Rezension: Von Stalin über Thatcher bis Gorbatschow: Wie große Persönlichkeiten die Geschichte bestimmen

Ob Diktatoren oder Demokraten: Große Persönlichkeiten hinterlassen oft Spuren in der Geschichte der Welt.
Bonn. Große Männer machen Geschichte, manchmal auch bedeutende Frauen. In der politischen Berichterstattung beherrschen „starke Führer“ wie Chinas Xi Jinping, Russlands Wladimir Putin oder der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Schlagzeilen. Ihnen wird enorme Gestaltungskraft zugeschrieben, sie formen angeblich die Welt.
Diese heute noch weitverbreitete Sicht hat der schottische Philosoph Thomas Carlyle schon 1840 auf den Punkt gebracht: „Die Geschichte der Welt ist lediglich die Biografie großer Menschen.“
Nun können persönliche Entscheidungen die Zeitläufte zweifellos prägen. Der britische Historiker Ian Kershaw, hervorgetreten vor allem mit seiner bahnbrechenden Hitler-Biografie, analysiert seit Jahrzehnten, wie sich das Wechselspiel von individueller Macht und strukturellen Bedingungen auf den historischen Prozess auswirkt.
Mit seinem jetzt erschienenen Buch „Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert“ tritt er erneut gegen die simplifizierende These an, vor allem große Individuen seien die entscheidenden Triebkräfte der Geschichte.
In zwölf Essays – von Josef Stalin über Margaret Thatcher und Michail Gorbatschow bis zu Helmut Kohl – geht Kershaw der Frage nach, welche ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen starke Persönlichkeiten an die Macht bringen und wie die Faktoren dann die Machtausübung fördern oder beschränken. Letztlich stellt sich die Frage, ob es eine Art mathematische Formel gibt, um persönliche und strukturelle Faktoren zu gewichten, die tief greifende historische Veränderungen bewirken.

Wieso konnte etwa Benito Mussolini 1922 Ministerpräsident werden und Italien in eine faschistische Diktatur verwandeln? Sein betont männliches, viril-martialisches Auftreten wirkt heute wie aus der Zeit gefallen, entsprach damals aber dem Ideal des starken Führers.
Die Frauen lagen ihm zu Füßen, und die Massen jubelten dem „Duce“ zu, weil er eine „nationale Wiedergeburt“ versprach. Ohne die vorangegangenen Jahrzehnte korrupter Regierungen und das ebenso verbreitete wie völlig überzogene Gefühl, die Alliierten hätten Italien nach dem Ersten Weltkrieg um die territorialen Früchte des Sieges betrogen, wäre Mussolinis Aufstieg undenkbar gewesen. Sein Lebenselixier war die Krise.
Das gilt auch für Hitler. Hätte es die Auswirkungen des Weltkriegs auf Deutschland und die später einsetzende Weltwirtschaftskrise nicht gegeben, wäre Hitler laut Kershaw „ein politischer Niemand geblieben“. Nach der Machtübernahme aber festigte der „Führer“ stärker noch als der „Duce“ seine Herrschaft mit Terror und Massenmord. Anders als in Deutschland konnte Italien nach dem Krieg das Bild des „milden Diktators“ kultivieren – für die neofaschistische Partei der neuen Regierungschefin Giorgia Meloni ist das eine gute Grundlage.
In Russland strahlt das Bild des früheren Diktators Josef Stalin wegen der revisionistischen Geschichtspolitik von Präsident Wladimir Putin bereits wieder in altem Glanz. Verdrängt wird die Brandrede seines Nachfolgers Nikita Chruschtschow, der 1956 die Verbrechen des Regimes angeprangert hatte – und zugleich Stalins Rolle in der Geschichte verabsolutierte. Bis zu seinem Tod im März 1953, so Chruschtschow, „hing alles von der Willkür eines einzelnen Mannes ab“.
Wie Kershaw zeigt, kann davon keine Rede sein. Stalins persönliche Führung war zwar ausschlaggebend für die mit eiserner Härte vorangetriebene Industrialisierung und Aufrüstung des Riesenreichs, ohne die Hitler-Deutschland kaum hätte besiegt werden können.
Auch Demokraten hinterlassen Spuren
Gleichzeitig aber hing die Umsetzung seiner Befehle von der Bereitschaft der Partei- und Staatsbürokratie ab, selbst terroristische Anordnungen auszuführen. Der Despot Stalin war wie alle Diktatoren auf die Heerschar untergebener Despoten angewiesen, zu denen in herausragender Position auch das Politbüro-Mitglied Chruschtschow gehörte.
Anders als bei Diktatoren ist der politische Spielraum demokratischer Machthaber durch das System der Checks and Balances von vornherein institutionell eingeschränkt. Doch auch Demokraten hinterlassen große Spuren in der Geschichte.
Premierministerin Margaret Thatcher etwa – die einzige Frau unter Kershaws zwölf Protagonisten – veränderte Großbritannien mit ihrer die Interessen der Finanzindustrie bedienenden neoliberalen Politik auf Jahrzehnte hinaus. Dass die Finanzindustrie Liz Truss, die Wiedergeburt der „Eisernen Lady“, nach nur 44 Tagen wegen ihrer irrwitzigen Steuerpolitik zum Amtsverzicht in 10 Downing Street zwang, ist eine Ironie der Geschichte.

Die konservative Politikerin war nur 45 Tage im Amt, als sie ihren Rücktritt bekannt gegeben hat.
Helmut Kohl wiederum wäre nach Einschätzung seines Biografen Hans-Peter Schwarz ohne den überraschenden Mauerfall im November 1989 nur als „mittelmäßiger Kanzler“ in Erinnerung geblieben – man denke nur an Kohls törichten Vergleich des sowjetischen Parteichefs Gorbatschow mit NS-Propagandaminister Joseph Goebbels.
Tatsächlich sind die Lobreden, die später auf Kohl gehalten wurden, ohne den von ihm weder erwarteten noch beabsichtigten Mauerfall undenkbar. Der Pfälzer nutzte geschickt die Gunst der Stunde und ging als überragender „Kanzler der deutschen Einheit“ in die Geschichte ein. Kohl liefert das Paradebeispiel für die dialektische Spannung zwischen überpersönlichen Faktoren und persönlicher Entscheidungskraft.
Erstaunlich ist, dass Kershaw Kanzler Konrad Adenauer zwar zu Recht als entscheidenden Architekten der bundesrepublikanischen „Westbindung“ würdigt, ihm aber auch bescheinigt, für die Stabilisierung der Demokratie in Westdeutschland „unverzichtbar“ gewesen zu sein. Das verwundert schon deshalb, weil Kershaw Adenauer in gesellschaftspolitischer Hinsicht zu Recht einen „stickigen, autoritären Konservatismus“ attestiert.
Vor allem aber dürfte das erfolgreiche Streben breiter Bevölkerungsschichten nach mehr Wohlstand im „Wirtschaftswunder“ der 1950er-Jahre die zentrale Voraussetzung für den Erfolg der westdeutschen Demokratie gewesen sein. Maßgebend hierfür waren strukturelle Faktoren wie der nach Kriegsende weitgehend intakte industrielle Kapitalstock und der vom Korea-Krieg unterstützte deutsche Exportboom – nicht aber Adenauers Entscheidungen.
Am Ende steht eine Marx‘sche Erkenntnis
Doch wie verhält es sich mit Gorbatschow, dem Totengräber der UdSSR und Geburtshelfer des freien Mittel- und Osteuropas? Er ist ohne Zweifel eine überragende geschichtliche Figur. Ohne die von ihm vorangetriebene Wende – Glasnost und Perestroika – hätte das Sowjetsystem trotz seiner Sklerose wohl noch viele Jahre überlebt.
Kershaw sieht in Gorbatschow den „Hauptakteur“ der politischen Veränderungsdynamik. Auch bei der totalen Umgestaltung der sowjetischen Außen- und Abrüstungspolitik war seine persönliche Rolle entscheidend.
Letztlich aber zwangen strukturelle Faktoren selbst diesen Titanen in die Knie: Die Wirtschaft funktionierte immer weniger, die Schlangen vor den Geschäften wurden länger, selbst Treibstoff und Medikamente mussten rationiert werden. Gorbatschows anfängliche Popularität in der Bevölkerung war 1990 weitgehend aufgebraucht.
Was folgte, war sein politisches Ende. Bis heute stößt Gorbatschows Vermächtnis auf ein gespaltenes Echo – im Westen gilt er als positive Leitfigur, in Russland und China hingegen als Versager, laut Putin verantwortlich für die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, den Zerfall der Sowjetunion.
Mehr Literatur:
Kershaw stützt sich in seinen Essays auf die vorhandene Literatur, deshalb dürften zeitgeschichtlich interessierten Lesern viele Sachverhalte bereits bekannt sein. Dennoch ist es faszinierend zu verfolgen, wie der dialektische Prozess wirkt und Treiber in Getriebene verwandelt.
Für eine mathematische Formel, die bei historischen Zäsuren den jeweiligen Anteil persönlicher und struktureller Faktoren gewichtet, ist die Geschichte jedoch zu komplex.




Deshalb müssen wir uns mit einer Erkenntnis von Karl Marx begnügen: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“
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