Anlagestrategie Einsteigen oder warten? Der Dax ist tief gefallen, aber nicht günstig

Der Dax hat in den vergangenen Tage hohe Verluste eingefahren.
Düsseldorf Solch einen Crash in so kurzer Zeit gab es noch nie. 40 Prozent hat der Dax in nur einem Monat verloren. Immer wieder kommt es deshalb zu kräftigen Gegenbewegungen nach oben, so wie auch am Dienstag. Anleger kaufen, weil sie davon ausgehen, nach dem Kursverfall günstige Einstiegsniveaus vorzufinden.
Das zumindest signalisieren nicht nur die stark gefallenen Kurse, sondern auf den ersten Blick auch die Bewertungen der Aktien und ihrer Unternehmen. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) setzt die aktuellen Kurse in Relation zum Unternehmensgewinn pro Aktie und gilt als eine der wichtigsten Kennzahlen an den Märkten.
Wer heute die 30 Aktien im Dax kauft, bezahlt die Unternehmen, und heruntergerechnet jede einzelne Aktie, im Schnitt nur noch mit dem zehnfachen Jahresnettogewinn. Grundlage dafür sind die Gewinne im laufenden Geschäftsjahr. Damit ist der Dax gut 25 Prozent preiswerter als im historischen Mittel.
Das Problem: Die Annahmen beruhen auf falschen Voraussetzungen. „Das Argument, dass Aktien aufgrund des Kursverfalls günstig geworden sind, ist sehr fragwürdig“, sagt M.M.-Warburg-Chefvolkswirt Carsten Klude.
Denn das KGV, wie es derzeit Finanzdatenanbieter wie Bloomberg für die Aktien und den gesamten Dax berechnen, das sich wiederum aus den Schätzungen der Analysten speist, beruht auf Erwartungen, wonach die Gewinne in diesem Jahr um durchschnittlich zwölf bis 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr steigen werden.
Noch immer haben die meisten Analysten ihre Gewinnschätzungen angesichts der Corona-Pandemie nicht nach unten angepasst. Schon zur Jahreswende gab es die Annahme, dass die Gewinne um genau diese zwölf bis 15 Prozent steigen werden.
Grund für das Beharrungsvermögen der Analysten ist keineswegs ihre Trägheit oder die Tätigkeit im Homeoffice, auch nicht ein Übermaß an Optimismus im Sinne, dass sich die Konjunktur nach dem jetzigen Stillstand schon noch rasch erholten wird. Vielmehr ist es momentan gar nicht möglich, auch nur halbwegs zuverlässig Gewinne zu prognostizieren.
So hieß es zuletzt etwa beim Baustoffkonzern Heidelberg Cement, dass es momentan nicht abzuschätzen sei, wie lange die von den Regierungen ergriffenen Schutzmaßnahmen anhielten und welche Auswirkungen diese auf den Bau in den einzelnen Ländern haben. „Vor diesem Hintergrund ist ein seriöser Ausblick auf das Geschäftsjahr 2020 zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich“, erklärte der neue Vorstandschef Dominik von Achten.
Veraltete Schätzungen
So wie bei Heidelberg Cement weiß auch bei so gut wie allen anderen Unternehmen derzeit niemand, wie lange die Produktionsausfälle noch dauern und das öffentliche Leben samt Konsum und Dienstleistungen eingeschränkt bleibt. Deshalb verharren die Schätzungen bei den Unternehmen – und auch bei den allermeisten Analysten – bis auf Weiteres auf ihrem alten Niveau aus der Zeit vor der Corona-Pandemie.
Marktstrategen, die nicht einzelne Unternehmen analysieren und daraus akribisch Umsatz- und Gewinnprognosen berechnen, sondern von oben auf den Gesamtmarkt blicken, ist dieses Gewinn- und Bewertungsproblem durchaus bekannt – und sie reagieren darauf mit verschiedenen Wenn-dann-Szenarien.
Anlegen in Zeiten von Corona: So sollten sich Investoren jetzt verhalten
Chefvolkswirt Klude hält Gewinnrückgänge von zehn Prozent in diesem Jahr für möglich. In einer neuen Schätzung geht DZ-Bank-Analyst Christian Kahler, der schon viele große Börsenkrisen erlebt hat, sogar davon aus, dass die Gewinne der Dax-Konzerne im laufenden Jahr um zehn bis 20 Prozent gegenüber Vorjahr einbrechen werden.
Kommt es so, dann ist der Dax nicht mehr niedrig, sondern mit einem KGV von 14-15 moderat bis hoch bewertet – basierend auf dem neuen Gewinnszenario. Aktien sind mit einem Mal nicht mehr billig, obwohl sich ihre Kurse fast halbiert haben.
Andreas Hürkamp von der Commerzbank hat ein Szenario für die Börsen entworfen, wonach die Gewinnerwartungen um 20 Prozent fallen. „Dieses Gewinnbild basiert auf der Annahme, dass China im März und April wieder erfolgreich die Produktion hochfahren wird“, argumentiert Hürkamp.
Zweite Voraussetzung ist, dass sich Nachfrage insbesondere in den USA im zweiten Halbjahr spürbar erholen wird. Das wäre eine raschere Konjunkturerholung als in der Finanz- und Wirtschaftskrise vor gut einem Jahrzehnt. In diesem Fall sieht Hürkamp den Dax oberhalb von 8000 Punkten schwanken – also nicht deutlich tiefer fallen als in der vergangenen Woche.
Das öffentliche Leben steht still
Doch das ist nur sein erstes Positivszenario. Nach den jüngsten Nachrichten, dass die Autobauer ihre Produktion einstellen, die Lufthansa nicht mehr fliegt, fast alle Unternehmen weniger oder gar nicht mehr produzieren und dazu das öffentliche Leben weitgehend stillsteht, dürften solche Schätzungen zu optimistisch sein. Bei einem Gewinnrückgang um 30 und mehr Prozent rechnet Hürkamp mit einem Dax in Richtung 7000 Punkten.
Fällt der Dax so tief, dann wären die 30 Dax-Unternehmen an der Börse im Schnitt rund 20 Prozent weniger wert, als es ihrem Buchwert entspricht. Das bedeutet, die Unternehmen kosten an der Börse in der Summe rund 20 Prozent weniger als sie an Eigenkapital abzüglich ihrer Schulden bilanzieren. Solch eine Konstellation ist in der langen Börsengeschichte sehr selten, das gab es nicht einmal auf dem Höhepunkt der Börsenkrise 2003 und 2009.
Damals fiel der Dax bis auf 2220 Punkte (2003) bzw. 3666 Punkte (2009). Beide Male stoppte der Börsenverfall, als die Unternehmen mit einem Buchwert von knapp unter eins (0,95) bewertet waren. Aktuell entspräche das einem Dax-Niveau von 8000 Punkten. Zumindest diese Kennzahl macht also Hoffnung, dass in diesem Bereich der Dax-Verfall stoppen könnte.
Allerdings sind Einbrüche der Unternehmensgewinne von 30 und mehr Prozent, wie sie Hürkamp in seinem Negativszenario berechnet, gar nicht so selten. Das zeigen vergangene große Rezessionen (siehe Grafik). DZ-Bank-Analyst Kahler erinnert der aktuelle Crash an die großen Kursstürze der Vergangenheit: etwa den Computercrash 1987, das Platzen der Dotcom-Blase nach der Jahrtausendwende oder die große Finanzkrise 2008/09. In dieser letzten großen Krise waren die Gewinne der 30 Dax-Konzerne um durchschnittlich 72 Prozent eingebrochen.
„Tatsächlich ist das wahrgenommene wirtschaftliche Risiko heute wesentlich größer als bei anderen Kursrückgängen, weil die globale Gesamtnachfrage empfindlich durch die zunehmende Stilllegung des öffentlichen Lebens gestört wird“, sagt Kahler. Denn zur Finanzkrise mit der Pleite der Großbank Lehman 2008 gibt es aktuell einen großen Unterschied: Damals taumelten Banken, jetzt taumeln alle Unternehmen – und damit die gesamte Realwirtschaft.
Anleger sollten sich also darauf gefasst machen, dass auch diesmal Gewinneinbrüche von deutlich mehr als 50 Prozent, vielleicht sogar mehr als 70 Prozent möglich sind. Kommt es soweit, dann wären Aktien auch auf dem aktuellen Kursniveau zwischen 8000 und 9000 Punkten, gemessen an ihrem KGV, immer noch teuer.
Ein rascher Einstieg drängt sich demnach nicht auf. „Viele schlechte Nachrichten werden noch kommen“, warnt Kahler, „es ist also durchaus denkbar, dass die Aktienmärkte in den kommenden Wochen noch weiter zurücksetzen werden“.
Er rechnet nicht damit, dass sich die Aktienmärkte V-förmig erholen werden, dass sie also keineswegs so schnell wieder steigen, wie sie in den vergangenen vier Wochen abgestürzt sind.
Nicht zu früh zugreifen
„Wir warnen davor, zu früh in das fallende Messer zu greifen“, empfiehlt auch Chefvolkswirt Klude den Anlegern eine vorsichtige Strategie. Selbst wenn es jetzt viele gute Gründe dafür gebe, dass der kommende Aufschwung an den Aktienmärkten durchaus dynamisch ausfallen könnte, sollten Anleger nicht darauf wetten, dass der Startschuss für die Erholung schon in den nächsten Tagen erfolgt.
Kludes Argumentation: Die Konjunkturdaten werden sich in den nächsten Monaten verschlechtern, die Zahl der am Coronavirus Erkrankten wird in Europa und in den USA wohl noch eine ganze Zeit lang weiter ansteigen. „Noch ist nicht der Zeitpunkt gekommen, an denen die Kurse ihren Tiefpunkt erreicht haben und man die Aktienquote wieder aufstocken sollte.“
Doch es gibt auch Hoffnung für die Börsen, selbst wenn die Konzerngewinne wieder so stark einbrechen werden wie in den beiden vergangenen großen Krisen – also um jeweils mehr als 70 Prozent.
Nicht nur in der Finanzkrise vor zehn Jahren, sondern auch beim Platzen der Dotcom-Blase nach der Jahrtausendwende waren die Gewinne der Dax-Unternehmen nach Handelsblatt-Berechnungen um 73 Prozent eingebrochen – nimmt man die drei Geschäftsjahre 2000 bis 2003 zum Maßstab.
Das heißt aber nicht, dass diesmal auch die Börsen so tief abstürzen müssen wie in den zwei großen Krisen. Erstens war der Dax nach der Jahrtausendwende sehr viel höher bewertet. Anleger bezahlten die Dax-Unternehmen vor Beginn der Talfahrt durchschnittlich mit dem 28-fachen Gewinn.
Diesmal lag das KGV vor dem Corona-Crash bei 17. Zweitens lockten damals Staats- und Unternehmensanleihen mit Zinsen von fünf und mehr Prozent. Diesmal gibt es diese Alternative für Anleger nicht. Wer auf Dauer Rendite will, kommt diesmal an der Aktie nicht vorbei.
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