Benachrichtigung aktivieren Dürfen wir Sie in Ihrem Browser über die wichtigsten Nachrichten des Handelsblatts informieren? Sie erhalten 2-5 Meldungen pro Tag.
Fast geschafft Erlauben Sie handelsblatt.com Ihnen Benachrichtigungen zu schicken. Dies können Sie in der Meldung Ihres Browsers bestätigen.
Benachrichtigungen erfolgreich aktiviert Wir halten Sie ab sofort über die wichtigsten Nachrichten des Handelsblatts auf dem Laufenden. Sie erhalten 2-5 Meldungen pro Tag.
Jetzt Aktivieren
Nein, danke

Wirtschaftshistoriker im Interview Adam Tooze fordert Krisenbekämpfung nach dem Motto: „Whatever it takes“

Der britische Wissenschaftler stellt in seinem neuen Buch „Welt im Lockdown“ die These auf: Künftige Krisen müssen wir nach bestem Wissen und Gewissen statt mit Defizitregeln bekämpfen.
19.09.2021 - 13:04 Uhr Kommentieren
Wir leben in einer Zeit der Krisen. Quelle: dpa
Coronavirus-Pandemie

Wir leben in einer Zeit der Krisen.

(Foto: dpa)

Düsseldorf Adam Tooze gehört zu den besten Kennern der internationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Sein Buch „Crashed“ zur europäischen Schuldenkrise ist zu einem Standardwerk geworden. Der in Großbritannien geborene und in Deutschland aufgewachsene Historiker lehrt an der New Yorker Columbia University.

In seinem neuen Buch „Welt im Lockdown“ versucht der 54-Jährige, erste Lehren aus der Pandemie zu ziehen. Nach Tooze ist die Welt in ein Zeitalter permanenter Krisen eingetreten. Eine Rückkehr zur Normalität sieht er deshalb vorerst nicht.

Stattdessen fordert der Wissenschaftler im Gespräch mit dem Handelsblatt, dass wir uns von selbst auferlegten finanziellen Fesseln wie der Schuldenbremse oder dem Europäischen Stabilitätspakt lösen müssten. Nur dann könnten wir künftige Herausforderungen wie die Klimakrise meistern.

Tooze kritisiert Wahlversprechen von Parteien in Deutschland, wonach die Schuldenbremse in absehbarer Zeit wieder in alter Form eingeführt werden könne.

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Herr Tooze, Sie wollen Schuldenbremse und Maastricht-Kriterien über Bord werfen und begründen das mit einer Erkenntnis des britischen Ökonomen John Maynard Keynes aus dem Jahr 1942: „Alles, was wir tatsächlich tun können, können wir uns auch leisten.“ Eine Provokation?
Es klingt zwar wie eine Provokation. Tatsächlich beschreibt Keynes nur das Offensichtliche, und seine Aussage ist heute noch richtig. Wir können nach den Erfahrungen von Finanzkrise und Pandemie nicht länger so tun, als ob unsere Handlungsoptionen durch finanzielle Fesseln begrenzt würden.

„Zu geringe Inflationsraten sind jetzt genauso ein Risiko für die Wirtschaft wie zu hohe.“ Quelle: Getty Images
Adam Tooze

„Zu geringe Inflationsraten sind jetzt genauso ein Risiko für die Wirtschaft wie zu hohe.“

(Foto: Getty Images)

Die meisten Politiker in Deutschland sehen das anders und haben sich in den vergangenen zehn Jahren auch anders verhalten.
Das stimmt. Die Schuldenbremse in Deutschland ist nur ein Beispiel dafür. Die im Maastricht-Vertrag festgehaltenen Defizitregeln sind ein anderes. Aber auch in den USA zeigt die gesetzliche Schuldengrenze, wie wir unser Handeln bewusst durch im Kern konservative Regeln limitiert haben.

Ökonomie ist die Lehre vom Umgang mit knappen Ressourcen. Gilt das nicht für die Finanzwelt?
Natürlich sind wir durch Ressourcen limitiert, und wenn wir Grenzen überschreiten, riskieren wir möglicherweise Inflation. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir es jedoch versäumt herauszufinden, wo diese Grenzen sind und welche Risiken wir eingehen, wenn wir sie überschreiten.

Wo zeigt sich diese neue Experimentierfreude in der heutigen Politik?
Die US-Notenbank Fed und die EZB haben sich ein symmetrisches Inflationsziel von zwei Prozent gesetzt. Das bedeutet, zu geringe Inflationsraten sind jetzt genauso ein Risiko für die Wirtschaft wie zu hohe. Das ist eine gravierende Veränderung. Ein anderes Beispiel ist der Krieg gegen den Terror. Es ist falsch zu behaupten, dass wir ihn uns nicht leisten können – monetär ist das kein Problem. Entscheidend ist, ob wir ihn uns aus geopolitischen Gründen leisten wollen.

Was ist der Preis für die nahezu totale finanzielle Freiheit des Handelns?
Sie bedeutet, dass wir auch falsche Entscheidungen treffen können. Der österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek und andere konservative Liberale wussten von der monetären Freiheit, fürchteten aber, dass wir nicht in der Lage seien würden, kluge ökonomische Entscheidungen damit zu treffen. Im Grunde beinhaltet Keynes’ Erkenntnis eine Verantwortungsethik, weil wir jetzt die Konsequenzen unseres wirtschaftspolitischen Handelns tragen müssen.

Ist es nicht besser, wir setzen uns selbst Regeln, um falsche Entscheidungen zu verhindern?
Das wäre wünschenswert, aber in der Realität haben wir alle fiskalpolitischen Regeln zerstört. Und zwar nicht, weil wir unverantwortlich sind, sondern weil unser Finanzsystem so instabil ist, dass es uns in der Krise zwingt, Dinge zu tun, von denen wir dachten, sie seien unmöglich. Wir stehen vor so vielen Herausforderungen – von der Pandemie bis zur Klimakrise –, die wir nur meistern können, wenn wir Keynes’ Erkenntnis ernst nehmen.

Bekommen wir den Geist monetärer Freiheit wieder zurück in die Flasche?
Regeln sind historisch aus einer Skepsis gegenüber der unberechenbaren menschlichen Natur entstanden. Heute muss man ein großer Optimist sein, wenn man glaubt, man könnte mit Regeln die vor uns liegenden Krisen meistern. Ich verstehe den Wunsch, die alten Regeln zurückzubekommen, aber wir leben heute in einer anderen Welt.

Warum sollten wir uns in der Euro-Zone nicht an die Maastricht-Kriterien halten?
Rund 60 Prozent der Einwohner in der Euro-Zone leben in Staaten, deren Schuldenquote mehr als 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beträgt. Es wäre naiv zu glauben, dass eine Rückkehr zu den alten Maastricht-Regeln akzeptiert würde.

Adam Tooze: Welt im Lockdown
– Die globale Krise und ihre Folgen –
Verlag C.H. Beck
2021
408 Seiten
26,95 Euro
ISBN: 978-3-406-77346-4

Umgekehrt pochen gerade viele Deutsche auf die Einhaltung dieser Regeln, und eine Abkehr vom Regelwerk könnte dazu führen, dass sie Europa den Rücken kehren.
Das ist der Fehler konservativer Politiker, die es versäumt haben, ihren Anhängern die Lage zu erklären, in der wir uns jetzt befinden. Während der Schuldenkrise hat nur das unkonventionelle Eingreifen Mario Draghis die deutschen Konservativen davor bewahrt, dass sie die Suppe auslöffeln mussten, die sie sich mit ihrer Austeritätspolitik selbst eingebrockt hatten. Nicht nur Populisten produzieren „Fake News“. Das Versprechen, die deutsche Schuldenbremse wieder zu installieren, gehört in den Bereich der „Post-Truth Politics“.

Warum sind die Bundestagswahlen wichtig für den Paradigmenwechsel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik?
Es gibt einige Parteien in Deutschland, die Grünen gehören dazu, die eine Politik auf Augenhöhe mit der Zeit fordern. Genau darum geht es. Wir stehen vor historisch noch nie da gewesenen Herausforderungen wie der Klimakrise, und die Politik muss zeigen, dass sie dem gewachsen ist. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums gibt es die FDP, die ihren Wählern eine Rückkehr in die alte Normalität von Maastricht-Regeln und Schuldenbremse verspricht. Ich halte das für unverantwortlich. Weder Italiener noch Franzosen würden dem zustimmen.

Wie sieht für Sie die „neue Normalität“ nach der Pandemie aus?
Ich halte den Begriff für falsch, weil es nicht um Normalität geht. Wir befinden uns in einem Zustand permanenter Krisen, und das wird angesichts des Klimawandels auch so bleiben. Das anthropozäne Zeitalter, in dem der Mensch zu einem wichtigen Einflussfaktor für Erde und Natur geworden ist, hat längst begonnen. Wir glauben immer noch, dass die Pandemie ein Unfall war und nichts mit strukturellen Veränderungen im Verhältnis von Mensch und Natur zu tun hat. Wenn uns das Corona-Jahr 2020 eines gelehrt hat, dann, dass unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft sehr instabil sind. Eine Rückkehr dorthin wäre also auch eine Rückkehr in die Instabilität.

Sind wir auf künftige Krisen besser vorbereitet?
Der „Green Deal“ der EU ist eine adäquate Reaktion auf die Krise, weil er berücksichtigt, dass die Krisen von Wirtschaft, Gesellschaft, Umwelt und Geopolitik miteinander verbunden sind.

Wie können wir unsere westlichen Demokratien krisenfester machen?
Zunächst müssen wir uns von vermeintlichen fiskalischen oder monetären Fesseln befreien und uns darauf konzentrieren, was wir tatsächlich in einer Krise tun können. Das braucht noch viel Überzeugungsarbeit, vor allem in Deutschland. Eine Idee könnte sein, die Schuldenbremse für Investitionen auszusetzen, so, wie die Grünen es fordern. Darüber hinaus brauchen wir einen Technologie-Realismus, also eine realistische Vorstellung, wie neue Technologien uns helfen können, Krisen schneller und effektiver zu bekämpfen. Der „Weltgeist“ nach Ausbruch der Pandemie hat gezeigt, wie schnell wir Impfstoffe entwickeln können, wenn wir an einem Strang ziehen. Zugleich hat er versagt, als es darum ging, die Vakzine schnell und gerecht an die Weltbevölkerung zu verteilen.
Herr Tooze, vielen Dank für das Interview.

Mehr: Die EU behandelt alle Schulden gleich – das ist die größte Schwäche des Stabilitätspakts

Startseite
Mehr zu: Wirtschaftshistoriker im Interview - Adam Tooze fordert Krisenbekämpfung nach dem Motto: „Whatever it takes“
0 Kommentare zu "Wirtschaftshistoriker im Interview: Adam Tooze fordert Krisenbekämpfung nach dem Motto: „Whatever it takes“"

Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.

Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%