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Buchtipps Was taugen die deutschen Schulen?

Seit dem Pisa-Schock gab es viele Schulreformen. Aber sind unsere Schulen besser geworden? Drei neue Bücher gehen der Frage nach.
29.06.2019 - 13:17 Uhr Kommentieren
Verdummt die jüngste Generation wirklich? Quelle: E+/Getty Images
Auf dem Prüfstand

Verdummt die jüngste Generation wirklich?

(Foto: E+/Getty Images)

Düsseldorf Endlich Sommerferien! In Berlin, Hamburg und Brandenburg ist es schon seit ein paar Tagen so weit. Ab Montag starten dann fünf weitere Bundesländer offiziell in sechs schulfreie Wochen. Damit sollte die Bildungsrepublik Deutschland – im Anschluss an eine intensive Zeugnisnachbesprechung – zur Ruhe kommen. Könnte man meinen.

Doch wer derzeit die Titel der Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt zum Thema Schule studiert, gewinnt den Eindruck, dass unserem Bildungssystem nach Pisa-Schock und G8-Debatte nun endgültig der Exodus droht. Schließlich verheißen Titel wie „Schule vor dem Kollaps“, „Eine Lehrerin sieht Rot“ oder „Abitur und Bachelor für alle – wie ein Land seine Zukunft verspielt“ wenig Mutmachendes. Doch was an dieser Kritik ist berechtigt? Was übertrieben? Was können und dürfen Schüler und Eltern von der Institution Schule erwarten?

Geht es nach Michael Winterhoff, müsste die Antwort lauten: nichts. Der Bonner Kinder- und Jugendpsychiater ist so etwas wie der diesjährige Anführer der apokalyptischen Bildungsautoren. Bereits vor zehn Jahren erklärte der umstrittene Fachexperte „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“. Mit „Deutschland verdummt“ liefert er nun den nächsten Steile-These-Schmöker.

Was Winterhoff beschreibt, klingt wie ein Untergangsszenario für den Standort Deutschland: In den Grundschulen hinke die große Mehrheit der Kinder weit ihrer Entwicklung hinterher. Auch fehle Jugendlichen Frustrationstoleranz, Arbeitsethos und der Sinn für Pünktlichkeit.

Die Folge: Die Psyche vieler Jugendlicher verkümmere auf dem Niveau eines Kleinkinds. Herbert Grönemeyers „Kinder an die Macht“ scheint sich damit auf ganz eigene Weise zu verwirklichen, nur leider ohne die darin besungenen „Armeen aus Gummibärchen“.

Schule ist zu einem Spielfeld für Ideologen verkommen, die sich eine Lernmethode nach der anderen einfallen lassen. Michael Winterhoff (Kinder- und Jugendpsychiater)

Nach den Eltern, denen der Psychiater bescheinigte, frei von jeder „intuitiven“ Erziehung zu sein, knöpft sich Winterhoff nun Lehrer und Erzieher vor. „Schule ist zu einem Spielfeld für Ideologen verkommen, die sich eine Lernmethode nach der anderen einfallen lassen“, schreibt er. Der gemeinsame Nenner ist das „autonome Lernen“, zu dem etwa das Selbsteinteilen von Lernzeiten gehört, Wochenpläne statt verordneter Hausaufgaben und andere Formen der offenen Unterrichtsgestaltung.

Dabei schneidet Winterhoff – auf der Sachebene betrachtet – durchaus wichtige Punkte an. So etwa, dass Studien belegen, dass Formen des Frontalunterrichts vor allem in der Grundschule zu besseren Lernergebnissen führen. Allerdings gibt es auf weiterführenden Schulen durchaus auch positive Erfahrungen mit autonomen Lernkonzepten, die kombiniert werden mit vermeintlich altmodischen Formen des strukturierten Unterrichts. Ganz so schwarz-weiß, wie Winterhoff das Bild gerne zeichnet, ist es eben nicht.

Berechtigt ist auch die Kritik des Autors an der nach dem Pisa-Schock losgetretenen Reformwelle, die Schüler, Lehrer und Eltern gleichermaßen überfordert haben dürfte. Stichworte sind hier G8, also das Turbo-Abitur in zwölf Jahren (und die teilweise Abkehr davon), Zentralabitur, konkurrierende Ganztagsschulkonzepte, Zusammenlegung verschiedener Schulformen, Ansätze wie „Schreibe, wie du sprichst“, schülerzentrierter Unterricht, Inklusion in Regelschulen. Die Liste ist lang und stichhaltig.

Michael Winterhoff: Deutschland verdummt
Gütersloher Verlagshaus
2019
240 Seiten
19,90 Euro
ISBN-13: 978-3942377164

Doch was Winterhoff zu Recht anprangert, stützt er mit methodisch teils fragwürdigem Vorgehen. So beruht seine Argumentation unter anderem auf Verallgemeinerungen von Fallgeschichten aus seiner Praxis. Und auch die über das Buch verstreuten anonymisierten Interviews helfen wenig, wenn sie nur widerspruchsfrei die Ansichten des Autors spiegeln. Wegen seiner einseitigen Meinungsmache bezeichnete „Die Zeit“ den Psychiater sogar neulich als „Thilo Sarrazin der Erziehung“.

Dennoch scheinen verunsicherte Eltern scharenweise zu Winterhoffs Buch zu greifen, bedient der Autor doch das Gefühl: „Endlich schreibt es mal einer.“ „Deutschland verdummt“ rangiert aktuell auf Platz zwei der „Spiegel“-Sachbuchbestsellerliste.

Was soll Schule eigentlich?

In etwa zeitgleich zu Winterhoff kommt auch FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube mit einem neuen Buch auf den Markt. Cover und Titel sind nicht minder plakativ und provokant. Kaube fragt: „Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?“ Was dann jedoch folgt, ist eine wohltuend kenntnisreiche und sachliche Auseinandersetzung mit dem deutschen Schulsystem.

Dabei widerlegt der Autor so manchen Mythos, wie den der angeblichen Qualitätssicherung durch das Zentralabitur. Sein nachhaltiger Appell richtet sich aber vor allem auf ein Ziel – nämlich auf eine Rückkehr zur grundlegenden Frage: Was soll Schule eigentlich, worin liegt ihr Sinn?

Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?
Rowohlt Berlin
2019
336 Seiten
22 Euro
ISBN-13: 978-3737100533

Der Kenner des deutschen Bildungssystems und Vater zweier Töchter argumentiert streng an dieser Frage entlang und fordert, Struktur-, Ressourcen- und Verteilungsfragen nach ihrer Zweckmäßigkeit zu beurteilen. Laut Kaube ist Schule für Fundamentales da: lesen, schreiben, rechnen. Es geht um Freude, Anregung und Denken lehren.

„Schlechter Unterricht ist langweiliger Unterricht“, schreibt er, „wobei mir die Durststrecken um den Ablativus absolutus, Sinus und Cosinus oder den Unterschied zwischen Sulfat und Sulfit bewusst sind.“ Der verbreiteten Ansicht, es gehe im Digitalzeitalter vor allem um das „Erlernen des Lernens“ erteilt Kaube eine klare Absage.

„Gedanken zu haben setzt voraus“, argumentiert er, „dass wir über Routinen verfügen, die uns für das Denken entlasten.“ Der Irrtum, Schüler sollten sich möglichst früh alles selbst erschließen, beruhe auf einer Verwechslung von Ziel und Methode. „Kritisches Hinterfragen“ sei nicht sinnvoll, solange man sich im Themengebiet nicht auskenne.

In der Diskussion um das Thema Chancengleichheit legt Kaube viel Realismus an den Tag: „Was die Schule erreichen kann, ist nicht Gleichheit der Chancen, sondern allenfalls eine Reduktion des Einflusses ungleicher Umwelten.“ Mindern kann die Schule demnach die Unterschiede. Abschaffen wird sie diese jedoch nie. Zur Schule gehöre auch zu differenzieren. Nicht jeder dürfe mit einem Einser-Abitur rechnen. Wäre das der Fall, würde sich in kürzester Zeit ein neues Bewertungssystem etablieren und etwa zu strengen Aufnahmetests an deutschen Unis oder Privatschulen führen, wie man sie aus anderen Ländern kennt.

Julia Wöllenstein: Von Kartoffeln und Kanaken
mvg Verlag
2019
192 Seiten
14,99 Euro
ISBN-13: 978-3747400555

Einen Blick aus der Praxis liefert das Buch von Julia Wöllenstein, Lehrerin an einer Gesamtschule in Hessen. Unter dem derben Titel „Von Kartoffeln und Kanaken“ geht sie sehr subjektiv, aber durchaus lesenswert, der Frage nach, warum die Integration im Klassenzimmer häufig scheitern muss – wie sie aber durchaus funktionieren könnte.

Wöllensteins Erfahrung: „Schüler aus bildungsfernen Familien brauchen eine andere pädagogische Unterstützung als Schüler mit Eltern, die ihre ganze Kraft und Zeit in die Schulkarriere ihrer Kinder stecken“, mahnt die Autorin und zeigt auf, an welchen Stellen im Unterricht ihr immer wieder die Hände gebunden sind.

So geht es zum Beispiel um Sanktionen, sprich das mittlerweile untersagte Nachsitzen am gleichen Tag. Warum das wichtig ist? „Weil Kinder den direkten Bezug zur Konsequenz ihres Handelns brauchen“, sagt sie. Und es gehöre auch zu ihren Aufgaben, einem Störenfried Konsequenzen aufzuzeigen, um den restlichen Schülern ein Lernen weiter zu ermöglichen.

Auch die notfalls kurzzeitige Suspendierung vom Unterricht sei eine strikte, aber wichtige Maßnahme, doch zu oft blieben Aktennotizen, Klassenkonferenzen und Anrufe bei Eltern wirkungslos, wenn die Erziehungsberechtigten aus sprachlichen oder anderen Gründen nicht mit der Schule kooperierten. Die Verbote zum Schutz vor Lehrerwillkür, zweifellos gut, schade jedoch gerade bei drastischen Problemfällen den Schülern.

Selbst massive Störenfriede „rutschen durch die Maschen“ und müssten so gut wie nie die Konsequenzen ihres Verhaltens spüren. Eine „Abwärtsspirale“, so Wöllenstein. Die Lehrerin fordert daher mehr Möglichkeiten für Schulen, auf die lokalen Gegebenheiten pädagogisch einzugehen. Nicht in jedem Einzelpunkt müssen Wöllensteins Leser ihre Ansichten teilen – einen bereichernden Einblick ins Klassenzimmer bietet ihr Buch allemal.

Mehr: Noch immer sind die Chancen in deutschen Klassenzimmern ungleich verteilt: Die soziale Herkunft bestimmt über den Erfolg. Die OECD fordert mehr Geld und frühere Bildung.

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