksamkeitserfolge ein „skeptisches, aber realistisches Bild der Gegenwart“ abzubilden. Dabei lobt er das gebührenfinanzierte Modell des deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks, „um den korrosiven Effekten der allgemeinen Bullshitisierung standzuhalten“.
Die Hochachtung des demokratischen Kompromisses kommt aus der Mode. Henrik Müller (Autor)
Freiheitliche Gesellschaften müssen sich laut Müller in einem öffentlichen Diskussionsprozess darauf einigen können, was wichtig und was problematisch ist – und welche Lösungsansätze zur Verfügung stehen. Sonst, heißt es in „Kurzschlusspolitik“, gerieten Gesellschaften aus den Fugen.
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