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Ehemaliger Bundesfinanzminister Manfred Lahnstein schreibt einen Weckruf an das deutsche Gewissen

In seinem neuen Buch würdigt Manfred Lahnstein eine Sozialdemokratie, die es so in der SPD nicht mehr gibt. Es ist ein beherztes Lebenszeichen im Nachhinein.
20.03.2021 - 09:38 Uhr Kommentieren
Grandseigneur einer Partei, die er mit 40 Jahren nicht vorausgekannt hätte. Quelle: dpa
Manfred Lahnstein (Mitte) 2018 mit Olaf Scholz (l.) und Ehefrau Sonja Lahnstein-Kandel

Grandseigneur einer Partei, die er mit 40 Jahren nicht vorausgekannt hätte.

(Foto: dpa)

Mülheim/Ruhr „Der Freiheit eine Rettungsgasse!“ – Mit diesem Ruf stürzt sich Manfred Lahnsteins jüngst erschienenes Buch mit Wonne, aber – wie ich hoffe – auch mit einer Portion Ingrimm ins Gefecht. Der Titel moduliert ein Gedicht aus dem Jahre 1841 des „Jungdeutschen“ Georg Herwegh: „Der Freiheit eine Gasse!“

Damals war wenig zu retten. Man musste noch alles erkämpfen, gegen Bajonette und Erschießungskommandos. Deutschland schickte sich an (zweiter Versuch nach dem Bauernkrieg) etwas Demokratie zu wagen. „Gott sei Dank verboten!“ dachte der biedermeierliche Michel und ließ sich das gefährliche Spielzeug „Parlament“ durch Bismarck schnell wieder aus der Hand nehmen. Auch dem dritten Versuch (Weimar) mangelte es an Demokraten. Wir wissen, wie er endete.

Nun ist wieder Gefahr, und es sieht nicht so aus, dass „auch das Rettende wächst“ (Hölderlin). „Rettungsgasse“ heute heißt ja: Da ist ein schwerer Unfall, und Retter kommen nicht durch. Störer, Drängler, Voyeure behindern ihre Arbeit.

Lahnstein war Mitglied des Bundestages, Bundesfinanzminister, Kommissionär der EU, nach seinem Rückzug aus Kabinett und Parlament Präsident der Zeit-Stiftung. Mit 83 Jahren ist er Grandseigneur einer SPD, die er mit 40 Jahren nicht vorausgekannt hätte. Sein Buch versammelt und redigiert Vorträge, die ihm immer noch oder wieder fällig erscheinen. Frei nach Bertolt Brecht: „Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich,/und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.“

Annäherungen an die eigene Zeitgeschichte tun gut daran, die Haltung des Ich-Erzählers zu wählen. Die Wahrnehmung der Ereignisse ist Wahr-Nehmung. Man nimmt, greift zu, bearbeitet. „Wie man’s nimmt“, entscheidet sich die subjektive Bewertung. Das hat zugeneigten Reiz. Entweder uns überraschen die Wahrheiten oder die Wehmut des Verfassers. Es könnte auch die des Lesers sein. Meine ist es.

Meine fidele Resignation beschämt seine Empathie jedenfalls.

Lahnstein würdigt eine Sozialdemokratie, die es so in der SPD nicht mehr gibt. Unter ihren Füßen hat sich die Tektonik der Parteienlandschaft verschoben. Immer wieder galt es, Koordinaten neu zu bestimmen. Schon Godesberg war der Abschied vom Klassenkampf. Das ermöglichte einen Modernisierungsschub, den auch die Schub-Umkehr des linken Flügels nicht verhindern konnte.

Therapie der Klimakatastrophe und Verteidigung der Demokratie

Drei historische Schritte waren überfällig und zu tun; sie gehören bis heute in die Haben-Spalte von Republik und Partei: Überwindung des Kalten Krieges (Ostverträge). Aggiornamento der Gesellschaft (Justizreform) und Versöhnung der sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik mit dem kleinen Einmaleins (Agenda 2010).

Heute sind zwei weitere Schritte fällig: Therapie der Klimakatastrophe und Verteidigung der Demokratie.

Auf diese kommt es ihm besonders an. Freiheitsliebe und Freiheitsdrang waren die Konstanten seines Lebens. Deshalb erspürt er Unheil. Die verfassungsmäßig garantierte Freiheit, aber auch die freie Entfaltung der Persönlichkeit seien „Aufforderung an jeden von uns“. Das sei nunmehr preisgegeben.

Manfred Lahnstein: Der Freiheit eine Rettungsgasse.
Nomos
Baden-Baden 2020
157 Seiten
48 Euro

Zahlreiche Eingriffe haben sich eingeschlichen und werden kaum noch bemerkt. Auf diesem Humus wachsen populistisch-autoritäre Neigungen und Regime. Die müssen nicht mehr putschen. Sie lassen sich auf einer Woge von Desinformation und Demagogie bequem an die Staatsspitze tragen.

Lahnsteins Buch ist ein beherztes Lebenszeichen im Nachhinein. Man wandert durch politische Bilder einer Lebensausstellung. Es geht nicht um Stationen, sondern um zentrale Begriffe: kulturelle Identität und Verfassungspatriotismus, Demokratie und Wohlfahrtsstaat. Europa, Kunstfreiheit und Risikogesellschaft.

Nie zu vergessen: die SPD als Partei der Freiheit. Aber das „Denken in Programmen“ muss beiseitetreten, um die „Notwendigkeiten der praktischen Politik“ durchzulassen. Was nützt es dem Wanderer, wenn die Karten richtig sind, aber das Gelände falsch?

Wen wundert’s: Lahnsteins Buch hat eine melancholische Komponente. Es ist Vermächtnis eines Homo politicus, der sich der tragenden Werte seines Lebens vergewissert, während sie uns durch die Finger rinnen. Die 160 Seiten sind Gewissenserforschung und Weckruf. Sie gelesen zu haben verpflichtet zu erhöhter Wachsamkeit.

Mehr: Streit zwischen Union und SPD – acht Projekte, die von der Großen Koalition nicht mehr umsetzbar sind

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