Konrad Adenauer: Neue Bücher werfen kritisches Licht auf ersten Kanzler

Adenauer ließ Politiker und Führungsgremien der SPD systematisch bespitzeln.
Bonn. Konrad Adenauer wird der Spruch zugeschrieben, es gebe Dinge, über die spreche er nicht einmal mit sich selbst. In diesem Sinn hat der „Alte“ auch jenes Geheimnis mit ins Grab genommen, das der Historiker Klaus-Dietmar Henke jetzt in seinem gerade erschienenen Buch „Adenauers Watergate“ enthüllt – ein Komplott gegen die SPD-Spitze.
Der plakative Titel mit seiner Analogie zum Versuch von US-Präsident Richard Nixon, das Hauptquartier der Demokraten in Washington auszuspionieren, führt zwar in die Irre. „Tricky Dicky“ musste sich für den Wanzenangriff ja verantworten und trat 1974 als bislang einziger Präsident der US-Geschichte zurück.
Adenauer hingegen wurde nie für das Komplott gegen die SPD-Spitze zur Rechenschaft gezogen – der fortgesetzte Angriff des Bundesnachrichtendienstes (BND) und seines Vorläufers blieb zu lange im Dunkeln.
Wäre er früh ans Licht gekommen, hätte es für Adenauer 1967 wohl kaum zum Staatsbegräbnis gereicht. So missverständlich der Titel auch wirkt, so erhellend ist der Inhalt von Henkes Buchs.
Es fußt auf seinem zweibändigen Werk „Geheime Dienste“ und verarbeitet erstmals zugängliches Material des BND sowie Akten der Konrad-Adenauer-Stiftung. Henke rekonstruiert eklatanten Verfassungsbruch und „das größte Demokratieverbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik“ – die systematische Bespitzelung von Politikern und Führungsgremien der SPD, die Nixons Machtmissbrauch in den Schatten stellt: Von Herbst 1953 bis Frühjahr 1962 verwandelte der Auslandsgeheimdienst, dem innen- und parteipolitische Aufklärung strikt untersagt war, die Zentrale der Sozialdemokraten in Bonn in ein gläsernes Haus.

Durch den Verrat war der Kanzler und CDU-Vorsitzende über interne Konflikte, Wahlkampfpläne und strategische Weichenstellungen der Partei, wie Henke bilanziert, „ungleich besser im Bilde als die allermeisten Mitglieder und Funktionäre der SPD“.
Im Zentrum des Komplotts standen neben Adenauer vier weitere Männer: Auf der „Zuträgerseite“ waren das Siegfried Ortloff, bestens vernetzter Sekretär des SPD-Parteivorstands und Personalreferent der Bundestagsfraktion, sowie Siegfried Ziegler, Mitarbeiter der Organisation Gehlen mit guten Kontakten in die SPD-Führung.
Bei Ortloff dürften ominöse Bedenken gegen den innerparteilichen Aufstieg von Ex-Kommunist Herbert Wehner ein Motiv für den Verrat gewesen sein, bei Ziegler waren es wahrscheinlich Karriereambitionen.
Auf der „Adressatenseite“ standen Reinhard Gehlen, Chef der gleichnamigen Organisation, die 1956 im BND aufging, und der Chef des Kanzleramts, Hans Globke. Beide hatten zur Funktionselite des NS-Regimes gehört – Gehlen als General der Wehrmachtsabteilung Fremde Heere Ost, Globke als einflussreicher Ministerialrat im Reichsinnenministerium, zuständig für die juristische Stigmatisierung und Verfolgung der Juden.
Mit Adenauer verband sie die irrwitzige Überzeugung, Deutschland wäre nach einem Machwechsel zur SPD „dem Untergang“ geweiht.
Gehlen leitete im Laufe der Jahre rund 500 Spitzelberichte an Globke weiter, der sie dann Adenauer auf den Tisch legte. Dessen handschriftliche Anmerkungen und Textmarkierungen zeigen, wie intensiv er sich mit den Papieren beschäftigte: Adenauer erfuhr beispielsweise rechtzeitig, mit welchen SPD-Attacken in der nächsten Bundestagssitzung zu rechnen war und wie die Sozialdemokraten die Kampagne gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik unterstützen wollten.

Adenauer war der irrwitzigen Überzeugung, Deutschland wäre nach einem Machwechsel zur SPD „dem Untergang“ geweiht.
Er war auch sofort darüber im Bilde, dass SPD-Chef Erich Ollenhauer 1961 intern zugunsten des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt, auf eine Kanzlerkandidatur verzichtete – und beauftragte Gehlen, belastendes Material über Brandt aufzuspüren beziehungsweise „abwehrmäßig“ gegen den SPD-Hoffnungsträger vorzugehen.
Gehlen versorgte Adenauer stetig mit Interna aus den Führungsgremien seines politischen Hauptgegners – das „konspirative Komplott zwischen Bundeskanzleramt und Bundesnachrichtendienst“, urteilt Henke, wollte den fairen politischen Wettbewerb außer Kraft setzen und gefährdete so die Grundvoraussetzung von Demokratie.
Das ist umso bemerkenswerter, als Adenauer erst wenige Jahre zuvor in prominenter Position an der Erarbeitung des Grundgesetzes mitgewirkt hatte, das den Rückfall in antidemokratische Zeiten verhindern sollte.
Alles andere als „kaltgestellt“
Die Rolle des späteren Kanzlers als Präsident des Parlamentarischen Rats, der 1948/49 in Bonn die westdeutsche Verfassung schuf, stellt Michael F. Feldkamp ins Zentrum seines Buchs „Adenauer, die Alliierten und das Grundgesetz“.
Der Historiker zeichnet die Grundsatzkonflikte zwischen CDU/CSU und SPD über den provisorischen Charakter der Verfassung (Grundgesetz oder Organisationsstatut) und eine stärker föderale (Staatenbund) oder zentrale (Bundesstaat) Ausrichtung der künftigen Republik nach und betont zu Recht, dass die SPD mit der Wahl Adenauers zum Präsidenten ein fatales Eigentor schoss: Die Sozialdemokraten meinten, Adenauer auf dem repräsentativen Posten elegant „kaltgestellt“ zu haben. Ihr Fraktionsvorsitzender Carlo Schmid sollte stattdessen als Vorsitzender des Hauptausschusses die Beratungen öffentlichkeitswirksam dominieren.
Das Gegenteil war der Fall. Denn Adenauer beschränkte sich nicht auf die Leitung der Plenarberatungen. Durch seine Begegnung mit den Ministerpräsidenten und Militärgouverneuren der Westalliierten trat er vielmehr ins „Rampenlicht der gesamten deutschen Öffentlichkeit“ und eroberte sich eine „politische Schlüsselposition“, die seine weitere Karriere maßgeblich begünstigen sollte.

Adenauer wurde, wie Bundespräsident Theodor Heuss rückblickend formulierte, „auf ganz natürliche Weise der Sprecher der werdenden Bundesrepublik“. Zutreffend weist Feldkamp auch die seinerzeit von Sozialdemokraten und Kommunisten erhobenen Anschuldigungen zurück, Adenauer habe den Besatzungsmächten Interna aus dem Parlamentarischen Rat verraten und im Dezember 1948 die Militärgouverneure zu „Schiedsrichtern“ zwischen SPD und FDP auf der einen und CDU/CSU auf der anderen Seite bestellt. Diese Vorwürfe, die als „Frankfurter Affäre“ in die Vorgeschichte des Grundgesetzes eingegangen sind, widerlegt der Autor.
Feldkamp fördert in zentralen Punkten zwar keine neuen Erkenntnisse zutage, hebt aber zu Recht hervor, dass die Vorgaben der Besatzungsmächte für die Verfassungsberatungen in Form der „Frankfurter Dokumente“ und auch spätere alliierte Interventionen sich ausnahmslos „innerhalb der deutschen Verfassungstradition bewegten“ – womit bis heute erhobene Vorwürfe, das Grundgesetz sei ein „Oktroi der Alliierten“, blanker Unsinn sind.
Adenauer hat, wie der Autor in sachlicher Diktion nachzeichnet, als Präsident des Parlamentarischen Rats einen guten Job gemacht. Umso irritierender ist Feldkamps abrupter Stilwechsel auf den letzten Seiten. Dort warnt er plötzlich vor „SPD-nahen“ Historikern, die Adenauers Politik „einer Neubewertung“ unterziehen wollten, die „ideologisch motiviert“ sei. Alle Versuche, die „im kollektiven Gedächtnis bislang positiv“ bewertete „Adenauer-Ära“ umzuschreiben, müssten abgewehrt werden.
Das ist bestenfalls naiv und schlimmstenfalls der Versuch, Maulkörbe zu verhängen – zumal es die von Feldkamp insinuierte übereinstimmend positive Beurteilung von Adenauers Wirken nach 1945 nie gegeben hat, trotz seiner wegweisenden Außenpolitik, die Bundesrepublik ans westliche Lager zu binden. Am Gründungskanzler schieden sich schon immer die Geister.
Adenauers „Nachtseite“
Als Adenauer etwa im März 1946 – kein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs – forderte, man müsse die „Mitläufer“ des NS-Regimes nun „endlich in Ruhe lassen … Sie können in unsere Partei eintreten“, empfanden das zahllose Gründungsmitglieder der CDU als furchtbaren Schlag in die Magengrube – jeder zweite Christdemokrat der ersten Stunde war in der Hitlerzeit Oppositioneller oder sogar Mitglied von Widerstandskreisen gewesen.
Später dann vergiftete Adenauers Antikommunismus, der nahtlos in eine Verteufelung der SPD und aller irgendwie Missliebigen, Unbequemen und Unangepassten überging, das innen- und gesellschaftspolitische Klima der jungen Republik.

Am Gründungskanzler schieden sich schon immer die Geister.
Viele Historiker halten die 1950er-Jahre deshalb zu Recht für illiberal und kritisieren die repressiven und autoritären Züge von „Kanzlerdemokratie“ und „Adenauer-Restauration“. Daran ändert auch das „Wirtschaftswunder“ nichts. Selbst der wohlgesonnene Adenauer-Biograf Hans-Peter Schwarz wies schon 2004 auf manche „Nachtseite“ seines Protagonisten hin.




Einen Teil davon hat der Historiker Henke jetzt ausgeleuchtet. Das gegen die SPD-Führung gerichtete konspirative Komplott von Bundeskanzleramt und Bundesnachrichtendienst fordert eine Revision des Adenauer-Bildes geradezu zwingend heraus: Der Gründungskanzler war zwar ohne Zweifel eine historisch bedeutende Person, gleichzeitig aber auch völlig bedenkenlos, wenn es um die Sicherung seiner Macht ging.
Ohne jeden Skrupel setzte er sich über die Werte der Republik hinweg, die er gerade erst mitgegründet hatte.





