Shortlist zum Wirtschaftsbuchpreis 2021 Warum es die Gesellschaft zerreißt, wenn sich Arbeit nicht mehr lohnt

Die Schicht der „Working Class“ eint die bittere Erkenntnis, dass ihre Arbeit sie nicht durchs Leben trägt.
Düsseldorf Pakete im Akkord ausliefern, besonders viele vor Weihnachten oder im Lockdown. Die Bio-Joghurt-Gläser der anderen über den Scanner ziehen, die Alten waschen und füttern. Putzen, kochen, telefonieren, mauern, schleppen. Und bitte recht freundlich, der potenzielle Ersatz hängt ja schon in der Warteschleife der Gesellschaft.
Julia Friedrichs, die sich in „Gestatten: Elite“ auf die Spuren der Mächtigen und Reichen begab, hat sich nun am anderen Ende der Gesellschaft umgeschaut. Nicht ganz unten, sondern bei jenen, die „hart arbeiten und sich an die Regeln halten“, wie es Bill Clinton einst formulierte. Bei jenen, deren Fleiß so schlecht entlohnt wird, dass auch ein übervolles Stundenkonto nicht zum Auskommen reicht. Kassierer und Geigenlehrer, Müllfrau und Altenpflegerin.
Friedrichs nennt sie die „working class“, der englische Begriff ist bewusst gewählt. Zu dieser Schicht der Arbeitenden gehören ja kaum noch Malocher im Bergwerk oder Macher im Montageanzug, sondern Dienstleistende für Services aller Art.
Damit ist aber auch schon ein Manko dieser wachsenden Gruppe benannt: Sie mögen geeint sein durch die bittere Erkenntnis, dass ihre Arbeit sie nicht durchs Leben trägt. Doch ihre Tätigkeiten sind so unterschiedlich, dass sie sich nicht als eine Klasse begreifen, dass sie sich nicht solidarisieren.
Das zweite Problem: „Während das Herz der working class schwächelt, pumpt das der Kapitalseite immer schneller, immer kräftiger“, schreibt Friedrichs. Sie hat alle Studien, die sie zu dem Thema zu fassen bekam, gelesen, Ökonomen und Expertinnen befragt und konstatiert: „Arbeit hat verloren. Kapital gewonnen.“

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Plassen Buchverlage
Kulmbach 2021
271 Seiten
22,90 Euro.
Dann hat sie sich auf den Weg gemacht, um die Zahlen mit der Wirklichkeit abzugleichen. Die vielfach ausgezeichnete Reporterin ist zu den Menschen nach Hause gefahren und hat zusammengetragen, welche Risse sich auftun in der Gesellschaft.
Diese individuellen Geschichten machen „Working Class“, das Buch, enorm wertvoll. Und trotz aller Unterschiede wird deutlich: Die Illoyalität der Gesellschaft, des Steuersystems, der Arbeitswelt gegenüber diesen Menschen ähnelt sich.
Da ist zum Beispiel Sait, der seit 18 Jahren Berliner U-Bahnhöfe von Müll und Erbrochenem reinigt. Zwölf oder 13 Euro Stundenlohn, rechnet er vor, würden ihm und seiner Familie zu einem Leben in Würde reichen. Doch Sait erhält nur 10,56 Euro, 1600 Euro brutto im Monat. Und so steht sein Fall für das Ende eines Paktes früherer Zeiten: dass mühselige, nicht besonders befriedigende Arbeit mit einem Mittelschichtseinkommen entlohnt wird.
Da sind die Karstadt-Beschäftigten, die sich auf ein Leben mit einem Konzern einließen, dessen Name nun endgültig verschwindet. Da ist Christian, der 15 Jahre lang für eine Firma arbeitete und sein Büroumfeld für eine Familie hielt. Irgendwann zog das Arbeitstempo an, stieg der Druck; Christian wurde degradiert, gemobbt und stürzte im Wortsinne ab.
Eine andere Protagonistin ist Alexandra, Musikerin mit Bestnoten, die in jeder möglichen Minute Kindern Klavierspielen beibringt, aber ihre eigenen kaum sieht. Bei einer Familie half sie einmal, das Haus nach versteckten Geldscheinen zu durchsuchen, es waren am Ende so viele, dass es für ein neues Auto reichte. Sie selbst sucht vergeblich nach Reserven, als die Klarinette des eigenen begabten Sohnes eine Reparatur benötigt. Nur zu erahnen ist der Abgrund, der sich auftut, als in der Pandemie Unterricht ausfällt und Eltern Verträge kündigen.
Das „neue Normal“ ist so bescheiden wie das alte
Hintergründig und kitschfrei erzählt Friedrichs von jenen, die keine Rücklagen, kein Erbe und keine Kapitalrendite haben, bei denen guter Rat teuer ist, wenn sie eine unerwartete Rechnung in Höhe von 1000 Euro zahlen müssen. Jeder Dritte in Deutschland kann das nicht, jeder Zehnte ist überschuldet.
Das Glück der Reporterin ist das Unglück ihrer Protagonisten, denen sie erstmals 2019 begegnete – und die Corona dann mit voller Wucht traf. Ein Happy End gibt es nicht: Während sich die Aktienkurse längst erholt haben, ist das „neue Normal“ für die Mitglieder der „working class“ genauso bescheiden wie das alte.
Friedrichs Fazit: Nur eine Politik, die endlich das Vermögen antastet und die Rendite von Arbeit schrittweise wieder steigen lässt, kann das Missverhältnis, das die Gesellschaft zerreißt, geraderücken.
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