Shortlist zum Wirtschaftsbuchpreis 2021 Daniel Kahneman: Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können

Störgeräusche führen bei Entscheidungen zu unterschiedlichen Fehlern.
Alles wäre in der Gesellschaft in schönster Ordnung, wenn stets nur sachliche Argumente hin- und herflögen. Wenn es zum „rationalen Diskurs“ käme, den der Philosoph Jürgen Habermas als Basis der Verständigung sieht. Aber die Realität ist eine andere. Sie ist geprägt durch Irrationalität, durch zufällige Störgrößen in Habermas’ Ideal-Diskurs – und somit auch durch verzerrte Entscheidungen.
Ein und dieselbe Person urteilt über ein und dieselbe Sache mal so, mal so. Und ein und derselbe Fall, etwa die Bewertung einer Immobilie oder die Kreditwürdigkeit eines Menschen, wird innerhalb eines Tages von Sachbearbeitern der jeweiligen Unternehmen ganz unterschiedlich bewertet. Abweichungen um 50 Prozent sind nicht selten.
„Noise“ nennt der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman dieses Phänomen der Zufallsfaktoren, dieses „Verrauschte“, wie er formuliert: „Wir beschreiben Dinge, die man nicht erklären kann und die doch zu schlechten Entscheidungen führen.“
Diesen spannenden Stoff hat der 87-Jährige von New York aus mit zwei Co-Autoren in der Corona-Zeit in transatlantischen Videokonferenzen aufbereitet, mit dem Pariser Business-School-Professor Olivier Sibony sowie dem Harvard-Law-School-Veteranen Cass R. Sunstein, der inzwischen die US-Regierung berät. „Überall, wo Entscheidungen getroffen werden, gibt es ,Noise‘, und zwar mehr, als man denkt“, postuliert Kahneman.
Ihr Buch ist nicht immer leichte Kost, aber die Mühe lohnt sich. Konsistent in der Argumentation, anschaulich in den Beispielen und durchweg gut geschrieben, verhandeln die drei Verfasser ein bislang nicht identifiziertes Problem, das die Wirtschaft offenkundig viel Geld kostet. „Noise“ verursache in US-Unternehmen viele Milliarden Dollar Kosten, erklären sie.

Daniel Kahneman, Olivier Sibony, Cass R. Sunstein: Noise. Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können.
Siedler Verlag
München 2021
480 Seiten
30 Euro
Besonders wichtig ist ihnen die Unterscheidung zu „Bias“: Zu diesem Phänomen kommt es, wenn einer oder eine zu viele Fehler immer wieder macht, wenn also eine systematische Verzerrung vorliegt. Der Grund hierfür sind Vorurteile und unbewusste persönliche Prägungen. Ursächlich für „Noise“ seien dagegen hauptsächlich Geschmack und Persönlichkeit, erläutern Kahneman und Co.
Es geht hier um die Wirkung des Wetters, das Hungergefühl oder Sieg und Niederlage des favorisierten Sportteams in der Meisterschaft. Es sei unmöglich, so Kahneman, die Ursachen für all diese Zusammenhänge genau zu erforschen, „wir empfehlen stattdessen den Leuten, ,Noise‘ zu vermeiden“.
Für das Autorentrio ist alles eine Frage der „Entscheidungshygiene“ in Unternehmen. Der Disziplin, gewisse Normen und gut begründete Regeln einzuhalten – also auch Algorithmen zu folgen, die beim Lösen von Problemen helfen.
Unternehmerische Intuition, wovon gerade Mittelständler oft leben, hat in diesem System keinen zentralen Wert. Man verneine nicht, dass manche Leute gut in ihrem Job seien, führt Kahneman aus: „Aber wir glauben, dass beim individuellen Entrepreneur ebenfalls ,Noise‘ existiert, auch dort, wo man es nicht sieht. Intuition ist noisy, weil sie Informationen ineffizient nutzt.“ Auch mit dem modischen Satz von der „Fehlerkultur“ räumen die Verfasser auf.
Niemand gehe ins Büro und sage: „Hey, lass uns scheitern!“ Vielmehr unternähmen die Leute viel, um die richtigen Entscheidungen zu fällen – dabei wollen Kahneman, Sibony und Sunstein helfen, zum Beispiel mit „Noise Audits“, bei denen mehrere Fachkräfte unabhängig über ein Thema urteilen. Auch sollen Protokolle die Qualität von Entscheidungen verbessern.
Kahneman ist mit seinem Weltbestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“ einem größeren Publikum bekannt geworden. Nun hofft er, vielen einen Weg aufzuzeigen, Irrtümer zu reduzieren. Hier liegt die anregende Kraft dieses Buchs. Wenn es aber um Kreativität geht oder um wissenschaftliche Forschung, führt die Lehre vom „Noise“ nicht weiter. Da geht es ja gerade um Vielfalt und Divergenz. Auch für Kahneman und seine Mitautoren war gerade das „Verrauschte“ produktiv: „Noise“ ist nicht schlecht, um ein Buch zu machen.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.