Managementliteratur So viel Jeff Bezos steckt in Jack Ma

Die beiden Gründer haben einige Gemeinsamkeiten.
Düsseldorf Der reichste Mann Chinas ist eine Zitatmaschine. Anfang November 2006, auf einer Tech-Konferenz in San Francisco, serviert Alibaba-Gründer Jack Ma dem Publikum Managementweisheiten, die man gut und gerne auf Kaffeetassen drucken könnte. „Glaubt an eure Träume“, ruft Ma den Konferenzgästen zu.
„Findet gute Leute! Und stellt sicher, dass der Kunde glücklich ist!“ In Amerika sehe er hingegen jede Menge Unternehmen, die ihre US-Manager nach China schickten. „Damit machen sie vielleicht ihren Boss in den USA glücklich“, mahnt Ma, „aber nicht ihre Kunden in China.“
Während sich damals noch einige der Konferenzgänger gefragt haben dürfen, wer genau der chinesische Managementguru auf der Bühne eigentlich ist, sitzt ganz hinten im Auditorium ein Mann über Stift und Papier gebeugt, der jedes Wort Mas notiert. Es ist Jeff Bezos, Chef und Gründer von Amazon.
Wenige Monate später übernimmt Bezos in einem Interview mit dem „Wall Street Journal“ faktisch Mas Managementlehre. Es gebe zu viele US-Konzerne, die – Zitat – „ihre amerikanischen Bosse statt ihrer chinesischen Kunden glücklich machen“, meint der Amazon-Chef. Diesen Fehler wolle er nicht machen.
Fallstudien chinesischer Erfolgsfirmen
Managmentlehren aus einer sozialistischen Marktwirtschaft – nicht nur den Amazon-Chef inspirieren sie. Derzeit erscheinen immer mehr Managementtitel aus Fernost, die sich an westliche Fach- und Führungskräfte richten. Sind die ersten Fallstudien zu chinesischen Erfolgsunternehmen oft nur in englischer Sprache erschienen, werden nun die Titel zunehmend auch ins Deutsche übersetzt.

Ming Zeng: Smart Business. Alibabas Strategie-Geheimnis
Campus
2019
318 Seiten
34,95 Euro
ISBN-13: 978-3593509945
Erst vor Kurzem ist auf Deutsch zum Beispiel das Buch des langjährigen Alibaba-Chefstrategen Ming Zeng erschienen. In „Smart Business“ erklärt der einstige Manager auf gut 200 Seiten – plus 100 Seiten Anhang – die Erfolgstreiber des chinesischen Onlineriesen, der zumindest bei der Kundenzahl mit 500 Millionen Nutzern weltweit seinen personell deutlich besser ausgestatteten Rivalen Amazon (nur gut 300 Millionen Nutzer) überholt hat.
Vor allem aber ermöglicht dieses Buch nun jedem an Management interessierten Leser einen direkten Vergleich zwischen den Methoden, nach denen die beiden globalen E-Commerce-Champions geführt werden. Denn auch ein Standardwerk über Jeff Bezos und seinen Konzern ist gerade neu aufgelegt worden: „Der Allesverkäufer“ vom US-Journalisten Brad Stone.
Eines scheint Ming Zeng dabei sehr wichtig: „Alibaba ist nicht Chinas Amazon-Kopie“, heißt es bereits fett gedruckt in der Einleitung. Schließlich sei der chinesische Konzern kein Einzelhändler, sondern eine komplexe Handelsplattform, die in der Summe das leiste, „was Amazon, Ebay, Paypal, Google, Fedex, alle Grossisten und zahlreiche US-amerikanische Hersteller tun, gewürzt mit einer guten Prise Finanzdienstleistungen“.
Dass das Wort „Amazon“ dennoch an gut zwei Dutzend Stellen im Alibaba-Buch vorkommt, soll den Leser da bitte nicht irritieren. Zum Vergleich: Alibaba kommt in „Der Allesverkäufer“ gar nicht vor.
Zwar stimmt es, dass sich Internet und Onlinehandel in China deutlich anders entwickelt haben als in den USA. Oder wie Jack Ma es sagt: „In China ist E-Commerce das Hauptgericht, in den USA aber nur der Nachtisch.“ So finden laut McKinsey 42 Prozent des weltweiten E-Commerce mittlerweile in China statt.
Der US-Anteil am globalen Onlinehandel beträgt hingegen gerade einmal 24 Prozent. Alibaba sei der Erfolg „auf ganz andere Weise gelungen als Amazon“, argumentiert Zeng. Was dann jedoch folgt, sind einige Parallelen zum vermeintlichen Nicht-Rivalen aus Seattle.
Big Business dank Big Data
Parallele eins: „Daten sind das elementare Gut, ein entscheidender Produktionsfaktor“, schreibt Zeng. Dass das auch für Amazon gilt, dürfte jeder wissen, der schon mal auf das „Collaborative Filtering“ des US-Konzerns angesprungen ist. Auf jene Algorithmen also, „die entscheiden, dass Kunden, die ein bestimmtes Produkt kauften, auch eine Reihe anderer Produkte interessieren könnten“, wie Stone erläutert.

Brad Stone: Der Allesverkäufer. Jeff Bezos und das Imperium von Amazon
Campus
2018
416 Seiten
22,95 Euro
ISBN-13: 978-3593510620
Auch dass sich die großen Speicherfarmen für das eigene datenhungrige E-Commerce-Geschäft separat kommerzialisieren lassen, haben die beiden Internetkonzerne erkannt – ob unabhängig voneinander oder nicht.
So hat Alibaba 2009 die „Alibaba Cloud“ (bis 2028 übrigens offizieller Partner der Olympischen Spiele) begründet, während Amazons 2006 gegründetes Tochterunternehmen „Amazon Web Services“ unter anderem bald mehr als hundert Volkswagen-Werke und -Lager miteinander vernetzen soll, wie erst kürzlich bekannt wurde.
Unterschiede gibt es dennoch reichlich in der Ausgestaltung dessen, was Alibaba-Stratege Zeng in seinem Buch als „Datenintelligenz“ beschreibt. So werden die Daten, die beim Alibaba-Shopping gesammelt und durch Lernalgorithmen weiterverarbeitet werden, nicht nur für Kundenempfehlungen eingesetzt, sondern dienen gar „als Motor geschäftlicher Entscheidungen“. Konkret heißt das: Alles, was automatisiert werden kann, wird automatisiert.
Dieses Datendogma gilt für Amazon nur begrenzt, denn „eine beliebige Kundenanekdote, also genau das Gegenteil von kalten, harten Daten, kann ein so enormes Gewicht haben, dass sie eine Veränderung in Amazons Unternehmenspolitik herbeiführt“, schreibt US-Autor Stone.
Der Journalist beschreibt in seinem Buch eine missglückte Marketingaktion, in der Kunden, die sich auf Amazon ein Gleitgel angeschaut, aber nicht gekauft hatten, auf einmal personalisierte Werbemails mit Sexualhygiene-Produkten erhielten. Bezos, der das Mailing peinlich und erniedrigend fand, soll die Sache so sehr gestunken haben, dass er den zuständigen Manager kurze Zeit später in seinem Büro zusammenfaltete und ihn aufforderte, den Werbekanal sofort dichtzumachen.
Bezos, schreibt Stone, „war bereit, lieber einen profitablen Aspekt seines Geschäfts zu opfern, als Amazons Bindung zu seinen Kunden zu strapazieren“ – ein aufschlussreicher Moment für die Werte und den Sinn des sonst so kühl operierenden Internetgiganten. Auch bei Alibaba spielt der Kunde eine zentrale Rolle, Zeng spricht sogar von einem C2B- (Customer-to-Business) statt des gängigen B2C-Geschäftsmodells (Business-to-Consumer), das Amazon fährt.
Allerdings ist der Kunde in Alibabas Big-Data-Vehikel genauer betrachtet nicht mehr als ein Feedback-Geber, der einen Geschäftsvorgang evaluieren soll. Jeder Jünger agiler Arbeitsweisen kennt das Prozedere, in dem halb fertige Produkte und Dienstleistungen erst mal am Kunden getestet werden – was im Extremfall dazu führen kann, dass eben genau dieser verschreckt das Weite sucht.
Chinas Netzwerkeffekt
Interessant ist in diesem Zusammenhang der offensichtlichste Unterschied zwischen den Geschäftsmodellen von Alibaba und Amazon. Nämlich die Tatsache, dass Amazon als Onlinehändler riesige eigene Warenlager betreibt, während Alibaba sein Plattformgeschäft damit groß gemacht hat, kleine Händler miteinander zu vernetzen und für sie die Logistik zu organisieren.
„Netzwerkkoordination“ nennt Zeng diesen zweiten Baustein seiner Smart-Business-Theorie. Und auch wenn Amazon – unter anderem als Antwort auf seinen US-Rivalen Ebay – seinen „Marketplace“ für Drittanbieter inzwischen etabliert hat, scheint Alibaba in der Beziehung seinen Konkurrenten ein gutes Stück voraus zu sein.
Der Gipfel dieser Netzwerkkoordination ist Alibabas künstlich kreiertes Shoppingfest „Singles’ Day“, das in den letzten Jahren mehr als doppelt so hohe Umsätze wie Amazons „Cyber Monday“ erzielt hat. An diesem Tag orchestriert Alibaba nicht nur Anbieter, Käufer, Hersteller, Lieferanten und Logistiker, sondern setzt deutlich routinierter als Amazon Influencer ein, die Alibabas Kunden in einen Kaufrausch versetzen sollen.
Diese Influencer, die an einem Durchschnittstag wenig bis gar nichts umsetzen und an Spitzentagen wie dem Singles’ Day plötzlich eine Million Yuan (130.000 Euro) auf einmal erwirtschaften, sind oft Hersteller und Shop in einem. Die Waren, die sie feilbieten – meist Kleidung, Schuhe oder Accessoires –, werden über Verkaufscountdowns und limitierte Editionen künstlich verknappt und somit gerade für die junge Zielgruppe begehrlich.
„Da die meisten chinesischen Branchen eine relativ schwache Infrastruktur und nur wenige dominante Akteure aufweisen, gibt es mehr Spielraum für den Neuaufbau ganzer Branchen im Internet“, sagt Zeng. Das rüste chinesische Unternehmen besser dafür, „die Vorteile der Netzwerkkoordination zu nutzen“. Dafür hätten die USA in Sachen Daten die Nase vorn.
Erst wenn man das Wirtschaftsleben sowohl aus östlicher als auch aus westlicher Perspektive betrachte, ergäbe sich ein Gesamtbild, so Zeng: „Erst wenn Yin und Yang aus West und Ost, wenn Daten und Netzwerk aufeinandertreffen, schält sich ein klares Bild der Zukunft heraus. Nur dann können wir heute eine wirksame Strategie formulieren.“ Jeff Bezos kann sich schon einmal einen neuen Kaffeebecher aussuchen.
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