Buchtipp: „Schaden in der Oberleitung“ Ein Buch für Bahnhasser – und nur für die

Arno Luik rechnet in seinem neuen Buch mit der Deutschen Bahn ab – und bleibt dabei nicht immer sachlich.
Düsseldorf Was für eine verstörende Buchlektüre für Bahnfahrer! Mit dem Titel „Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“ präsentiert Arno Luik eine Generalabrechnung mit dem Staatskonzern, seinen Machern und Aufsehern, mit Politik und Staat. Der „verkommene Bahnhof“ ist für ihn ein Symbol. Der stehe für den Zustand des Landes, dafür, „dass sich der Staat von seiner Fürsorgepflicht zurückzieht“.
Wer auf einem zugigen Bahnhof warten müsse, der wisse: „Ich bin ein Abgehängter und soll dies richtig fühlen.“ Und dann sei es nur noch „ein kleiner Sprung“ zur AfD und zum Ruf: „Ihr kotzt mich alle an!“ Aus diesem Buch rieselt Staatsverdrossenheit nur so heraus.
Nun, angesichts der vielen „Störungen im Betriebsablauf“ bei der Deutschen Bahn ist die Verärgerung verständlich. Aber wer auf eine Argumentation und Analyse hofft, dem wird spätestens ab Seite 11 klar: Der Autor will sich nicht kritisch mit der Staatseisenbahn auseinandersetzen.
Er rächt sich dafür, dass die Gardinen im Bahnhof Königsbronn, die seine Mutter genäht hat, heute in den toten Fenstern des dahinrottenden Gebäudes flattern. Und dass niemand mehr wie sein Vater, der Bahnvorsteher von Königsbronn, Geranien hegt und pflegt.
Seine Beweisführung eröffnet Luik mit dem „Symbol für den Niedergang“, dem Bahnhofsprojekt Stuttgart 21. Den milliardenteuren, radikalen Um- und Neubau des Stuttgarter Eisenbahnknotenpunkts kennt der „Stern“-Journalist gut, schon früh recherchierte er zu dem Thema.

Arno Luik: Schaden in der Oberleitung
Westend Verlag
296 Seiten
20 Euro
ISBN-13: 978-3864892677
Sein Wissen beruht auf einer langfristigen Einsicht in Planungsunterlagen, auf internen Dokumenten und Interviews mit vielen Fachleuten. Selbst wenn man unterstellen kann, dass Luik sich vornehmlich mit Gegnern des Projekts unterhalten hat – es sind Argumente, die erst einmal nachdenklich machen.
Luik aber verbeißt sich regelrecht in Stuttgart 21. Und zerstört seine eigene Argumentation gegen das angeblich so gefährliche Bahnsteiggefälle. Es betrage mehr als 15 Promille, Züge könnten sich während eines Halts unkontrolliert in Bewegung setzen. Ein Horrorszenario.
Erst recht, wenn Luiks Behauptung stimmen würde: „Eine moderne Lokomotive kann ein Mensch ohne große Anstrengungen wegschieben, sie rollt sofort los.“ Aber da hat der Autor in Physik nicht aufgepasst. Das Beharrungsvermögen von 80 Tonnen Lokgewicht dürfte selbst ein durchtrainierter Arno Luik nicht ohne Weiteres überwinden, die 800 Tonnen eines ICE schon gar nicht.
Es gibt so viele Stellen, an denen sich der Sohn des Bahnvorstehers den Kopf einrennt. Interessant ist sein Briefwechsel zur Installation des European Train Control System (ETCS), des modernsten Signal- und Steuerungssystems für Eisenbahnen. Die zuständigen Behörden scheinen sich nicht einig zu sein, ob die Bahn erst mal alle Strecken für Stuttgart 21 mit alter Signaltechnik ausstatten wird oder gleich mit dem ETCS. Peinlich für die Bahn.
Aber dann führt Luik seine Argumentation selbst ad absurdum, indem er Sinn und Zweck der modernen digitalen Zugsteuerung ETCS bestreitet. Außer dem Autor behauptet beispielsweise niemand, Züge würden mit ETCS schneller. Deshalb erübrigt sich auch seine akribische Beweisführung, das Gegenteil sei der Fall. ETCS macht kürzere Zugfolgen möglich, mithin mehr Verkehr auf einem Gleis.
Anekdoten und Behauptungen
Bis zum Schluss des Buchs werden nur Leser vordringen, die ohnehin der Meinung sind, bei der Bahn seien Dilettanten, Betrüger und Versager am Werk. Von denen ist denn auch in den weiteren Kapiteln häufig die Rede. Allen voran von Ex-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn. Mit ihm verbindet Luik eine innige Feindschaft. Der langjährige Konzernchef (1999 bis 2009), der über eine Spitzelaffäre stolperte und abtreten musste, ist für Luik ein „Master of Universe“. Zusammen mit der damaligen rot-grünen Bundesregierung sei Mehdorn ein „Totengräber“ der Bahn.
Was natürlich nicht ganz der Wahrheit entspricht, wie Luik an anderer Stelle selbst schreibt. Denn: Mehdorn exekutierte auftragsgemäß die Bahnreform von 1994 – mit den heute noch wirkenden Spätfolgen wie Zersplitterung und Rationalisierung des Konzerns. Mehdorns Steckenpferd allerdings, die Internationalisierung des Konzerns, war nicht vorgesehen.
Alles Punkte, die Luik zu Recht kritisiert und bei denen man sich fragt: Warum werden diese Fehler 25 Jahre nach der Bahnreform nicht revidiert? Immerhin: Für die Regierungskoalition aus Union und SPD steht nicht mehr die Wirtschaftlichkeit des Staatsunternehmens im Vordergrund. Das politische Primat lautet heute: mehr Verkehr auf die Schiene. Korrekturen gibt es jetzt auch an der Strategie. Die Auslandstochter Arriva soll verkauft werden. Das ist beschlossene Sache. Rätselhaft allerdings ist, warum die ebenfalls weltweit tätige Logistiktochter Schenker gehalten werden soll.
Auch Mehdorns Nachfolger Rüdiger Grube bekommt sein Fett weg. Oder Alexander Kirchner, langjähriger Chef der „handzahmen Eisenbahner- und Verkehrsgewerkschaft EVG“ und stellvertretender Aufsichtsratschef. Und natürlich Ex-Kanzleramtsminister Ronald Pofalla. „Der Staatskonzern erpresst den Staat, und der lässt sich erpressen.“ Und dafür, dass es so weitergeht, habe die Bahn „spezielle Kombattanten im Einsatz“, wie ebenjenen Herrn Pofalla, der heute im Vorstandsrang für die Infrastruktur des Unternehmens verantwortlich zeichnet. Pofalla sorge zum Beispiel dafür, meint Luik, dass nicht über die „chaotische Geldvernichtungsstrategie“ diskutiert werde.
Ach, und Bahn-Chef Richard Lutz nicht zu vergessen. Der lauert wohl auf die Gelegenheit, die Bahn an ausländische Investoren zu verscherbeln. Wie bitte? Nur weil der Chef mit Investoren redet? Wie soll die Bahn denn sonst ihre milliardenschweren Anleihen platzieren?
Anekdoten durchweben das Buch und münden in der kühnen Behauptung, die Bahn habe ihre Verbindungsauskunft so programmiert, dass Kunden, wenn es irgendwie gehe, entweder auf Umwegstrecken geschickt oder in teure ICEs gezwungen würden. „So verdient sie mehr.“ Die Dinge scheinen so einfach.
Wer sich über die Unzulänglichkeiten der Deutschen Bahn auslässt, kommt natürlich nicht um die Schweizer Eisenbahnen herum. Die fahren offensichtlich präzise wie ein Uhrwerk. Luik kommt zu dem Schluss, dass es die SBB geschafft habe, „überaus pünktlich, auch relativ günstig Züge fahren zu lassen – zum Wohl der Allgemeinheit“.
Dem Autor sei gesagt: Das hat die SBB unter anderem deshalb geschafft, weil sie schon sehr früh und konsequent auf die neue Signaltechnik ETCS umgestellt hat. Ebenjene Technik, die Luik wenige Seiten zuvor als die drohende Betriebskatastrophe für den Bahnhof Stuttgart beschrieben hatte.
Und noch etwas: Ja, die Schweizer lieben halt ihre Bahn und lassen sich das was kosten, die Deutschen hassen ihre Bahn und wollen erster Klasse fahren – zu Aldi-Konditionen.
Überzogener Pessimismus
Natürlich immer wieder die Bahnhöfe. Tenor: Protz in Metropolen – Bahnhofsruinen auf dem Land. Bahnhöfe in der Provinz waren früher einmal lebendige Servicezentren für die Bürger, intoniert Luik. Dort habe man von morgens bis abends Gepäck aufgegeben, Fahrräder verschicken können. Ja, früher... Da hatte auch nicht jeder zweite Bürger ein Auto, Kinder und Alte eingerechnet.
Kommen wir mit dem Autor zum Schlusskapitel und seiner rhetorischen Frage, ob die Bahn noch zu retten ist. Natürlich. Bahn-Chef Lutz muss nur den Empfehlungen Luiks folgen, als da unter anderem wären: sofortiger Baustopp für Stuttgart 21 und andere kostspielige Neubauprojekte, Trennung von allen Auslandsaktivitäten, Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit auf 200 Kilometer in der Stunde, Schalterdienste in allen Städten mit über 20.000 Einwohnern, Wiedereinführung von Schlafwagenzügen, Stopp des europäischen Zugsicherungssystems ETCS, aber grenzüberschreitende Kooperationen bitte.
Große Hoffnungen hat Luik allerdings nicht. „Es geht weiter wie bisher“, schreibt er in den letzten Zeilen auf Seite 293. Das lässt den Leser traurig zurück. Aber er ist immerhin glücklich, es bis zum Schluss des Buchs geschafft zu haben.
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