Digitalisierung Warum eine Silicon-Valley-Größe Steve Jobs für ein schlechtes Vorbild hält

Flexible Software schlägt statische Hardware.
San Francisco Als Steve Jobs Mitte der 2000er darüber nachdachte, ein Apple-Handy zu designen, dominierten Nokia und Blackberry den Markt. Die Handys der Konkurrenz hatten eine Schwachstelle, die Jobs erkannte: Ihre Tastatur nahm einen Großteil der Geräte ein, das Display war dagegen winzig.
„Die Tastatur des iPhones ist Software“, schreibt Jeff Lawson in seinem Buch „Ask Your Developer“. „Sie verschwindet, wenn man sie nicht braucht – was die meiste Zeit der Fall ist. Sie kann sich in eine Emoji-Tastatur verwandeln, man kann das gleiche Gerät auf der ganzen Welt verkaufen.“ Flexible Software schlägt statische Hardware. Nokias und Blackberrys benutzt heute niemand mehr.
Lawson hat dem iPhone viel zu verdanken. 2008, ein Jahr nach dessen Einführung, gründete er in San Francisco Twilio, das er bis heute führt. Twilios Software verschickt im Auftrag seiner Kunden wie Airbnb, Uber oder Drive Now Textnachrichten oder automatisierte Anrufe, etwa wenn ein Airbnb-Gastgeber die Buchung bestätigt hat oder das Uber-Taxi vorfährt. 55 Milliarden Dollar ist Twilio an der New Yorker Börse heute wert – ohne das allgegenwärtige Smartphone undenkbar. Lawson versteht etwas von der Macht, mit der Software jede Branche umpflügt.
Doch Steve Jobs hält Lawson für kein gutes Vorbild: „Wie er mit Mitarbeitern umgegangen ist, war kein guter Managementstil. Oder überhaupt guter Stil“, sagt der Twilio-Chef im Gespräch mit dem Handelsblatt. „Jobs war einzigartig. Wir Normalsterblichen halten uns lieber an die Regeln guten Managements.“
Die angeblich einsamen Geniestreiche des Apple-Gründers – oder zumindest die Hagiografie darüber – seien nicht der Maßstab, an dem sich Manager im digitalen Zeitalter messen sollten. „Topmanager können Ideen haben, einfache Angestellte auch.“
Statt Produktentscheidungen wie Gott vom Berg Sinai von der Konzernspitze hinunterzureichen, sollten Manager lernen, wie ein „Software-Mensch“ zu denken. Dazu müsse kein Manager programmieren lernen. Er müsse nur ein Gespür dafür bekommen, welche Probleme Software lösen kann, oder sich einen Berater suchen, der das kann und Probleme mit ihm durchspricht.

Jeff Lawson: Ask Your Developer.
Harper Business
New York 2021
304 Seiten
23,99 Euro
Seinen Entwicklern solle der Topmanager Probleme statt Lösungen vorgeben. Lawson, selbst Informatiker, schildert die Zusammenarbeit mit seinem Mitgründer Matt bei einem früheren Unternehmen, einer Kette von Sporthandlungen, im Jahr 2004. Matt sei ein guter Geschäftsmann, aber ein „absoluter Technophob“ gewesen, der nicht einmal einen Laptop benutzen wollte.
Trotzdem arbeiteten „Matt und Jeff“ gut zusammen. Matt teilte abstrakte Fragen wie „Wie messen wir, welche Besucher unserer Läden etwas kaufen?“, und Jeff suchte eine konkrete Software-Antwort darauf. Er fand eine Lösung, die die Lichtschranken am Eingang mit den Kassen verband und die Ergebnisse direkt ins Intranet des Unternehmens übertrug, wo sie analysiert werden konnten.
Nichts sei frustrierender für Entwickler, als von einem ahnungslosen Manager minutiös Lösungen vorgegeben zu bekommen, schreibt Lawson. „Code ist kreativ“ heißt eines seiner Kapitel. Lawson erzählt darin von dem hochtalentierten Entwickler Patrick McKenzie, in Fachkreisen besser bekannt als „Patio 11“. McKenzie arbeitete einst für einen japanischen Softwarekonzern, der von einer Bank mit der Automatisierung des Rechnungseingangs beauftragt wurde. Statt Papierrechnungen zu stempeln und in einen Ordner zu legen, sollte exakt der gleiche Prozess digital stattfinden.
In dem Programm, das McKenzie schreiben sollte, würde ein Bankangestellter nun mit der Maus Dateien in einen Ordner schieben. „Alles daran könnte ein Computer besser machen – einfacher, billiger, besser und ohne diese seelenfressende Arbeit“, sagte McKenzie später zu Lawson.
„Patio 11“ kündigte, schwor sich, nie wieder fest bei einem Unternehmen zu arbeiten. Und brach den Schwur erst, als ihn das Fintech-Start-up Stripe mit einem Problem herkulischen Ausmaßes betraute: eine Möglichkeit zu finden, wie Start-ups von der ganzen Welt aus eine US-Gesellschaft gründen können.
Ermutigung zum Ermutigen
Lawson will Manager zum Ermutigen ermutigen. Der Titel des Buchs spielt auf diese Botschaft an. „Frag deinen Entwickler“ war eine Werbekampagne, mit der Twilio 2015 Manager aufrief, ihre Entwickler selbst entscheiden zu lassen, mit welchen Programmen sie arbeiten.
Lange galt in Großkonzernen die Regel „Niemand wird gefeuert, weil er IBM kauft“. Wer Software von einem etablierten Anbieter wie SAP, Oracle oder eben IBM kauft, kann scheinbar nichts falsch machen – selbst wenn die eigenen Entwickler an den komplizierten, wenig an ihren Anwendungsfall angepassten Lösungen verzweifelten.
Software werde in jeder Branche lebensentscheidend, schreibt Lawson. Das ist eine Einsicht, die selbst bei Traditionstankern der deutschen Industrie wie Siemens und Volkswagen angekommen ist. Autos, Turbinen und Kernspintomografen sollen durch regelmäßige Updates verbessert werden. Jedes Gerät, egal wie groß und teuer, geht den Weg des Smartphones.
„Ask Your Developer“ ist ein Handbuch, wie Unternehmen die Transformation zum Softwarekonzern meistern können. Die sei genauso sehr eine technologische wie eine kulturelle Herausforderung. Das ist keine neue Erkenntnis, doch Lawson schildert sie in so eingängigen Begriffen und Anekdoten, dass die Botschaften selbst bei Digital-Phobikern in den letzten Trutzburgen des deutschen Mittelstands ankommen könnten.
Entwicklern Autonomie geben ist aber nur der erste Schritt. Jede Initiative, jedes neue Feature oder Produkt sollte als Experiment betrachtet werden. Twilio würde 300-mal am Tag Details an seinen Produkten verändern – oft mit Blick darauf, welche Indikatoren in ein paar Tagen oder Wochen zeigen könnten, ob die Anpassungen sinnvoll waren oder nicht.
An die Stelle fester Überzeugungen sollen Hypothesen treten, die mit kleinem Team und Budget getestet werden können. Erst wenn das kleine Experiment Hoffnung weckt, solle es größer ausgerollt werden. Wenn nicht, könne es mit geringem Aufwand beerdigt werden.

„Topmanager können Ideen haben, einfache Angestellte auch.“
Oft aber liege die Wahrheit dazwischen. Wenn Unsicherheit herrscht, ob das Projekt größeren Aufwand wert ist, solle ein Manager auf seine Mitarbeiter vertrauen. „Entwickler hassen Bullshit und interessieren sich für Fakten“, schreibt Lawson. Und niemand wolle an einem siechen Projekt arbeiten, nur um seinen aktuellen Job zu behalten – schon gar nicht begehrte Software-Entwickler.
Das stimmt sicher nicht immer und im Silicon Valley, das Lawson gut kennt, wahrscheinlich mehr als in einem deutschen Dax-Konzern mit Betriebsrat und Kündigungsschutz. Doch der Twilio-Chef hat praktische Tipps, die sich auch nach Stuttgart oder München übertragen lassen: etwa aus der Anfangsphase von Amazons Alexa.
Das Team, das die smarte Assistentin entwickelte, war selbst auf den Ruinen des wohl größten gescheiterten Experiments von Amazon – des Fire Phone – errichtet worden. Statt die Schmach des gescheiterten Smartphoneprojekts auf der Stirn zu tragen, bekam das Team ein unschätzbares Privileg: Es durfte aus dem ganzen Konzern Entwickler abwerben, sofern die Lust hatten, an der sprechenden Helferin mitzuarbeiten. Heute dominieren Amazons smarte Echogeräte ihren Markt.
Mit reinen Softwareprodukten, die Twilios Geschäft ausmachen, sind Experimente natürlich einfacher als mit einem neuen Pkw-Modell oder einer Flugzeugturbine. Aber wie weit das gilt, stellt Lawson im Gespräch infrage. Tesla verändere die Reichweite der Batterie oder die Höchstgeschwindigkeit, aber mache seine Autos auch mit Software sicherer.
Nachdem ein Tesla vor einigen Jahren Feuer fing, als er auf der Autobahn über ein herumliegendes Metallteil gefahren war, reagierte der Konzern mit einem Software-Update. Seitdem fahren Tesla-Modelle bei hoher Geschwindigkeit etwas höher als sonst, und die Batterie, die wie ein Surfbrett unterhalb des Autos liegt, kann nicht mehr so leicht beschädigt werden. „Tesla ist heute der wertvollste Autobauer“, sagt Lawson. „Das ist der Wert des Software-Mindsets.“
Lawson hat ein gut lesbares Buch aus der Praxis geschrieben. Die allgemeinen Lehren, die er zieht, unterscheiden sich nur in Nuancen von denen anderer Managementbücher aus der Feder von Silicon-Valley-Größen wie Reed Hastings’ „Keine Regeln“. Das liegt vermutlich nicht an einem Mangel an Kreativität der Autoren. Sondern daran, dass im Digital-Zeitalter für erfolgreiche Unternehmen gilt, was Tolstoi über glückliche Familien schrieb: Sie sind sich alle ähnlich.
Wer die hierarchische Kultur mit scheinbar allwissenden Chefs, verängstigten Untergebenen und frustrierten Entwicklern brechen will, hat nun noch eine Anleitung, das zu tun. Er muss nur mal damit anfangen.
Mehr: Aufstand gegen die Zahlenknechte: Braucht es mehr Kreatives in deutschen Chefetagen?
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