Buchtipp: „The Code of Capital“ Neue Ideen gegen die Steuervermeidung der großen Digitalkonzerne

Die Autorin ist Professorin an der Colombia University in den USA.
Frankfurt Die international renommierte deutsche Rechtswissenschaftlerin Katharina Pistor hat zu einem heißen Thema ein Buch geschrieben, das durchaus Potenzial hätte, eine große Debatte anzustoßen. „The Code of Capital“, deutsch: das Regelwerk des Kapitals, trägt den Untertitel „Wie das Recht Vermögen und Ungleichheit produziert“. Der Verleger verspricht „eine machtvolle neue Art, über die schlimmsten Probleme unserer Zeit nachzudenken“. So weit der Anreißer.
Tatsächlich bietet Pistor, Professorin der Columbia University, all jenen eine neue Perspektive, die Sätze sagen oder glauben wie: „Freie Märkte und Eigentumsrechte sind Grundlage für die wohlstandsschaffende Wirkung des Kapitalismus.“ Ihnen hält Pistor entgegen: Freie Märkte seien gar nichts ohne einen Rechtsrahmen, der die (Vor-)Rechte und Pflichten aller Beteiligten genau definiere und einen Staat benenne, der diese Rechte durchsetze.
Der bloße Verweis auf Eigentumsrechte und ihre Notwendigkeit sei schlichtweg zu pauschal, um zu erklären, wie genau es sein kann, dass etwa der iPhone-Riese Apple jahrelang nur 0,005 Prozent Steuern auf Gewinne in Europa zahlte. „Das Kapital regiert, und es regiert per Gesetz“, fasst Pistor prägnant zusammen.
Besonders eindrucksvoll zeigt die Rechtswissenschaftlerin die Privilegien von Kapitalbesitzern auf. Dazu nutzt Pistor ein Gedankenexperiment und beschreibt, wie die Welt aussehen würde, wenn normale Menschen die gleichen Rechte hätten wie Firmen. Diese dürfen, wenn sie in mehreren Ländern aktiv sind, klären, welches Landesrecht gelten soll – das Recht des Staates, in dem das Unternehmen seine Hauptverwaltung hat, oder das Recht jenes Staates, in dem es seinen juristischen Sitz hat.
Großbritannien und die USA entschieden sich vor langer Zeit für den juristischen Sitz. In Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern hingegen war die Hauptverwaltung entscheidend – bis der Europäische Gerichtshof das für unvereinbar mit dem Prinzip der Niederlassungsfreiheit erklärte. Seither können große Unternehmen wählen, welcher Rechtsrahmen genehm ist – und damit auch, wo sie Steuern zahlen.

Katharina Pistor: The Code of Capital.
Princeton University Press
2019
320 Seiten
28,99 Euro
ISBN-13: 978-0691178974
Amazon, Apple, Starbucks – Beispiele von Unternehmen, die diese Rechtslage ausnutzen, gibt es hinreichend. Wenn diese „Incorporation-Theorie“ jedoch auch für Menschen gälte, so Pistor, „hätte jeder das Recht, seine Staatsangehörigkeit frei zu wählen, auch wenn er nicht vorhat, sich im gewählten Land aufzuhalten“ – und das mit allen Rechten, die zur gewählten Staatsangehörigkeit gehören.
Anhand von Lehman Brothers, einer Holding mit 209 Töchtern in 26 Ländern und Hunderten Sondervermögen, exerziert Pistor einmal exemplarisch durch, wie unvollkommen die gängige ökonomische Sichtweise auf Kapitalgesellschaften ist. Diese lautet vereinfacht: Kapitalgesellschaften sind praktisch, weil die vertraglichen Geflechte Produktion und Vertrieb gerade in Großunternehmen vereinfachen.
Das erklärt jedoch wenig über den Hintergrund von komplexen Strukturen eines Unternehmens wie Lehman Brothers oder vieler anderer Großunternehmen, die bestimmte Vorrechte – wie etwa Haftungsbegrenzungen und Gläubigerschutzregelungen – für sich nutzen, während sie die Verpflichtungen umgekehrt möglichst kleinhalten.
„The Code of Capital“ hätte das Zeug dazu, in einem Atemzug mit Veröffentlichungen seriöser Kapitalismuskritiker wie des Ökonomen Thomas Piketty genannt zu werden. Doch dieses Potenzial lässt Pistor liegen und begnügt sich mit einem Buch, das sich vorrangig an andere Wissenschaftler zu richten scheint.
Eine knackige These fehlt. Und auch die Forderungen an die Politik fallen uninspiriert aus. So schlägt Pistor vor, die freie Wahl des Steuer- und Rechtssystems zu erschweren, und wünscht sich, dass die USA und Großbritannien vorangehen. Ein frischer Ansatz sieht anders aus.
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