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Problemfeld „Noise“ Wie zufällige Faktoren unsere Urteilsfindung negativ beeinflussen

Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman ergründet mit seinen Co-Autoren, wie Störgrößen Entscheidungen verzerren. Die Wirtschaft koste das viele Milliarden Dollar.
15.05.2021 - 10:00 Uhr Kommentieren
Je nach äußerem Einfluss machen verschiedene Leute verschiedene Fehler bei der gleichen Sache. Quelle: Imago, Getty Images [M]
Störgeräusche

Je nach äußerem Einfluss machen verschiedene Leute verschiedene Fehler bei der gleichen Sache.

(Foto: Imago, Getty Images [M])

München Für Daniel Kahneman kommt dieses Buch viel zu früh, sagt er. Der 87-jährige Wirtschaftsnobelpreisträger hätte am liebsten noch ein paar Jahre weiter geforscht und viel mehr praktische Fälle aus der Wirtschaft verarbeitet: „Aber mit Rücksicht auf mein Alter haben wir da einen Punkt gemacht.“ Auch so steckt ein halbes Jahrzehnt Arbeit in „Noise“, einem Buch über all die Zufallsfaktoren und Störgeräusche, die unsere Entscheidungen oft negativ beeinflussen.

Der weltweit anerkannte Psychologe von der Princeton University sitzt am frühen Morgen in New York, kurz nach dem Aufstehen. Er nimmt viele Fragen im Videogespräch mit Humor. Zugeschaltet sind seine Co-Autoren: von einem französischen Landsitz der langjährige McKinsey-Direktor Olivier Sibony, ein Professor der Pariser Business School HEC, aus Washington der Harvard-Law-School-Veteran Cass R. Sunstein, der seit Kurzem die US-Regierung berät.

Ohne das Coronavirus hätten sie das Buch nicht geschafft, offenbart Sibony: „Wir konnten uns darauf konzentrieren, denn wir hatten ja sonst nicht viel zu tun.“ Und so gingen sie im transatlantischen Trialog Kapitel für Kapitel durch, ein bis zwei Stunden täglich. Das alles im Bewusstsein, im „Verrauschten“, in „Noise“, etwas Neues entdeckt zu haben – das allein die US-Wirtschaft viele Milliarden Dollar koste.

„Es geht in dem Buch darum, dass verschiedene Leute verschiedene Fehler bei der gleichen Sache machen, das nennen wir ,Noise‘. Wenn einer aber zu viele Fehler immer wieder macht, dann ist das ,Bias‘, also eine systematische Verzerrung“, erklärt Kahneman. „Wir beschreiben Dinge, die man nicht erklären kann und die doch zu schlechten Entscheidungen führen.“

„Bias“, das sind Vorurteile, unbewusste persönliche Prägungen. Für „Noise“ sorgen, so die drei Autoren, hauptsächlich Geschmack und Persönlichkeit („Einige Menschen sind für Bullshit empfänglicher als andere“), aber auch Profanes wie das Wetter, der zeitliche Abstand zum letzten Mahl oder das aktuelle Ergebnis des geliebten Sportteams. Je mehr es also regnet, je mehr Stunden seit dem letzten Bissen zurückliegen oder je schlechter die Idole spielen, desto härter die getroffenen Entscheidungen.

Daniel Kahneman, Olivier Sibony, Cass R. Sunstein: Noise.
Siedler
München 2021
480 Seiten
30 Euro

Das Hauptproblem sei, referiert Kahneman, dass „Noise“ zu Irrtümern führe, die Fehler nicht konsistent seien und damit nicht in irgendeiner Richtung vorhersehbar. Es sei aber unmöglich, die Ursachen für „Noise“ exakt zu erforschen. „Wir empfehlen stattdessen den Leuten, ,Noise‘ zu vermeiden.“

Zentraler Satz: „Überall, wo Urteile getroffen werden, gibt es Noise, und zwar mehr, als man denkt.“

Das Buch ist einerseits ein solides theoretisches Werk, das umso mehr Aha-Effekte vermittelt, je tiefer man in den nicht ganz einfachen Stoff eintaucht. Andererseits besticht es durch die Plastizität der gewählten Beispiele von Zufallsschwankungen. Da ist die Versicherungsfirma, in der die Angestellten bei der Berechnung der Prämien für identische Fälle um 55 Prozent abweichen. Da ist die Bank, deren diverse Kreditsachbearbeiter bei der Bewertung eines Objekts um 45 Prozent auseinanderliegen.

Was aber ist mit gestandenen Mittelständlern, „Hidden Champions“ wie in Deutschland, die aus Familientradition handeln und sich oft aufs Bauchgefühl, auf die Intuition verlassen?

Antwort Kahneman: „Wir verneinen nicht, dass manche Leute gut in ihrem Job sind. Und manche Jobs kann man gut erlernen, das stimmt. Aber wir glauben, dass beim individuellen Entrepreneur ebenfalls ,Noise‘ existiert, auch dort, wo man es nicht sieht. Intuition ist noisy, weil sie Information ineffizient nutzt.“

Eine Frage der Entscheidungshygiene

Cass Sunstein findet, auch Intuition müsse „von guten Vorarbeiten begleitet werden, damit etwas daraus wird“. Für die Autoren ist alles eine Frage der Disziplin und der „Entscheidungshygiene“. Intuition wird definiert als „eine Art ,Wissen‘, ohne zu wissen, warum“.

Und was ist mit Markttests bei neuen Produkten, die per „Trial and Error“ ausprobiert werden, eine gängige Übung? Alles nur irrational? „Das kann ein Weg sein bankrottzugehen“, sagt Sunstein.

Kollege Sibony relativiert sofort das Dogma von der nötigen „Fehlerkultur“ – niemand gehe ja ins Büro und sage: „Hey, lass uns scheitern!“ Vielmehr machten die Leute sehr viel, um die richtigen Entscheidungen zu finden: „Wir helfen ihnen dabei. Es gibt immer noch einen Markt für Leute, die ihre Urteile verbessern wollen.“ Wenn am Ende jemand Intuition nutzt, sei das in Ordnung.

Der Ex-McKinsey-Mann hofft, dass sich viele Consultingfirmen des „Noise“-Problems annehmen. Dafür stelle man die eigenen Erkenntnisse allen zur Verfügung. Die Autoren zielen mit ihren Vorschlägen auf größere Organisationen, die über „Noise“-Audits – mehrere Fachkräfte urteilen unabhängig über ein Thema – sowie mit Protokollen die Qualität von Urteilen verbessern wollen.

„Wir beschreiben Dinge, die man nicht erklären kann und die doch zu schlechten Entscheidungen führen.“ Quelle: dpa
Daniel Kahneman (Wirtschaftsnobelpreisträger)

„Wir beschreiben Dinge, die man nicht erklären kann und die doch zu schlechten Entscheidungen führen.“

(Foto: dpa)

„Die Voraussetzung ist, anzuerkennen, dass da ein Problem ist“, erklärt Kahneman: „Erste Empfehlung: Miss es! Erst dann kann ein Unternehmen zur Handlung übergehen, dann erst ist man bereit.“

Zur Fehlerminimierung setzt er auf „reasoned rules“, auf „begründete Regeln“, die ein Team nach Debatten erstellt. Das sei wie ein Algorithmus, nur werde der nicht berechnet, sondern über den denke man nach. Guidelines und Normen könnten demnach in Organisationen helfen. Bei großen Datenmengen schließlich seien Algorithmen des maschinellen Lernens Menschen und einfachen Modellen überlegen. (Allerdings können auch Algorithmen voreingenommen sein.)

Die Frage ist, für welche unternehmerische Lebenslage das alles zutrifft. In der Niedrigzinsära dürfte es Oligopolisten egal sein, wie „noisy“ ein Firmenzukauf ist, der Marktmacht sichert. „Wenn man nur Nummer eins sein möchte, dann macht man es sowieso“, antwortet Olivier Sibony: „Wenn man aber wissen will, ob diese Entscheidung richtig ist und der Preis stimmt, muss man sich näher mit den Noise-Kriterien beschäftigen.“ Das Buch rät bei Mergers & Acquisitions zum „strukturierten Entscheidungsprotokoll“.

Beitrag zu einer weniger zufälligen Welt

Die dem Buch zugrunde liegenden Konflikte gibt es an vielen Stellen in der Gesellschaft. Da sind Ärzte, die einem Patienten ganz unterschiedliche Krebsdiagnosen geben. Da sind Richter, die mal Ladendiebstahl, mal eine Rauferei für schwerwiegender halten. Da ist die Corona-Politik, bei der Astra-Zeneca in einem Land ganz verbannt wird, in einem anderen nur für Ältere über 55, im nächsten für alle unter 60 und in einem vierten Land nur für Männer erlaubt ist.

„Alle diese Lösungen können nicht die besten sein“, sagt Kahneman. Man wolle zu einer besseren, faireren, weniger zufälligen Welt beitragen, erklärt Biden-Berater Sunstein. Die Autoren haben eine ideale Welt im Blick, die ihnen folgt: „Riesige Summen würden eingespart, die öffentliche Sicherheit würde sich verbessern, das Gesundheitssystem wäre effizienter, es gäbe weniger Ungerechtigkeiten, und viele vermeidbare Fehler würden verhindert.“

Kahneman, Verfasser des Weltbestsellers „Schnelles Denken, langsames Denken“, bilanziert: „Unser Weg ist von Vorteil, weil er Irrtümer reduziert. Das ist unsere Botschaft, die hoffentlich das Buch erfolgreich macht.“

Da stellt sich unweigerlich die Frage, wie die drei selbst Techniken der „Noise“-Reduzierung beim Verwirklichen ihres Buchs genutzt haben. Man lernt: gar nicht. In einem kreativen Prozess oder in der wissenschaftlichen Forschung sei Divergenz, gefolgt von Auswahl, eine gute Sache, referiert Olivier Sibony.

In New York schmunzelt Daniel Kahneman. Ein Buch zu schreiben sei kein Prozess, in dem man notwendigerweise „Noise“ eliminieren müsse, sagt er, es gehe ja darum, dass verschiedene Autoren Verschiedenes beizutragen haben, da dominiere das Motto: „Select the best!“ Sein Fazit: „Noise ist nicht schlecht, um ein Buch zu machen.“

Mehr: Aufstand gegen die Zahlenknechte: Braucht es mehr Kreatives in deutschen Chefetagen?

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