Inside Victoria’s Secret Gefallene Engel

Einmal im Jahr beeindruckt Victoria’s Secret die Welt mit einer bombastischen Dessous-Show. Doch wer steckt eigentlich hinter dem milliardenschweren Konzern? Eine Spurensuche – zwischen strahlenden Schönheiten und beunruhigten Investoren.
07.10.2017 - 08:06 Uhr Kommentieren
„Engel“ Martha Hunt mit leuchtenden Flügeln. Quelle: AFP
Lichtspiele

„Engel“ Martha Hunt mit leuchtenden Flügeln.

(Foto: AFP)

Es kommt nicht oft vor, dass Lady Gaga konservativer gekleidet ist als alle anderen Frauen um sie herum. Aber am 30. November 2016 spielte selbst der Pop-Weltstar lediglich eine – wenn auch teuer bezahlte – Nebenrolle: Nur wenige Minuten stand sie im hochgeschlossenen Kleid auf der gewaltigen Bühne des noch gewaltigeren Grand Palais in Paris, wo sonst eher Chanel neueste Kollektionen präsentiert. Sie hauchte ein paar Takte ihres Superhits „Million Reasons“ durch Nebelschwaden und Lichtkegel. Dann wich sie an die Seite für die wahren Stars des Abends: die Unterwäsche-Models von Victoria’s Secret.

Am Ende raunte die Branche, 20 Millionen Dollar habe das Event mindestens verschlungen. Und dabei ging es doch nur um 43 „Engel“ – so nennt der Konzern seine Models, denen wie zum Beweis ihres überirdischen Aussehens auch schier unbezahlbare Flügel umgehängt werden. Das Paar der britischen Beauty Lily Donaldson war zum Beispiel mit 2.500 Edelsteinen dekoriert. Der „Fantasy Bra“, den die Amerikanerin Jasmine Tookes präsentierte, war drei Millionen Dollar wert. Gespart wird hier nicht, dabei täte ein bisschen Bescheidenheit und Bodenhaftung der Marke neuerdings vielleicht ganz gut.

Die Investoren werden unruhig

Schon im Februar 2016 trat Sharen Turney zurück, die das US-Unternehmen zehn Jahre lang geführt hatte. Seither steuert wieder Leslie Wexner, 80-jähriger Gründer des Mutterkonzerns von Victoria’s Secret, L-Brands. Umsatz- und Gewinnziele werden mittlerweile chronisch gerissen. Der Aktienkurs ist abgestürzt, die Investoren, zu denen Finanzriesen wie Blackrock gehören, werden offenbar unruhig.

Interessanterweise weiß die Öffentlichkeit bislang kaum etwas über das Wäsche-Imperium, das noch immer acht Milliarden Dollar umsetzt. Anfragen werden gar nicht erst beantwortet, Interviews selten gewährt. In eigener Sache gibt sich Victoria’s Secret zugeknöpft. Dabei ist das Unternehmen mit all seinen Höhe- und Tiefpunkten fast so glamourös wie seine Engel-Paraden.

Es war 1977, als der Amerikaner Roy Raymond in Kalifornien sein erstes Geschäft für Damendessous eröffnete. Der Legende nach war sein Ansporn eine Mischung aus Scham und Verzweiflung: „Immer, wenn ich versuchte, Dessous für meine Frau zu kaufen, hatte ich dasselbe Problem“, erzählte Raymond später. „Ich sah stangenweise Bademäntel und hässliche Nylon- Schlafröcke mit Blumen drauf. Und ich hatte immer das Gefühl, als betrachteten mich die Verkäuferinnen als Eindringling.“

20 Millionen Dollar soll das Event mindestens verschlungen haben. Quelle: Reuters
Abschluss der Victoria’s-Secret-Show in Paris 2016

20 Millionen Dollar soll das Event mindestens verschlungen haben.

(Foto: Reuters)

Es dauerte eine ganze Weile, bis Raymond aus seinem Frust ein Geschäft machte. Acht Jahre lang studierte er den Markt für Unterwäsche, bevor er sich 40.000 Dollar von seinen Eltern lieh, noch einmal so viel von seiner Bank und alles in eine Idee steckte: einen Shop, in dem sich auch Männer wohlfühlen sollten, wenn sie Damenwäsche kauften.

Den ersten Laden eröffnete Raymond in Palo Alto. Das Herz des Silicon Valleys war also nicht nur Ursprung von Bits und Bytes, sondern auch Geburtsort deutlich erlebbarer Produkte. Vom Start weg brachte es Raymond auf eine halbe Million Dollar Jahresumsatz, 1980 betrieb er bereits drei Geschäfte und einen Versandhandel.

Unglücklicher Start

Doch Raymond, Absolvent der elitären Wirtschaftsschmiede Stanford Graduate School of Business, brachte Umsatz und Gewinn nie ins richtige Verhältnis. 1982 führte er zwar fünf Läden, aber sein Unternehmen schlitterte in Richtung Insolvenz. Raymond verkaufte sein Baby für eine Million Dollar an Leslie Wexner. Danach ging es zumindest für Roy Raymond nur noch bergab. Seine danach lancierte Kindermarke „My Child’s Destiny“ ging 1986 bankrott. Raymond verlor all seinen Besitz. 1993 scheiterte auch seine Ehe. Im August desselben Jahres stürzte er sich von der Golden Gate Bridge. Er wurde nur 46 Jahre alt.

Dem neuen Eigentümer von Victoria’s Secret dagegen sollte die Marke nur Glück bringen: Auch Leslie Wexner hatte mal Wirtschaftswissenschaften studiert, aber die Praxis der Textilbranche anders als Roy Raymond schon im Bekleidungsgeschäft seiner Eltern kennen gelernt. Als er seinen Vater nicht von einer Sortimentsänderung überzeugen konnte, lieh er sich 5.000 Dollar von seiner Tante und gründete 1963 sein eigenes Unternehmen: The Limited.

Der Name war Programm. Wexner beschränkte sein Angebot auf Produkte, die günstig waren und sich schnell verkauften. Ein Jahr später machten seine Eltern ihr eigenes Geschäft dicht und stiegen bei ihrem Sohn ein.

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    Als neuer Eigentümer von Victoria’s Secret nahm Wexner in den frühen achtziger Jahren auch dort schnell Änderungen vor. Er wollte vor allem diejenigen ansprechen, die am Ende seine Produkte auch tragen würden: die Frauen. Alles sollte nicht mehr so nach Erotikshop aussehen. Ab sofort wehte klassische Musik durch die Läden, Wexner ahmte mit seiner Inneneinrichtung den Architekturstil unter der britischen Königin Victoria im 19. Jahrhundert nach. Als Geschäftsadresse druckte er London in seine Kataloge. Amerikanische Frauen, so ahnte der neue Besitzer, hielten das für eleganter als Columbus/Ohio, den wahren Sitz des Unternehmens.

    1996 begann der ganz große Hype

    Schon vier Jahre nach Wexners Übernahme war die Zahl der Victoria’s-Secret-Stores auf über hundert gestiegen. Die Marke wuchs schneller als jede andere in den USA. Wexner eroberte den lukrativen Markt für Parfüm – ein kluger Schachzug, der zusätzliche gewaltige Gewinne lieferte.

    1996 veranstaltete Victoria’s Secret seine erste große Modenschau in New York. Hauptattraktion im Plaza Hotel war das Supermodel Stephanie Seymour. Zwei Monate nach ihrem Auftritt in Unterwäsche stand Seymour in der New Yorker Börse und läutete die Schlussglocke. L-Brands, wie der Mutterkonzern von Victoria’s Secret mittlerweile hieß, gab Aktien aus. In nur 14 Jahren hatte Wexner aus einem kleinen Wäscheladen ein Milliardenimperium erschaffen.

    Entsprechend wurden die darauffolgenden Dekaden zu wahren Machtdemonstrationen: Victoria’s Secret verpflichtete Stars wie Naomi Campbell und Laetitia Casta für seine Modenschauen. 1996 war Claudia Schiffer die erste Trägerin des teuersten Büstenhalters der Welt. Schon 1999 begann das Unternehmen, seine Shows via Internet auszustrahlen. Der Konzern investierte allein 1,5 Million Dollar in einen 30-Sekunden-Werbespot während des Super Bowls, um das Spektakel mit Heidi Klum, Tyra Banks und Gisele Bündchen anzukündigen. Zwei Millionen Zuschauer loggten sich ein – zu viel fürs damalige Netz. Zwei Jahre später wurde die Show dann gleich im US-Sender ABC ausgestrahlt. Mehr als zwölf Millionen Amerikaner schauten zu.

    Das amerikanische Model Devon Windsor auf der Victoria’s-Secret-Show 2016. Quelle: Getty Images
    Prunkvoll geschmückt

    Das amerikanische Model Devon Windsor auf der Victoria’s-Secret-Show 2016.

    (Foto: Getty Images)

    Unter der Führung der neuen Vorstandschefin Sharen Turney feierte Victoria’s Secret Erfolg auf Erfolg. Das Unternehmen dominierte den Markt für Unterwäsche, expandierte in Bademode, Kosmetika und andere Geschäftszweige. Keine andere Marke verstand es so gut, aus ihren Werbeträgern Heldinnen zu machen, ja mehr noch: Engel.

    Lange Zeit war Victoria’s Secret selbst auf Wolke sieben. Die Umsätze kletterten stetig, der Jahresgewinn überstieg die Milliardengrenze. Mochten Menschenrechtsorganisationen behaupten, dass auch bei der Produktion der Dessous Kinderarbeit eine Rolle gespielt habe. Sollten erzürnte Eltern doch die Fernsehsender auffordern, den „Softporno“ des Engel-Events zu stoppen. Die Kritik perlte ab.

    Sting, die Spice Girls, Andrea Bocelli, Justin Timberlake, Rihanna, Justin Bieber, Taylor Swift, Jay Z, Bruno Mars, Ed Sheeran – die größten Weltstars fanden sich alljährlich auf der Bühne von Victoria’s Secret ein, um das zu dekorieren, was an diesen Abenden wirklich zählte: viele Frauen in wenig Stoff.

    Aber auch die Chefs von Engeln sind nicht fehlerfrei. Und diese Fehler sind trotz aller Verschwiegenheit des Konzerns mittlerweile sichtbar. Man muss nur heraussteigen aus den parfümierten Wolken der Show und zum Beispiel am Frankfurter Flughafen den dortigen Shop von Victoria’s Secret besuchen.

    Starke Konkurrenz aus dem Netz

    Klein ist er ausgefallen, der einst groß angekündigte Stützpunkt in Terminal 2. Nach Hamburg und München ist es erst die dritte Verkaufsstelle der Engel in Deutschland. Aber wie überall hierzulande gibt es dort gar keine Dessous, sondern nur Shampoos, Parfüms und ein paar Handtaschen. Warum das so ist, kann nicht mal die Verkäuferin erklären.

    „Ich arbeite mit vielen Großhändlern zusammen, und Victoria’s Secret hat Abercrombie & Fitch als weltweit meistgefragte Marke abgelöst“, sagt der Modeexperte Andreas Kurz. „Aber das Unternehmen hat keine Auslandsstrategie, ja nicht einmal Interesse, im Ausland zu verkaufen. Außerhalb der USA bietet es fast ausschließlich Kosmetika und Parfüm an. Das riesige Potenzial wird überhaupt nicht ausgeschöpft.“ Das ist umso gefährlicher, als der stationäre Einzelhandel gerade in den USA bereits schwere Einbrüche durchs Onlinegeschäft erlebt hat.

    „Victoria’s Secret hat wie alle Kleidungsläden mit dem Preisdruck von Discountern und der Konkurrenz aus dem Netz zu kämpfen“, bilanziert Steve Dennis, ein ehemaliger Manager bei der Kaufhauskette Neiman Marcus. „In den Boomzeiten wurden zu viele Läden gebaut. Die Umstellung auf den Onlinehandel lief nicht schnell genug.“

    Pop-Diva Lady Gaga (l.) flankiert den Auftritt der Models von Victoria’s Secret bei der letztjährigen Show im Pariser Grand Palais. Quelle: Getty Images
    Große Show

    Pop-Diva Lady Gaga (l.) flankiert den Auftritt der Models von Victoria’s Secret bei der letztjährigen Show im Pariser Grand Palais.

    (Foto: Getty Images)

    Zudem, notieren Experten, hat der Markt der Engel besondere Probleme. Es gibt „eine Entzauberung der Dessous“, findet der Unternehmensberater Franz Schmid-Preissler. In einer Zeit, in der auch Billiganbieter wie H&M, Zara und selbst Primark sexy Unterwäsche anbieten, wollen Frauen pflegeleichte und preiswerte Produkte, die sie in die Waschmaschine stecken können. Wenn sie kaputtgehen, kaufen sie einfach neue.

    Der Berater sieht Victoria’s Secret in einem Dilemma. Zwar gebe es noch immer eine Nachfrage für anspruchsvolle und auch teure Unterwäsche. Doch die US-Marke habe Probleme, diese Ansprüche zu erfüllen. Gerade in Qualitätsfragen seien die Amerikaner zurückgefallen. Schmid-Preissler mahnt, auch die Engel-Shows hätten an Überraschungsfaktor verloren: „Sie müssen sich heute schon etwas Neues einfallen lassen.“

    Noch ist das nicht gelungen. 2015 verzeichnete der US-Fernsehsender CBS nur noch 7,8 Millionen Zuschauer bei der Ausstrahlung der Secret-Show in New York. Im Jahr darauf waren es trotz gigantischer Vorabwerbung über soziale Medien nur noch 6,7 Millionen. Dabei galt die Pariser Show als teuerste Veranstaltung aller Zeiten.

    Die Engel sollen Asien erobern

    Nun richtet sich Victoria’s Secret neu aus. Das Auslandsgeschäft steht auf einmal ganz oben auf der To-do-Liste, vor allem in China. Die nächste Modenschau soll deshalb im November in Schanghai stattfinden. Es ist der erste Ausflug der Engel nach Asien. Zu Hause wird derweil gespart: Die Ausflüge in die Bademoden und Oberbekleidung gelten als gescheitert. Von der Umsatzverdoppelung, die Wexner 2014 ankündigte, ist nichts zu sehen. In den Geschäftsberichten ist auf einmal von Kosten für Restrukturierung und von Jobabbau die Rede.

    Wexner kürzt sogar bei sich selbst. 2016 verdiente er „nur“ noch 14,8 Millionen Dollar – über zwölf Millionen weniger als im Jahr davor. Auf einen Teil der Summe verzichtete der Chef freiwillig, auch wenn den Aktionären das als Signal nicht ausreichen dürfte. Große Investoren wie Blackrock und Vanguard kann das nicht glücklich machen. Anfang 2016 stand die Aktie des Mutterkonzerns L-Brands, zu dem Victoria’s Secret zwei Drittel der Umsätze beisteuert, bei 99 Dollar. Seit Wexner wieder persönlich führt, ist die Aktie auf 37 Dollar eingebrochen.

    Mehr Misstrauen geht kaum. Die Engel sind tief gefallen. Und Wexner weiß selbst am besten, dass im Geschäftsleben Ausreden nicht gelten. Noch im vergangenen Jahr hat er in einem seiner seltenen Interviews erklärt: „Wenn ein Händler sich schwertut, kann ich immer sagen: Es liegt am Umfeld, es liegt am Internet, es liegt an Walmart. Aber im Allgemeinen gilt: Es liegt am Produkt, Idiot. Du musst deine Läden einfach gut führen.“

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