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Gastbeitrag Baerbock würdigt Merkel: Im Dienst für eine freie Welt

Sich selbst zurücknehmen zu können, hat das Machtverständnis dieser Republik und, ja, auch der Welt, verändert. Allerdings hatte dieses subtile Verständnis von Führung auch seinen gesellschaftlichen Preis.
  • Annalena Baerbock
13.09.2021 - 12:00 Uhr Kommentieren
Ein neues, anderes Machtverständnis passiert nicht einfach. Quelle: Reuters
Angela Merkel und Annalena Baerbock im Bundestag

Ein neues, anderes Machtverständnis passiert nicht einfach.

(Foto: Reuters)

Im November 2018 ehrten die deutschen Zeitschriftenverleger Angela Merkel für ihre Lebensleistung. Mir bleibt eine Szene des Abends in Erinnerung, die für mich einen beeindruckenden Teil ihrer Kanzlerinnenschaft ausmachte. Wir stießen zu etwas späterer Stunde an diesem Galaabend aufeinander.

Während des Gesprächs kamen die Eltern des ermordeten slowakischen Investigativreporters Ján Kuciak vorbei. Er wurde gemeinsam mit der ebenfalls ermordeten Journalistin Daphne Caruana Galizia aus Malta posthum für seinen Einsatz für die Pressefreiheit geehrt. Angela Merkel stockte, bot den beiden einen Platz an und meinte zu mir: „Kümmern Sie sich vielleicht gleich noch mal ein bisschen um die beiden.“ Das seien ganz einfache Menschen, zum ersten Mal in Berlin, wahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt in Deutschland und auf einer Gala.

Obwohl die Kanzlerin selbst eigentlich gerade gehen wollte, blieb sie und vertiefte sich selbst mit ins Gespräch. Der von Königin Rania Al Abdullah in ihrer Laudatio gepriesene unerschütterliche Einsatz für Stabilität, Wohlstand, Freiheit und Frieden zeigt sich eben nicht immer nur auf der großen Bühne.

Größe beweist sich gerade bei Staatslenkerinnen und Staatslenkern im Kleinen. Ehrliches Interesse an Menschen zu haben. Dafür muss man selbst wachsam bleiben. Einen guten moralischen Kompass besitzen. Mensch bleiben. Bodenständig statt machtverliebt.

Angela Merkels Freiheitsverdienst ist aus meiner Sicht genau das: In Zeiten, in denen zunehmend egozentrische, teils autokratische Männer auf die internationale und zum Teil europäische Bühne traten, mit Demut, Würde, Fakten, Anstand und Respekt vor Regeln zu führen. Ihre Gesten, Worte, ihre Macht sollen nicht ausstechen, sondern sind unprätentiös. Sich selbst zurücknehmen zu können und in den Dienst der Sache zu stellen, hat das Machtverständnis dieser Republik und, ja, auch der Welt verändert.

So begann auch Angela Merkels Amtszeit: „Wer hätte gedacht, dass das höchste Regierungsamt schon in diesem Jahr einer Frau übertragen wird?“, fragte Angela Merkel in ihrer ersten Regierungserklärung als Bundeskanzlerin im November 2005. Um es sogleich in einen größeren Kontext zu rücken: „Das […] ist für viele von uns eine Überraschung, und ich sage: manches davon auch für mich. Aber es ist nicht die größte Überraschung meines Lebens. Die größte Überraschung meines Lebens ist die Freiheit.“

Als ostdeutsche, protestantische Frau in einer von westdeutschen älteren Männern dominierten Partei Kanzlerkandidatin und Kanzlerin zu werden, war tatsächlich „eine Überraschung“.

Die Codes der Macht an der Spitze der Republik hatten bis dahin immer explizit funktioniert: schneidig wie bei Helmut Schmidt, mit ganzem Körpereinsatz wie bei Helmut Kohl oder donnernd wie bei Gerhard Schröder. Mit Angela Merkel hingegen gab es kein Basta mehr. Ich-Botschaften wurden rar, Zeichen subtiler, Auslassungen häufig interessanter als Gesagtes. Ein Land musste lernen, genauer zuzuhören und hinzusehen. Und sich weiter zu emanzipieren.

An diesem 30. November 2005 saßen auf der Gästetribüne des Plenarsaals des Bundestags Friede Springer, Isa Gräfin von Hardenberg und Eva Christiansen nebeneinander. Sicher kein Zufall. Auch ihre folgenden politischen Netzwerke waren weiblicher: Ursula von der Leyen, Annette Schavan, Beate Baumann, Eva Christiansen gehörten dazu.

Annette Schavan: Die hohe Kunst der Politik. Die Ära Angela Merkel.
Verlag Herder
Freiburg 2021
320 Seiten
22 Euro

Und die Männer um sie herum wie Peter Hintze, Thomas de Maizière oder Peter Altmaier waren nicht vom Schlag der selbstverliebten Alphatiere. Das ist in 16 Jahren Merkel so geblieben und hat auf subtile Art nicht nur das Verständnis von Macht, sondern von weiblicher Macht für viele Menschen und gerade jüngere geprägt.

Allerdings hatte dieses subtile Verständnis von Führung auch seinen gesellschaftlichen Preis. Die Kanzlerin hat das Land nicht durch progressive Debatten und Reformen modernisiert, sondern vor allem als Vorbild durch die Art ihres Auftritts und die historische Dauer ihrer Kanzlerinnenschaft. Sie stand nicht an der Spitze der Veränderung, sondern hat auf Veränderungen reagiert.

Menschliche Offenheit

Damit war auch das veränderte Machtverständnis ein langer Prozess. Sie hat auf ihre Weise auf der ganzen Welt inspiriert, sich aber nur selten politisch für gesellschaftliche Reformen starkgemacht. Ich denke beispielsweise an die „Ehe für alle“, die sie in einer öffentlichen Veranstaltung eher zufällig selbst ermöglichte und zugleich ablehnte.

Angela Merkel hat (ihre) Identität selten politisiert, sondern vor allem die Freiheit. Als ehemalige DDR-Bürgerin war sie klar entschieden, das Vorgegebene, Vorgezeichnete, Unabänderliche im Hintergrund zu belassen und das Selbstbestimmte in den Vordergrund zu stellen. Dabei war Angela Merkel auch als Bundeskanzlerin gerade dann am stärksten, wenn sie sich einmal öffnete.

So wie im September 2015, als sie den Kritikerinnen und Kritikern einer humanen Geste Deutschlands im Angesicht von Millionen aus dem Krieg flüchtender Syrerinnen und Syrer auf einer Pressekonferenz entgegenhielt: „Dann ist das nicht mehr mein Land.“ Oder im Frühjahr 2020, als sie die hereinbrechende Pandemie eine „demokratische Zumutung“ nannte.

Diese Offenheit brachte ihr auf der ganzen Welt gerade auch in progressiven Kreisen unglaublich viel Respekt ein. Doch diese Momente der Offenheit waren eben nicht Anfang einer folgenden politischen Reform der europäischen Flüchtlingspolitik. Nicht eingebettet in eine von ihr geprägte gesellschaftliche Debatte.

Auch wenn Merkels Amtszeit ohne Frage von heftigen Krisen – Finanz-, Euro-, Flüchtlings- und nun Coronakrise – geprägt war, in der vor allem mit kühlem Kopf reagiert werden musste und wenig Raum für Grundsatzfragen blieb, hätte es durchaus Zeitfenster gegeben, Risiken einzugehen, notwendige Veränderungen anzustoßen.

Vor allem 2013. In einem Moment, wo alle politischen Akteure schwach wirkten, außer der Bundeskanzlerin. Selten war die CDU so eins mit ihrer Vorsitzenden. Angela Merkel holte für die Union fast die absolute Mehrheit, und von den Wänden des Adenauerhauses hingen am Wahlabend Plakate mit dem Aufdruck: „Wir bleiben Kanzlerin“. Die Wahl war der größte Wahlerfolg Merkels. Ich wurde in dem Jahr Bundestagsabgeordnete. Fortan habe ich die Kanzlerin aus einer anderen Perspektive betrachtet. Der Perspektive der Beteiligten.

Es ist die Aufgabe meiner Generation, diese neue Ästhetik der Macht zu wahren und zugleich die Hindernisse der Freiheit offensiv zu verändern. Annalena Baerbock

Kaum eine Politikerin hat die großen globalen Herausforderungen so klar gesehen wie Angela Merkel. In ihrer Rede an der Harvard-Universität 2019 sagte sie, dass „wir auch alles Menschenmögliche unternehmen (können und müssen), um diese Menschheitsherausforderung wirklich in den Griff zu bekommen […]. Ich werde mich deshalb mit ganzer Kraft dafür einsetzen, dass Deutschland, mein Land, im Jahr 2050 das Ziel der Klimaneutralität erreichen wird.“

Angela Merkel hatte als Umweltministerin das Kyoto-Protokoll mitverhandelt (1997), hatte als Kanzlerin Gletscher vor Grönland schmelzen sehen (2007) und in Elmau mit den G7-Staaten die Einhaltung des Zwei-Grad-Limits beschlossen (2015). Ich habe mich immer wieder gefragt, warum sie innenpolitisch in den Jahren, in denen gerade keine akute Krise das Regierungsgeschehen dominierte, nicht mehr für das getan hat, wofür sie lange Zeit auf der ganzen Welt gefeiert wurde.

Eine andere Art der Macht

Ja, angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, hätte ich mir mehr Mut zur Veränderung gewünscht. Und zugleich verdeutlicht mir meine eigene Zeit in der Berufspolitik, wie hart die Beharrungskräfte – die gesellschaftlichen und ebenso die innerparteilichen – sein können.

Was für ein Kraftakt, diese andere Art, die weiblichere Art des Führens, die ich eingangs fast als logischen Fortlauf der Kanzlerinnengeschichte beschrieben habe, in der Realität ist. Denn gerade ein neues, anderes Machtverständnis passiert nicht einfach. Erst recht nicht ein weiblich geprägtes. Erst recht nicht in einer Partei, einer Gesellschaft, die nach wie vor mit der Quote hadert, ganz zu schweigen von der Parität.

Der Frauenanteil der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag hat sich während ihrer Kanzlerschaft von 2005 bis 2017 nicht verändert: 20 Prozent. Mit einem Frauenanteil von 32 Prozent im Parlament insgesamt nimmt Deutschland im internationalen Vergleich derzeit Platz 42 ein. Auch die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen für gleiche Arbeit hat sich in den vergangenen 25 Jahren kaum verbessert.

Und zugleich macht es einen großen Unterschied, ob Kinder damit aufwachsen, dass es selbstverständlich ist, dass eine Frau das Land führt oder einen Dax-Konzern. Vorbilder prägen.
Dass ich in den letzten Monaten meiner Kanzlerinnenkandidatur nicht mehr begründen musste, dass auch Frauen Kanzlerin können (sondern sich die Frage auf jüngere Mütter „reduzierte“) – das verdanke ich, das verdanken Millionen Frauen auch einer 16-jährigen Amtszeit von Kanzlerin Angela Merkel.

Um die Verteilung der Macht auf Geschlechter einmal im Ganzen wirken zu lassen: In der Bundesrepublik gab es nach einer Zählung von Zeit Online von 1949 bis 2018 insgesamt 692 Staatssekretäre im Bund: 668 Männer und 24 Frauen. Man kann diese Verhältnisse nicht ignorieren, wenn man die Kanzlerschaft Angela Merkels bewertet. Nichts war daran selbstverständlich.

Das war der historische Kontext in der „Männer-Republik“, in dem Angela Merkel als junge Frau aus der ehemaligen DDR kurz nach der Wiedervereinigung Ministerin für „Frauen und Jugend“ wurde. Sie bekam damals genügend Gelegenheiten, die offiziellen und inoffiziellen Spielregeln der damaligen „Bonner Krawatten-Politik“ kennen zu lernen, bevor sie selbst nach der Macht griff und diese Regeln besser beherrschte als ihre Konkurrenten.

Die Bundeskanzlerin hielt 2019 in der Harvard Universität eine Rede. Quelle: AP
Angela Merkel

Die Bundeskanzlerin hielt 2019 in der Harvard Universität eine Rede.

(Foto: AP)

„Ich bin nicht gegen die Mauer angerannt … Ich habe sie aber auch nicht geleugnet … Da, wo früher eine dunkle Wand war, öffnete sich plötzlich eine Tür […] In diesen Monaten vor 30 Jahren habe ich persönlich erlebt, dass nichts so bleiben muss, wie es ist. […] Was fest gefügt und unveränderlich scheint, das kann sich ändern“, gab Angela Merkel den Absolventinnen und Absolventen in Harvard einen persönlichen Rat mit. Sie meinte es bezogen auf ihre Biografie in der DDR. Es hätte aber auch eine Beschreibung der Politikerin Merkel in den Jahren nach der Einheit sein können. So agierte sie auch in der Politik.

Sie ließ sich überraschen, erkannte früher als andere, wenn sich eine Tür öffnete, und ging hindurch. Sie war offen für Veränderungen und überraschte selbst. Nicht laut und scheppernd, sondern ihrer Art nach.

Türen bauen, nicht nur öffnen

„Konservativ heißt: Bewahren, was uns stark macht, und verändern, was uns hindert“, hat Angela Merkel in ihrer Abschiedsrede als Parteivorsitzende 2018 in Hamburg gesagt. Es ist die Aufgabe meiner Generation, diese neue Ästhetik der Macht zu wahren und zugleich die Hindernisse der Freiheit offensiv zu verändern.

Denn die parteiinterne Welt, der sich Angela Merkel zeit ihres politischen Lebens stellen musste, entspricht nicht (mehr) der Lebensrealität der meisten Menschen in unserem Land. Die Mehrheit der Gesellschaft – und erst recht der jüngeren Generationen – ruft auch in der Krise nicht nach dem „starken Mann“. Die Pandemie hat vielmehr das Gegenteil unterstrichen. In den systemrelevanten Berufen waren es überwiegend Frauen, die das Land am Laufen hielten. Ganz zu schweigen von der Doppelbelastung Homeschooling und Homeoffice.

Und zugleich zeigte das letzte Jahr: Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem Contenance und Umsicht im überraschenden Moment der Krise nicht mehr ausreichen, um die notwendigen Veränderungen anzustoßen, sondern Vorsorge und planvolle Erneuerung.

Wenn die Welt im permanenten Wandel ist, lässt sich Freiheit auf Dauer nur verwirklichen, wenn man auch bereit ist, durch neue Türen nicht nur zu gehen, sondern im Zweifel auch neue Türen in Wände zu bauen, durch die man selbst und andere hindurchgehen können. Das hat nicht zuletzt im April 2021 das Bundesverfassungsgericht in Sachen Klimaschutz und der Freiheitsrechte junger Generationen unterstrichen. Und ich glaube zu wissen, dass Angela Merkel als Meisterin der hohen Kunst der Politik damit ganz einverstanden wäre.

Mehr: Die etwas andere Politik – Buchempfehlungen zum Wahlkampf

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