Shortlist des Deutschen Wirtschaftsbuchpreises: So gespalten ist die deutsche Gesellschaft wirklich

Eine gewisse Reibung innerhalb einer Gesellschaft sei laut den Autoren wichtig für eine Demokratie.
Frankfurt. Deutschland ist gespalten: Jung gegen Alt, Arm gegen Reich, Geimpfte gegen Ungeimpfte, Einwanderer gegen Ansässige, Ost gegen West, Mann gegen Frau. Die Gesellschaft droht daran zu zerbrechen.
Stimmt das?
Dieser Frage widmen sich Jürgen Kaube, Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, und André Kieserling, Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld, in ihrem Buch „Die gespaltene Gesellschaft“, mit dem sie für den 17. Deutschen Wirtschaftsbuchpreis nominiert sind.
Ihre Antwort in Kürze: Unsinn. Echte Spaltung sehe anders aus, von Krieg oder Bürgerkrieg sind wir weit entfernt. Die Ausrufer von Spaltungen meinen eine Polarisierung von Gruppen zu erkennen, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Die Autoren haben dazu eine klare Meinung: „Die Vorstellung, alle müssten einander verstehen oder miteinander reden, die oft in der Forderung vorgetragen wird, niemand dürfe ‚ausgegrenzt‘ werden, ist politischer Kitsch.“
Vielmehr sei eine gewisse Reibung sogar wichtig für die Demokratie. Diese definiere sich als Verfahren des Konflikts und der Konkurrenz. Am Ende eines Streits liege man sich nicht in den Armen oder habe den Punkt des Gegners verstanden. Am Ende des Streits werde vielmehr eine Entscheidung herbeigeführt. So sei die Demokratie am Ende doch versöhnlich, weil sie die Auseinandersetzung über ein Wählervotum einhege.
Anhand verschiedener Beispiele räumen Kaube und Kieserling mit gängigen Vorurteilen auf. Etwa mit dem häufig herangezogenen Gegensatzpaar Deutsche und Ausländer, wobei Letzteres häufig konfessionell oder auch als morgenländisch festgemacht wird. Wer jedoch gegenüber Migranten das Abendland ins Spiel bringt, dem bescheinigen die Autoren Fehlsichtigkeit. Ihr Einwand hat einen satirischen Zungenschlag: „Die Bemühungen, eine Leitkultur zu behaupten, zu der die Kenntnis wie Bewunderung von evangelischer Kirchenmusik oder Goethes Dichtung gehören soll, laufen auf Rückfragen zu: Wie viel Inländer wären nach diesen Kriterien integriert?“

Die Verfasser unterscheiden zwischen Gemeinschaftsgefühlen und Rivalitäten in Stammesgesellschaften und modernen Nationen, die es ohne Zweifel gibt, sowie echten Gegnerschaften. Diese sind in modernen Gesellschaften seltener.
Die faktengesättigten Darstellungen lohnen das Lesen und regen zu einem nüchternen Blick auf das Thema an. Hilfreich sind da auch die Kapitel zu den Überzeichnungen in sozialen Medien und Talkshows. Im Netz finden sich immer wieder verrohte und hasserfüllte Kommentare. Hier tummeln sich harmlose Dampfplauderer wie auch „Sonntagsnazis“. Für anonyme Hetzer bleiben die gewagten Positionen folgenlos.
Talkshows gehorchen einer ähnlichen Dramaturgie. Gemäß den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie machen Emotion, Zuspitzung und Übertreibung die Quoten. Eskalations-Protagonisten sehen häufig alles auf dem Spiel stehen. Fazit der Verfasser: Eine Spaltung der Gemeinschaft wird mehr behauptet als nachgewiesen.
Vielmehr befinde sich eine Gemeinschaft – wie so vieles – im steten Wandel. So haben sich im Zeitablauf beispielsweise Religionsbindungen weit gelockert bis aufgelöst. Kaum jemand geht noch auf eine ausschließlich katholische oder evangelische Schule, kaum jemand würde nur noch einen Partner der eigenen Konfession heiraten. Ebenso beim Sport: Im schottischen Fußballklub Glasgow Rangers durfte 1989 zum ersten Mal ein Katholik für das Team spielen – nach einhundert Jahren Vereinsgeschichte.
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Dennoch können harte Polarisierungen, scharfer Dissens oder Unabhängigkeitsbewegungen spalten. Echt gespaltene Nationen erkennen die Autoren dort, wo Recht und Politik ganz offiziell Diskriminierungen decken. Beispiele sind die USA und Südafrika zur Zeit der Rassentrennung.
Bloßer Streit reicht für eine Spaltung nicht aus. Deshalb sind den Verfassern die bis ins Private wirkenden scharfen Auseinandersetzungen zwischen Demokraten und Republikanern in den Vereinigten Staaten ein eigenes Kapitel wert. Das gilt ebenso für den politisch-religiös aufgeheizten Konflikt in Nordirland, der sich zeitweise in einem Bürgerkrieg entlud.






Die Autoren werden auch in Europa fündig. Auf dem Balkan, in Italien, Spanien und Belgien existieren ethnische Spannungen und separatistische Bewegungen, die bereits zu staatlichen Spaltungen führten oder dieses Ziel verfolgten.
Von solchen Entwicklungen sei Deutschland weit entfernt, sagen die Autoren. Und rufen bei dramatischen Zeitdiagnosen für Deutschland zur Mäßigung auf.
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