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Wirtschaft und Gesellschaft Philosophieprofessor zu Corona-Maßnahmen: „Wir sind nicht im Krieg“

Der Bonner Philosoph Markus Gabriel warnt eindringlich vor Handytracking. Ein Gespräch über eine Gesellschaft, in der soziale Distanz zur Norm gehört.
08.04.2020 - 16:15 Uhr Kommentieren
Nicht alle politischen Maßnahmen sind verhältnismäßig. Quelle: AFP/Getty Images
Philosoph Gabriel

Nicht alle politischen Maßnahmen sind verhältnismäßig.

(Foto: AFP/Getty Images)

Düsseldorf Nicht jede Lösung eines Problems ist vertretbar. Auch nicht in Tagen der Corona-Pandemie. „Wir sind nicht im Krieg, und selbst dann ist ja nicht alles erlaubt“, sagt Philosoph Markus Gabriel. Der Professor für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn gilt als weltweit renommierter Experte für Fragen der Ethik und für die ethische Beurteilung Künstlicher Intelligenz (KI).

Für die Analyse „der dunklen Tage“ und die Gestaltung der Exit-Strategie fordert der Philosoph die Gesellschaft nachdrücklich dazu auf, politische Maßnahmen endlich wieder offen, kritisch und transparent zu hinterfragen. Denn die Politik habe ganz ohne Diskussion in der Öffentlichkeit einige wichtige moralische Fragen beantwortet und Entscheidungen getroffen, so Gabriel.

Vor dem derzeit diskutierten Handytracking, das per Push-Meldung warnen soll, wenn sich der Handy-Träger einem Corona-Erkrankten genähert hat, warnt der KI-Experte eindringlich: „Aus philosophisch-ethischer Perspektive ist das eine völlig unverhältnismäßige Maßnahme.“

Trotz der Krise bleibt Gabriel optimistisch für die Zeit danach: Es gebe eine Chance auf moralischen Fortschritt. Wir könnten „ein besseres Gesellschaftsdesign für eine globale Weltordnung entwickeln“. Dazu gehöre auch, „ökonomisches Kapital aus moralisch überlegenen Ideen zu schlagen“.

Lesen Sie hier das komplette Interview:

Herr Gabriel, momentan ist es sozial, zu anderen Abstand zu halten. Was macht das mit uns?
Das hat moralisch fragwürdige Seiten, auch wenn es aus gesundheitlichen Gründen geboten ist, die Hygiene hochzuhalten und Infektionsketten zu unterbrechen. Aber sozialpsychologisch wirkt es sich verheerend aus. Mit einem Mal betrachten wir andere Menschen als Zellhaufen, in denen sich Viren vermehren. Das ist gefährlich. Wir bekommen ein schiefes Menschenbild.

Sie sind der Ansicht, dass die in der Corona-Pandemie von der Politik ergriffenen Maßnahmen zum Teil unverhältnismäßig sind. Es resultieren moralische Probleme. Was meinen Sie damit?
Ganz konkret: Der deutsche Ethikrat wurde von Gesundheitsminister Jens Spahn gefragt, nach welchen Kriterien Ärzte in einem Krankenhaus notfalls entscheiden sollen. Wer bekommt die rettenden Maßnahmen, wer muss möglicherweise sterben? In der Fachsprache sprechen wir von „Triage“.

Sie meinen das moralische Dilemma, wenn Ärzte gezwungen sind, über Leben und Tod von Patienten zu entscheiden, weil etwa zu wenig Beatmungsgeräte frei sind.
Genau. Dazu hat das Gesundheitsministerium ein Gutachten eingeholt, was im Ergebnis ziemlich nichtssagend ist. Im Prinzip steht darin: Das müssen die Ärzte selbst entscheiden – aber bitte nach transparenten Kriterien. Doch was sind diese Kriterien? Das war ja die Frage!

Somit stehen die Ärzte weiterhin vor einem ungelösten Problem?
Das stimmt. In Deutschland argumentieren wir ethisch weitgehend in Anlehnung an Kant: Der Wert eines Menschenlebens ist nicht berechenbar. Alle Leben sind gleich.

Und diese Grundannahme muss in Coronazeiten anders lauten?
Nein, natürlich nicht. Aber wir müssen uns klar darüber sein, dass wir faktisch längst eine Entscheidung getroffen haben. Wir haben die Corona-Pandemie als absolutes Zentrum unseres Gesundheitssystems definiert, rüsten zu ihrer Bekämpfung alles um, lassen gigantische Ressourcen hineinfließen.

Viele andere Kranke haben das Nachsehen: Operationen werden verschoben, Vorsorgemaßnahmen zurückgestellt. Auch die Kinder leiden, werden zum Teil in sehr engen Wohnungen eingesperrt, manche müssen häusliche Gewalt ertragen, die ja leider massiv ansteigt. Da bräuchten wir transparente Kriterien.

Sie kritisieren, dass unausgesprochen längst eine Entscheidung getroffen wurde?
Sie wird in der Öffentlichkeit kaschiert, indem jetzt die dringliche Frage aufgeworfen wird, welche Corona-Kranken vor anderen bevorzugt werden.

Für uns als Gesellschaft ist es moralisch unerträglich, über einen Verteilungsquotienten nachzudenken. Wie viele Tote sind wir bereit für wie viel Wirtschaft zu akzeptieren?

Erwarten Sie, dass wir langfristig an einen Punkt kommen, an dem wir Menschenleben riskieren, um die Kollateralschäden zu begrenzen?
Ich glaube nicht, dass wir diese Diskussion führen werden. Für uns als Gesellschaft ist es moralisch unerträglich, über einen Verteilungsquotienten nachzudenken. Wie viele Tote sind wir bereit für wie viel Wirtschaft zu akzeptieren?

Ich möchte auch nicht sagen, dass die bisher politisch getroffenen Entscheidungen alle falsch sind. Aber mir ist es wichtig herauszustellen: Als Gesellschaft müssen wir ehrlich, transparent und kritisch nachfragen. Eine Diskussion darf nicht ausbleiben.

Das haben wir bislang versäumt?
Durch die dauernden virologischen Diskussionen gehen wir zu oft davon aus, dass es keinen anderen Weg gibt.

Vielleicht ist eine Krise ungeeignet für eine ganzheitliche Reflexion? Immerhin müssen Entscheidungen sehr schnell getroffen werden.
Aber gerade dann ist es umso wichtiger, sich sehr gut zu informieren. Wenn man uns als Bürgern momentan nicht erlaubt, ganzheitlich über die Krise nachzudenken, treffen wir automatisch als Gesellschaft einseitige Entscheidungen. Das ist kein Vorwurf an die Politik, die derzeit schnell handeln muss. Doch es ist ein Vorwurf an uns als Bürger. Und wir Philosophen müssen darauf aufmerksam machen.

Dann sollten wir diskutieren: Zur weiteren Eindämmung haben Politiker nun Handytracking über eine App vorgeschlagen. Betroffene, die Kontakt zu einem Corona-Erkrankten hatten, werden durch eine Push-Meldung gewarnt.
Aus philosophisch-ethischer Perspektive ist das eine völlig unverhältnismäßige Maßnahme.

Warum das?
Nicht jede Lösung eines Gesundheitsproblems ist vertretbar. Ein Extrembeispiel: Es wäre wirkungsvoll, aber absolut unangemessen, alle Corona-Erkrankten zu töten. Wir sollten uns immer vor der Umsetzung einer massiven Maßnahme fragen, wie wir sie vor Corona beurteilt haben. Wir sind nicht im Krieg, und selbst dann ist ja nicht alles erlaubt.

Handys sollen über Bluetooth Nummern austauschen und dabei keine Standortdaten übertragen. Das ist unverhältnismäßig?
Es ist eine Illusion, zu behaupten, Daten blieben privat – das gilt auch für Metadaten. Niemand kann garantieren, dass sie nicht doch gehackt werden. Die deutsche Cybersecurity lässt noch zu wünschen übrig.

So steht es auch in der KI-Strategie der Bundesregierung, die ausdrücklich um ethische und legale Beurteilung bittet. Wir haben riesige Probleme dadurch, dass Europa in seiner Digitalstruktur von den USA und China abhängig ist.

Markus Gabriel: Der Sinn des Denkens.
Ullstein Hardcover
368 Seiten
20 Euro

Es geht um die Rettung von Menschenleben. Ist da das Thema Datensicherheit nicht nachrangig?
Das stimmt. Aber das gilt nur für absolut notwendige Maßnahmen wie etwa die vor der ersten Pandemie-Welle in Deutschland aufgrund virologischer Expertise vorgeschlagenen Kontaktverbote. Das ließ sich sehr klar naturwissenschaftlich begründen.

Nun aber bezeichnen selbst einige Virologen wie Alexander Kekulé aus Halle das Handytracking als unverhältnismäßig. Man stelle sich vor, wir würden das bei anderen Krankheiten machen.

Etwa eine Aids-App?
Das wäre eine Horrorvorstellung, dass wir so unsere Krankheiten veröffentlichen würden. Wir sollten auf die asiatischen Länder schauen und uns ernsthaft die Frage stellen, ob wir eine solche durchdigitalisierte Lebenswelt möchten.

Viele verweisen auf Südkorea als Beispiel.
Könnten wir den Beweis erbringen, dass Handytracking dort der entscheidende Faktor war, dann würde wohl auch ich die Lage anders einschätzen. Aber bekanntlich hat Südkorea auch wesentlich mehr Bürger auf Corona getestet. Das ist vermutlich der entscheidende Faktor.

Befürchten Sie, dass wir in der Krise beim Thema Datenschutz wichtige Hürden niederreißen?
Ja, ganz genau. Wir haben in Deutschland seit Beginn der Digitalisierung viel Widerstand geleistet und immer wieder auf unsere Werte hingewiesen. Wenn wir jetzt einknicken ohne ein absolut zwingendes Argument, wird mit Sicherheit noch mehr einstürzen. Davon sollten wir ausgehen.

Es geht um Menschenleben. Sehr schnell erfolgte der Lockdown, was erstaunt. Denn beim Klimaschutz reagierte Deutschland höchst zögerlich.
Das stimmt. Dabei geht es in dieser Frage um die Existenz der Menschheit. In der Klimaforschung wurde ein erheblicher Aufwand betrieben, um die genauen Auswirkungen festzustellen. Dennoch wurde uns immer gesagt, es darf keine großen Eingriffe in die deutsche Wirtschaft geben – schon gar nicht in die deutsche Automobilindustrie als Kernstück unserer Ökonomie. Nun, auf einmal, können wir das alles tun. Ganz offensichtlich ist damit ein Widerspruch aufgedeckt.

Ich glaube, dass wir moralischen Fortschritt nur erzielen, wenn wir die dunklen Zeiten vollständig analysieren.

Warum ist denn in der Corona-Pandemie alles möglich, was zuvor tabu war?
Dazu zählen viele Faktoren, die Soziologen, Philosophen und andere Fachdisziplinen genauestens untersuchen sollten. Ich kann an dieser Stelle nur wenige benennen– etwa das betonte Auftreten Chinas als Problemlöser der Menschheit.

Das hat unsere Politiker beeinflusst?
Ja, denn wäre Deutschland im Vergleich ein höheres Risiko eingegangen und gescheitert, hätte das Urteil gelautet: Diese blauäugigen Demokratien können im Notfall nicht durchgreifen. China schon. Das wäre in der derzeitigen globalen Systemkonkurrenz eine fatale politische Botschaft gewesen.

Stattdessen bekommt Deutschland viel Lob.
Ja, und das sieht ja auch toll aus. Wenn die „New York Times“ etwa vergangenes Wochenende darüber berichtete, welche Wunder das deutsche Vertrauen in den Staat hervorbringt, dass so wenige Deutsche sterben und wir loyal zu unserer Regierung stehen – das ist ein perfektes Image.

Nun, es gibt tatsächlich schlechtere Schlagzeilen. Aber Sie beurteilen das eher kritisch?
Nein, ich will nicht herumnörgeln, nur darauf hinweisen, dass es für Deutschland einen riesigen moralischen Imagegewinn in der Welt gibt. Und das hat eben auch eine Kehrseite. Rein politikwissenschaftlich betrachtet, das heißt ganz ohne moralisches Pathos, müssen wir feststellen, dass eine politische Strategie verfolgt wird. Wir stellen uns als perfekt rationale und belastbare Akteure in der Welt dar. Während etwa Frankreich und Spanien auf Kriegsrhetorik setzen.

Der Populismus blüht weltweit. Ein rationaler Staat ist da nicht die schlechteste Wahl, oder?
Seit Jahren ist das Vertrauen in die Wissenschaft durch den Populismus geschwunden. Denken wir etwa an die Leugnung der Klimakrise. Da trifft es sich gut, dass es Deutschland gelingt, eine naturwissenschaftlich freundliche Regierung zu präsentieren. Damit dämmen wir eine reale Gefahr für die Demokratie ein.

Es geht neben der Gesundheit auch um Symbolpolitik – ein kluger Schachzug.

Sie machen darauf aufmerksam, dass hinter dem momentanen Handeln politisches Kalkül steckt.
Es geht neben der Gesundheit auch um Symbolpolitik – ein kluger Schachzug. Deshalb müssen die Maßnahmen nicht falsch sein, aber wir müssen verstehen, dass mehr dahintersteckt.

Wir haben den Virologen viel Macht eingeräumt. Fehlen die Stimmen anderer Fachrichtungen?
Es ist interessant, dass einige Politiker, wie etwa Armin Laschet, ein interdisziplinäres Gremium einbestellt haben. Dort sitzt unter anderem der Philosoph Otfried Höffe als renommierter Ethiker im Gremium. Es geht dort um die Planung einer Exitstrategie. Somit gibt es sehr wohl ein Bewusstsein dafür, dass es übertrieben war, nur auf eine Disziplin zu hören. Mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit – davon brauchen wir in Zukunft mehr.

Besteht denn die Chance, dass sich nach der Pandemie auch etwas zum Positiven verändern wird?
Es gibt eine Chance auf moralischen Fortschritt. Wir haben jetzt gesehen, dass moralische Politik möglich ist, und sollten mehr davon fordern: nicht zurück zu vorher, sondern auf in eine bessere Zukunft. Jetzt haben wir die Chance, ein besseres Gesellschaftsdesign für eine globale Weltordnung zu entwickeln.

Wir werden in eine Rezession geraten. Werden sich dann nicht eher negative Kräfte verstärken?
Wenn wir sie nicht überwinden können, trifft das zu. Aber ich habe die Hoffnung, dass es möglich ist, eine moralische Ökonomie zu entwickeln. Schon in der Sozialen Marktwirtschaft hat es funktioniert, dass wir den Kapitalismus nicht so entfesselten, wie das in den USA der Fall ist. Das könnten wir verstärken, indem wir auch ökonomisches Kapital aus moralisch überlegenen Ideen schlagen.

Woran denken Sie da?
Etwa an unsere Ingenieurskunst, um die allergenialsten Lösungen für den Klimaschutz zu entwickeln. Das übersetzt sich in wirtschaftliches Kapital. Auch hierbei gilt: mehr Interdisziplinarität, denn Technik darf nicht moralisch unbeobachtet voranschreiten, es gibt immer gigantische Risiken.

Werden wir den Klimaschutz neu angehen? 
Ja, das vermute ich. Der Gesellschaft wird man nicht verkaufen können, dass wir den Naturwissenschaftlern in dem einen Fall zuhören, aber in dem anderen nicht. Diese Maske ist gefallen.

Das ist ein hoffnungsvoller Abschluss. 
Ja, ich bin sogar ganz optimistisch. Aber ich glaube, dass wir moralischen Fortschritt nur erzielen, wenn wir die dunklen Zeiten vollständig analysieren. Das liegt in unserer Hand.

Herr Gabriel, wir danken Ihnen für das Interview.

Mehr: Kontaktverbot und Langeweile? Zehn Buchtipps für die Coronakrise

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