Rezension: Krieg in der Ukraine: „Ich spüre den ersten Anflug von Hass“

Zertrümmerte Wohnungen, zerstörte Leben: Seit dem 24. Februar ist für die Ukrainer nichts mehr wie es war.
Riga . Serhij Zhadan nimmt mit seiner Ska-Band „Zhadan i Sobaky“, Zhadan und die Hunde, ein Foto auf. Die sieben stehen vor dem Schild der Region Charkiw, die Sonne, goldgelb, scheint ihnen in die Gesichter, die Blicke dennoch ernst. Das Foto ist Teil seines Eintrags vom 24. Februar, dem Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine. „Alle unsere Konzerte werden wir später spielen“, schreibt Zhadan, „nach unserem Sieg.“
Serhij Zhadan ist Autor und Musiker. In „Himmel über Charkiw“ beschreibt er in Form von kurzen Nachrichten aus den sozialen Netzwerken, wie er den Beginn des Krieges in seiner Stadt erlebt. Ungeschönt und pragmatisch orientieren sich seine Nachrichten daran, was die Gemeinschaft braucht: Welche Nachbarn benötigen Medikamente? Wem muss Essen gebracht werden? Wer kümmert sich um die Haustiere derer, die geflohen sind? So wird „Himmel über Charkiw“ zugleich Porträt der zweitgrößten Stadt der Ukraine und der freiwilligen Zivilisten, die für die Gemeinschaft sorgen und deren Einsatz ein Zusammenbrechen der sozialen Infrastruktur verhindert.
Zhadans Buch erinnert an die Notwendigkeit, sich durch das Lesen in die Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner der Ukraine hineinzuversetzen – und so den Krieg aus ihrer Sicht zu begreifen. Unzählige Bücher greifen den Russland-Ukraine-Krieg auf.
Das Handelsblatt stellt drei Titel vor, die besonders helfen, die Zustände zu verstehen. In diesem Falle die ukrainische Perspektive, die der Leidtragenden des Krieges.
Authentisch und unmittelbarer macht Zhadan in seinem Buch deutlich, wie Durchhalten gelingen kann: Aufrufe zum gemeinschaftlichen Helfen folgen auf Konzertankündigungen, Beschreibungen von Begegnungen mit Soldaten, die von der Front kommen, zwischendurch sammelt man Werkzeug, Kleidung, Schutzwesten. Ein Helfer, mit dem er erst kurz zusammenarbeitet, wird erschossen.

Auf Nachrichten, die Mut und Tatendrang vermuten lassen, in denen der Wunsch nach Selbstbestimmung keine leere Phrase ist, folgen Beiträge, aus denen Verzweiflung spricht. Während Zhadan seine sich verändernde Stadt beobachtet, beobachtet der Leser den sich verändernden Autor.
„Himmel über Charkiw“ ist Beweis dafür, dass Literatur viele Formen haben kann. Zhadans Sprachgewandtheit, eine Mischung aus Poesie, Kurznachrichten und Songtexten als Kontrast zur Brutalität des Erlebten, macht die Inhalte erst erträglich. „Wir haben das ausgebombte Studio evakuiert“, schreibt er im April. „Es hat eingeschlagen, aber die Apparate und Instrumente haben überlebt. Ein neuer Tag, ein neues Lied.“
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Zugleich ist die Sprache roh, teils gewaltsam. Dass Zhadan dieses Jahr mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, ist auch deshalb umstritten. Am 1. März schreibt er: „Die Russen sind keine Armee, sie sind Verbrecher,“ offen benennt er seinen Hass gegen „den Russen“, die bei Zhadan synonyme Bezeichnung „Schweine“ liegt am milderen Ende der Zuschreibungen.
Vom aufkommenden Hass
Auch Sergej Gerassimo lebt zu jener Zeit in Charkiw. „Feuerpanorama“ ist ebenfalls Kriegstagebuch, doch auf völlig andere Art. Gerassimo verpackt in seinem Buch, das er selbst als „schnell geschrieben“ bezeichnet, das Leben im Krieg in einzelne, teils abgeschlossene, teils offene Geschichten – beispielsweise über die Nachbarin, die mit Heavy-Metal-Musik dagegen ankämpft, im Krieg den Verstand zu verlieren, und aus Angst vor Splittern nur noch in der Badewanne schläft.
Bemerkenswert ist, wie Gerassimo zugleich den Blick auf Russland richtet. „Ich träume auf Russisch und Englisch, aber nie auf Ukrainisch“, schreibt er. „Und selbst jetzt, wo die Russen Bomben und Raketen über meiner Stadt abwerfen und Menschen töten, die größtenteils Russisch sprechen, auf Russisch denken und auf Russisch träumen, denke ich nicht, dass die Russen schlechte Menschen sind.“

Klar analysiert er, wie Nationalismus, Patriotismus, Autoritätshörigkeit in Zeiten des Krieges funktionieren, während er Geschichten aus dem Kriegsalltag beschreibt: Schlange stehen, Lebensmittel transportieren, Tiere beobachten.
Auch Gerassimo schreibt vom aufkommenden Hass. „Ich glaube, ich spüre den ersten Anflug von Hass, als ich die Nachrichten über einen russischen Piloten sehe, der Bomben über meinem Kopf abgeworfen hat und dem es gelang, sich aus dem Cockpit herauszukatapultieren, nachdem sein Flugzeug getroffen wurde.“ Ein neues Gefühl: „Ich glaube, ich habe in meinem Leben noch nie jemanden wirklich gehasst.“
Ein Abbild der Verzweiflung
Zur gleichen Zeit reist der Präsident des Landes virtuell um die ganze Welt, um andere Staaten dazu zu bewegen, sein Land zu unterstützen. Redensammlungen des Präsidenten gibt es bereits einige, doch diese hat Selenski selbst zusammengestellt.
Die Texte sind Abbild der Verzweiflung auf politischer Ebene. Diese Texte in der Rückschau zu lesen bedeutet, sich noch einmal hineinzuversetzen in die Momente, in denen man erstmals von Russlands Angriff auf die Ukraine erfuhr.

Sorgsam sind die Inhalte verknüpft mit der Geschichte des jeweils adressierten Landes oder der jeweiligen Institution. Gerade im Rückblick werfen sie wichtige Fragen auf, die die internationale Gemeinschaft noch jahrzehntelang beschäftigen werden: Hat die internationale Gemeinschaft schnell genug gehandelt? Entschlossen genug? Die Warnsignale ignoriert?
Eindringlich auch seine Rede vor dem Bundestag, klar seine Worte zu deutschen Unternehmen, die weiterhin mit Russland Geschäfte machen. In der Ansprache erinnert Selenski an die Forderung nach präventiven Sanktionen, die die Ukraine zuvor bereits gestellt hatte.
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„Wir baten um Sanktionen, die den Aggressor Ihre Macht spüren lassen würden“, sagt er den Abgeordneten. „Was wir sahen, war Ihr Zögern. Wir stießen auf Widerstand. Und wir begriffen, dass Sie die Wirtschaft am Laufen halten wollen. Wirtschaft und noch einmal Wirtschaft.“
Zhadan, Gerassimo und Selenski liefern keine Geschichtsbücher und keine historischen Abhandlungen, wie es die äußerst lesenswerten und wichtigen Werke von Historikern wie Timothy Snyder oder Karl Schlögel tun. Die Erfahrungen jener Menschen, die noch immer tagtäglich in diesem Krieg leben, sind aber ebenso wichtig, um ihn zu begreifen.
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