Gerd Gigerenzer: „Fragezeichen hinter hohen Kursen der Tech-Konzerne."
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InterviewGerd Gigerenzer: „Fragezeichen hinter hohen Kursen der Tech-Konzerne“
Der Risikoforscher plädiert für einfache Regeln bei der Bankenregulierung. Preiswerte Indexfonds sieht er nicht als Gefahr für die Stabilität der Finanzmärkte.
Den Boom der Indexfonds sieht der Wissenschaftler als Zeichen für die Reife der Anleger.
(Foto: imago images/Horst Galuschka)
Frankfurt Auch ein Wissenschaftler kann spektakuläre Börsenthesen vertreten. Der renommierte Psychologe und Forscher Gerd Gigerenzer liefert im Gespräch mit dem Handelsblatt ein Paradebeispiel. Er ist vom Geschäftsmodell der Plattformkonzerne wie Google und Facebook nicht überzeugt – was nach den extremen Aktienkursgewinnen durchaus brisant ist. Der 73-jährige Berliner hält es für unklar, ob personalisierte Werbung tatsächlich den Gewinn für die Inserenten bringt, mit dem die Konzerne werben.
Außerdem macht sich der Experte mit seinen Forschungen zu Risiko und Ungewissheit stark für eine einfachere Bankenregulierung, die auf undurchsichtige Bewertungsmodelle mit manipulierbaren Ergebnissen verzichtet. Den Boom der Indexfonds begrüßt er als Zeichen für die Reife der Anleger. Wenn Berater und manche Geldverwalter den Aufschwung kritisierten, dann sei ein mögliches Motiv auch die Angst vor dem eigenen Jobverlust.
Professor Gigerenzer, die Aktienkurse haben sich seit dem Corona-Börsentief im März vergangenen Jahres fast verdoppelt, sind nahe ihrer Rekordstände. Können Sie als Risikoforscher darin eine gefährliche Situation erkennen? Wir leben in einer Welt negativer Zinsen. Da wundert es mich nicht, dass Anleger Aktien und Immobilien kaufen. Meine Vermutung: Es geht noch eine Zeit weiter nach oben mit den Preisen. Aber irgendwann würde sich dann tatsächlich die Frage nach einer Spekulationsblase stellen.
Vita Gerd Gigerenzer
Gigerenzer forscht über die Themen Risiko und Ungewissheit. Der 73-Jährige leitete das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und ist Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam. Das Gottlieb Duttweiler Institute hat ihn als einen der hundert einflussreichsten Denker der Welt bezeichnet.
Gigerenzer trainiert amerikanische Richter, deutsche Ärzte und Manager im Umgang mit Risiken und Unsicherheit und ist Mitgründer der Unternehmensberatung Simply Rational. Der gebürtige Bayer ist Bestsellerautor; gerade ist sein neues Buch „Klick“ über die Bedrohungen der Privatheit in der digitalen Welt erschienen.
Über mehr als ein Jahrzehnt ist der Aktienaufschwung von den Technologiewerten getrieben worden, auch in den vergangenen Monaten. Diese Titel werden auch immer höher bewertet. Kann das zu einer besonderen Gefahr werden? Es ist eine sehr spannende Frage, gerade für die Konzerne mit extrem hohem Börsenwert: etwa Google und Facebook. Deren Geschäft lebt von personalisierter Werbung. Damit erzielen sie praktisch ihre gesamten Einnahmen. Wir reden zum Beispiel über gesponserte Suchanzeigen.
Die Investoren sind davon überzeugt, dass es ein ertragreiches Geschäftsmodell ist… Sollten Zweifel daran aufkommen, dann hätten die Tech-Konzerne sehr große Probleme. Eine Geschichte dazu: Steve Tadelis, Wirtschaftsprofessor an der University of California in Berkeley, verbrachte ein Jahr bei Ebay. Dort erzählten ihm die Marketingleute, bei Google, der Microsoft-Suchmaschine Bing und anderen Plattformen könne man vor den organischen Suchergebnissen nach einem Marken-Stichwort wie „eBay Motorräder“ einen bezahlten Link zur eigenen Firma setzen. Die Berater der Plattformen versicherten, dass Ebay zwölf Dollar verdiene für jeden Dollar, der in solche bezahlten Links investiert werde. Tadelis und sein Team testeten das mit Experimenten, mit dem fast unglaublichen Ergebnis: Für jeden investierten Dollar verlor Ebay 63 Cent.
Müsste man zumindest ein Fragezeichen hinter die hohen Kurse der Tech-Firmen setzen, wenn das auch in ähnlichen Fällen gelten sollte? Durchaus. Und zwar ein großes Fragezeichen.
Gerade junge Leute entdecken seit dem Ausbruch der Coronapandemie die Börse als Spielplatz, spekulieren dort auch, bis hin zu gezielt verabredeten Wetten auf Einzelfirmen, gerade in den USA. Sehen Sie darin ein Problem? Wir sehen tatsächlich immer mehr jüngere Anleger. Mit neuen Handelsmöglichkeiten etwa über Smartphones wurde das auch leichter. Viele haben wenig Erfahrung. Ich vermute, dass sie anders investieren. Sie dürften eher lokale Aktien kaufen, die man also kennt. Oder sie kaufen einfach, was andere kaufen. Dadurch wird das Börsengeschehen insgesamt noch weniger vorhersehbar.
Parallel zu diesem Trend boomen die Indexfonds weiter. In diesem Jahr investierten die Anleger hier so viel neues Geld wie nie. Halten Sie das für eine gute Entwicklung mit vertretbarem Risiko? Wenn Sie etwa einen Dax-Indexfonds kaufen, werden Sie am Ende wahrscheinlich höhere Erträge erzielen, als wenn Sie auf die Empfehlungen Ihres Bankberaters hören. Die Indexprodukte haben einfach sehr geringe Gebühren. Auch das gibt am Ende den Ausschlag. Die Bankberater hören das natürlich nicht gern. Deshalb sage ich zu dem Boom: „Index“ klingt erst einmal langweilig, aber ich sehe es als Zeichen für die Reife der Anleger.
Nun gibt es seit Jahren eine These, die man mit weiter wachsendem Indexfondskapital häufiger hört: Das steigende „dumme“, an stumpfe Messlatten gebundene Anlagekapital erhöhe die Abwärtsgefahr an den Börsen, gefährde die Finanzmarktstabilität… Das leuchtet mir nicht ein. Es gibt sehr viele Indizes, und Anleger setzen die Produkte meist zur Risikostreuung ein. Ich frage mich, ob in der These auch Angst steckt. Ich spreche von der Angst der Berater und Geldverwalter, weil sie hier viel weniger verdienen können.
Bekommt der Trend Schub durch die Digitalisierung? Auf jeden Fall. Wenn ich meine Anlagegeschäfte mit Indexprodukten direkt über eine App abwickeln kann, dann sind Berater und auch Geldverwalter unnötig. Die sind von der Digitalisierung bedroht. Es ist wie in allen anderen Wirtschaftsbereichen, wo „Mittelsmänner“ überflüssig werden.
Digitalisierung hat eine weitere Facette im Anlagemanagement. Sogenannte Künstliche Intelligenz soll beispielsweise Aktienzusammenstellungen für einen Fonds smarter aussuchen, als der menschliche Verstand es könnte… In einem Punkt wäre das wie bei den Indexprodukten: Es würde die aktiven Geldmanager überflüssig machen. Ich würde erwarten, dass der Einsatz Künstlicher Intelligenz jedoch langfristig keine konsistenten Ergebnisse liefert.
Die Protagonisten argumentieren beispielsweise mit Big Data. Das heißt: Dank neuer Datenquellen und schnell wachsender Datenmengen findet smarte Software bei rasant gestiegener Computerleistung bisher unerkannte Muster, die sich gewinnbringend ausnutzen lassen… Big Data funktioniert in einer stabilen Welt mit bekannten Regeln. Das gilt etwa in der Astronomie mit der Bewegung der Himmelskörper. Da hilft die unglaubliche Rechenleistung. Deshalb konnte 1997 der IBM-Computer „Deep Blue“ im Schach zum ersten Mal den damaligen menschlichen Weltmeister Garri Kasparow schlagen, 2016 besiegte dann das Google-Programm „Alpha Go“ zum ersten Mal den Go-Weltmeister Lee Sedol. Go ist ein komplexeres Spiel als Schach. Aber in beiden Fällen gibt es klare, festgelegte Regeln. Etwas ganz anderes ist Ungewissheit mit einer unsicheren Zukunft, eine Konstellation, bei der wir die Regeln nicht kennen, bei der diese sich ändern können oder es keine gibt.
Also wären wir an den Aktienmärkten in einer ungewissen Umgebung? Ja, deshalb werden hier die Möglichkeiten beim Einsatz von Big Data überschätzt. Es erinnert mich an ein Google-Programm zur Gesichtserkennung, ein neuronales Netz. Das ist angeblich an die Struktur eines menschlichen Hirns angelehnt, aber wir wissen nicht, wie es genau arbeitet. Dieses Programm identifizierte ein dunkelhäutiges Paar als Gorillas, ein peinlicher Vorfall. Google nahm dann einfach die Möglichkeiten von Gorillas und auch Orang-Utans aus den Bild-Erklärungen heraus, danach konnte nichts mehr als Gorilla oder Orang-Utan erkannt werden. Das ist ein grundlegendes Problem bei intransparenten Algorithmen.
Das ist ein Beispiel aus der Gesichtserkennung. Wo finden wir so etwas in der Finanzwelt? Es geht hier um Intransparenz, die von Algorithmen geschaffen wird. Das beschäftigt uns beispielsweise bei der Kontrolle der Banken. Wir haben mit einem Wissenschaftlerteam, auch mit Vertretern der Bank of England und der EZB, im Juni eine Untersuchung dazu veröffentlicht. Unser Ergebnis: Gängige Lösungen zur Messung von Bankrisiken wie komplexe Value-at-Risk-Konzepte, die mit Tausenden von Parametern arbeiten, um das Pleiterisiko in Stresslagen und damit auch die Gefahr für das Finanzsystem zu bestimmen, führen oft fehl.
Weil die Finanzwelt nicht nach festen Regeln funktioniert wie ein Schachspiel? Ja. In einer nicht stabilen Welt können Ansätze mit wenigen Variablen wie etwa einer Leverage Ratio, also Kernkapital im Verhältnis zum gesamten Geschäftsvolumen, komplexen Ansätzen überlegen sein. Solche Modelle sind transparenter, leichter zu verstehen und deshalb auch weniger anfällig für Manipulationen. Im Kern bauen wir auf psychologischen Erkenntnissen auf. Wir Menschen haben in einer unübersichtlichen Welt sogenannte Heuristiken entwickelt, also Faustregeln, die uns als Handlungsanweisungen in unsicheren Situationen leiten. Nach dem Motto: Weniger ist mehr.
Werden Ihre Forschungsergebnisse und Vorschläge in die künftige Bankenregulierung einfließen? Seit Andy Haldane, der Chefökonom der Bank von England, diese Ergebnisse in seinem Jackson-Hole-Talk den erstaunten Bankern vorgetragen hat, sind sie der Bankwelt bekannt. Andys Vortrag wurde auch vom „Wall Street Journal“ als die „Speech of the Year“ bezeichnet. Die Regulierung muss einfacher, robuster und transparenter werden. Komplexität führt nicht zu mehr Sicherheit, sondern zu mehr Fragilität. Das verstehen manche Politiker und Bankenaufsichten immer noch nicht.
Spielt Politik bei Ihren Forschungen irgendeine Rolle? Ich frage auch wegen der Bundestagswahlen… Zunächst einmal wundere ich mich, warum bestimmte essenzielle Themen im Wahlkampf ausgeblendet wurden. Ich meine beispielsweise die Folgen der Negativzinsen, die Gefahren für die Altersvorsorge und den Verlust von Freiheit durch den Missbrauch digitaler Techniken.
Sie hatten zu Beginn bereits am Geschäftsmodell der großen Tech-Konzerne zumindest gezweifelt. Bei der Digitalisierung geht es aber auch um Selbstbestimmung über die eigenen Daten und um Meinungsbeeinflussung… Ein wichtiges Thema, das die Wählkämpfer ebenfalls ignorieren: Wie werden politische Stimmungen und Wahlen durch Plattformen beeinflusst und manipuliert? Gerade das macht mir auch privat Sorge. Erst vor ein paar Wochen beschloss die Nichtregierungsorganisation Algorithmwatch, ihr Projekt über den Einfluss der Facebook-Tochter Instagram auf die Bundestagswahl in Deutschland abzubrechen, um keinen kostspieligen Rechtsstreit mit Facebook zu riskieren. Algorithmwatch hatte beobachtet, dass Politiker mit Posts bei Instagram größere Reichweiten erzielen, wenn sie auf Text verzichten. Der geheime Facebook-Algorithmus spielt Beiträge mit wenig Text auf den Nutzerseiten nach oben. Das ist nur ein Beispiel von mehreren, wie Facebook mit seinen Muskeln Forschung und Aufklärung unterdrückt.
Sie sind kein Freund geheimer Algorithmen, treten für Transparenz ein. Folgen Sie dem Prinzip auch bei Ihrer privaten Geldanlage? Ein Teil meines Geldes steckt tatsächlich in Aktien und Indexfonds. Und vor vielen Jahren habe ich eine Immobilie an der Ostsee gekauft – was eine gute Entscheidung war.
Wie kamen Sie eigentlich zu Ihrem Forschungsfeld? Gab es einen Auslöser? Schön wäre jetzt eine Geschichte wie bei Isaac Newton. Unter einem Baum sitzend beobachtete er einen herabfallenden Apfel, was ihn zum Nachdenken brachte. Aber das ist nur eine schöne Geschichte. Das gibt es bei mir nicht. Ich habe mich immer für Psychologie interessiert, für statistisches Denken, für den Umgang mit Risiken und Ungewissheit, für die Frage, wo sich Komplexität lohnt und wo nicht. Da möchte ich mehr Verständnis schaffen: Denn als statistische und digitale Analphabeten gefährden wir uns selbst – unsere Finanzen wie auch unsere Freiheit.
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