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RezensionZurück auf den Nullpunkt – Salman Rushdies erster Roman nach dem Attentat

Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau und Religionen, die friedlich nebeneinander leben – in „Victory City“ träumt der Autor von einer liberaleren, toleranteren Welt.Hans-Jürgen Jakobs 23.04.2023 - 14:43 Uhr Artikel anhören

Sein 16. Buch „Victory City“ ist für den Schriftsteller sein ganz persönlicher Sieg.

Foto: dpa

München. Ohne den 12. August 2022 kommt aktuell kein Text über Salman Rushdie aus. An jenem Tag wurde der Schriftsteller auf offener Bühne im US-Staat New York niedergestochen – von einem jungen amerikanischen Islamisten.

Das Verbrechen erinnerte die Welt wieder an die verdrängte „Fatwa“ des Ruhollah Chomeini. Der iranische Ajatollah hatte den Todesfluch vor 34 Jahren nach Veröffentlichung des Werks „Die satanischen Verse“ ausgesprochen.

Religionswahn ist auch Teil von „Victory City“, Rushdies neuem Buch, dessen Manuskript er kurz vor dem Attentat von Chautauqua vollendet hatte. Nun ist sie auch in die deutschen Buchhandlungen gekommen, diese wortbombastische, bilderopulente Geschichte aus einem historischen Fabelreich, ein indisches Märchen mit Faktenbezügen, aus dem sich für die Gegenwart herauslesen lässt, was dem Publikum einfällt, das sich auf Rushdies Jonglage der Worte und Weisheiten und Wichtigtuereien einlässt.

Die Folie dazu liefert das vergessene südindische Vijayanagar-Reich, das vom 14. bis zum 16. Jahrhundert bestand. Es gibt Sagen hierzu, auch eine Ruinenstadt namens Hampi, aber wenig Konkretes.

Das erleichtert es dem Autor, einen literarischen Ansatz des „Zero Base Plannings“ zu verfolgen, ein Zurückgehen auf den Nullpunkt, so wie es Kosten- und Strategieplaner in Firmen zuweilen praktizieren, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Wie wäre es, einfach alles noch mal neu zu erfinden? Wo der Historiker noch rätselt, kann ein gewitzter Romancier so richtig loslegen.


Schöner Gruß nach Teheran

Also greift Rushdie in die Trickkiste der Fiktion und erschafft die Reichsgründerin Pampa Kampana, traumatisiert durch den Tod ihrer Mutter, die mit anderen Frauen ins Feuer ging, weil ihre Männer einen Krieg verloren haben. Nun wächst aus dem Samen, den das Mädchen verstreut, eine neue Stadt, ein neues Reich mit Königen, die ihr zunächst folgen bei ihren Plänen für Vijayanagar.

Viele Religionen sollen dort friedlich nebeneinander existieren, Frauen völlig gleichberechtigt sein und Machtpositionen übernehmen; man ist liberal und tolerant. Frauen sollten nie wie „Menschen zweiter Klasse“ behandelt werden, heißt es da, „weder im Verborgenen noch versteckt hinter Schleiern.“ Schöner Gruß nach Teheran. Demonstranten protestieren mit einem leerem Blatt Papier, so wie jüngst in China.

Pampa Kampana selbst ist eine qua göttlicher Eingebung legitimierte Freibeuterin, promisk und unbändig, was sie früh in Hader mit dem fürs Ideologische zuständigen Priester bringt. Das Dogma ist am Ende stärker als das Libertäre.

So muss Sagengestalt Pampa erleben, wie in den 247 Jahren, die sie dank Rushdies Kraft existieren darf, das ganze Reich wieder zerfällt. Gescheitert an ihren innenpolitischen Gegnern, an Intrigen und Ideologismen sowie an den Expansionsgelüsten anderer Reiche.

Sie machen schließlich Vijayanagar wieder platt und damit die weibliche sanfte Perspektive. „Imagine … no hell below us, above us only sky“, solche John-Lennon-Bilder sind so schön wie kurzlebig. Originaltext Rushdie: „Der Vorrat an Magie ist nicht endlich.“ Menschliche Natur schlägt Utopie, aber noch jede Utopie ist immer wieder neu geboren worden.

Salman Rushdie: Victory City Penguin Verlag München 2023 416 Seiten 26 Euro Übersetzung: Bernhard Robben Foto: Handelsblatt

Als Junge hat sich Salman Rushdie vom Vater gern Märchen wie „Tausendundeine Nacht“ vorlesen lassen. Mit seiner Sozialisation zum „Storyteller“ kann er nicht anders, als immer wieder narrativ zu verführen und Bilder in die Welt zu setzen, etwa die von den „rosigen“ Engländern, die in „Victory City“ allegorisch als rosa Affen durch die Wälder springen.

Menschen leben durch und von den Geschichten, die sie sich erzählen. Und Rushdie nutzt in seinem vieldeutigen Fantasieprodukt den Kniff, über einen mit Wachs verschlossenen Tontopf zu erzählen, der Jahrhunderte später ausgegraben wird.

Darin finden sich die in 24.000 nicht-satanischen Versen festgehaltenen Memoiren der fiktiven Reichsschöpferin Pampa Kampana – eine „Botschaft an die Zukunft“: Wenn alles zerfällt, bleiben doch die Worte. Sie selbst sei nun nichts, alles, was bleibe, sei diese Stadt der Worte: „Worte sind die einzigen Sieger.“ Die neuen Machthaber wollten vom Matriarchat nichts wissen und stachen ihr die Augen aus.

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Von diesem Buch und seinem neuen Leben kündet Rushdie in diesen Wochen in Interviews mit ausgewählten Medien. Man sieht ihn mit einer Brille, deren Glas auf der rechten Seite verdunkelt ist, als Schutz für das bei dem Attentat erblindete Auge.

Auf Promotiontour kann der Wahl-New-Yorker aus Sicherheitsgründen nicht mehr gehen. Auch fällt es ihm schwer, in einem neuen Buch die Geschehnisse von Chautauqua zu verarbeiten. Rushdie beneidet Schriftsteller, die à la Günter Grass eine zweite Karriere als bildende Künstler haben.

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So bleibt bis auf Weiteres „Victory City“, sein 16. Buch seit der Fatwa, das poetische Werk eines Mannes, der in der Jugend mit seiner moslemischen Familie noch glücklich im hinduistischen Bombay leben konnte.

Damals, als die Zeiten liberaler waren und sich nicht täglich moralische Priester jeder Art zu Wort meldeten. „Vi ctory City“ ist Salman Rushdies persönlicher Sieg.

Mehr: Mut und Wut im Iran – Warum die Revolution gelingen kann

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