Baufinanzierungen Widerruf von Kreditverträgen: Tausende Kunden haben nach einem Urteil jetzt gute Karten

Laufende Verträge umzuschulden könnte nun leichter werden.
Düsseldorf Aus seiner beschaulichen, 17.000 Einwohner zählenden Heimatgemeinde Eppelborn im Herzen des Saarlands sind es gerade einmal 100 Kilometer bis nach Luxemburg. Doch für den Immobilienbesitzer Andreas Poß war es ein sehr viel weiterer Weg in die Hauptstadt des Großherzogtums – jedenfalls im übertragenen Sinne.
Mehr als vier Jahre lang dauerte es, bis der 42-jährige Diplom-Ingenieur mit seinem Anliegen bis zum obersten Organ der europäischen Gerichtsbarkeit vordrang. Mit dem Versuch, den sogenannten Widerrufsjoker zu ziehen und damit Tausende Euro in der Finanzierung seines Einfamilienhauses zu sparen.
Für Poß selbst geht es dabei um einige Tausend Euro. Insgesamt aber hat das Verfahren ganz andere Dimensionen. Der Fall des Saarländers macht nun Millionen Verbrauchern Hoffnung. All denen, die ab dem 11. Juni 2010 etwa Kreditverträge für Pkw sowie Immobiliendarlehen abgeschlossen haben.
Ihre Rechte hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) an diesem Donnerstag gestärkt, indem er klarstellte: „Verbraucherkreditverträge müssen in klarer und prägnanter Form die Modalitäten für die Berechnung der Widerrufsfrist angeben.“ Die Richter urteilten (Aktenzeichen C-66/19), dass der in Poß' Vertrag enthaltene Verweis „nicht dem Erfordernis genügt.“ Bei diesem Verweis handelt es sich dabei um eine Standard-Widerrufsbelehrung, wie sie unzähligen in Millionen Verträgen zu finden sein dürfte.
„Dass der EuGH nun Rechtssicherheit schafft, ist eine gute und wichtige Nachricht für alle Verbraucher“, kommentierte der Berliner Anwalt Timo Gansel das Urteil, der Poß' Interessen in dem Verfahren mit seiner Kanzlei vertrat. „Mit dem heutigen Urteil steht die Mehrzahl aller seit Juni 2010 geschlossenen Verbraucherkredit- und Leasingverträge auf dem Prüfstand. Die Banken können sich nun nicht mehr so einfach auf undurchsichtige Formulierungen in ihren Verträgen berufen. Jeder Verbraucher muss die wesentlichen Voraussetzungen für die Ausübung des Widerrufsrechts, etwa den Fristbeginn, sicher erkennen können“, so Gansel.
Banken droht Widerrufslawine
Tatsächlich dürften viele Kunden jetzt gute Karten haben, ihre Verträge aufgrund mangelnder Belehrungen zu widerrufen. Auf Banken und Sparkassen könnte eine Widerrufs-Lawine zukommen. So beziffert die Bundesbank allein das in Rede stehende Volumen der Baufinanzierungen auf 1,2 Billionen Euro, dazu kommen relevante Autokredit- und Leasingverträge mit einem Volumen von weiteren mehreren Hundert Milliarden Euro.
2012 hatte Poß bei der Kreissparkasse Saarlouis einen Darlehensvertrag über 100.000 Euro unterschrieben. Diesen wiederrief er 2016 und argumentierte, dass die Widerrufsbelehrung, die man an ihm erteilt habe, nicht verständlich formuliert sei. Doch bei der Sparkasse stieß er auf taube Ohren. Poß zog vor Gericht.
Vor dem Landgericht Saarbrücken (Aktenzeichen 1 O 164/18) geschah dann etwas, womit zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingt zu rechnen war. Die Kammer setzte das Verfahren aus, legte dem Europäischen Gerichtshof eine entscheidende Frage zu einer Standard-Widerrufsbelehrung vor, die sich in so gut wie allen aktuellen Kreditverträgen findet: Kann der durchschnittliche Verbraucher anhand der Belehrung erkennen, wann in seinem konkreten Fall die Widerrufsfrist eines Darlehens beginnt und wann sie endet?
Widerspruch zu BGH-Urteil
Der Schritt des Landgerichts war deshalb ungewöhnlich, weil der Bundesgerichtshof (BGH) das Thema zuvor quasi beerdigt hatte. Das höchste deutsche Zivilgericht hatte im November 2016 eine Standard-Widerrufsbelehrung für „klar und verständlich“ erklärt (XI ZR 434/15). Unzählige Banken und Sparkassen atmeten auf. Verbraucher dagegen hatten nun schlechte Karten, für Verträge ab Juni 2010 den sogenannten Widerrufsjoker zu ziehen und aus teuren Krediten vorzeitig auszusteigen.

Der Europäische Gerichtshof hat die Verbraucherrechte gestärkt.
Konkret ging es in der Belehrung zum möglichen Widerruf um die Passage: „Die Frist (für den Widerruf des Immobiliendarlehens) beginnt nach Abschluss des Vertrags, aber erst, nachdem der Darlehensnehmer alle Pflichtangaben nach § 492 Absatz 2 BGB (…) erhalten hat“.
Die praktische Folge der verschachtelten Konstruktion: Der Kunde muss erst einmal herausfinden, um welche Pflichtangaben es sich denn im Einzelnen handelt. Nur drei davon sind in zahlreichen Widerrufsbelehrungen beispielhaft genannt (zum Beispiel die Angabe zur Art des Darlehens, die Angabe zum Nettodarlehensbetrag, Angabe zur Vertragslaufzeit).
Experten bezeichnen dies als Kaskadenverweis – mancher auch etwas flapsiger als „Schnitzeljagd, um die Eckdaten des Widerrufsrechts zu verstehen“.
EuGH watscht höchste deutsche Zivilrichter ab
Dem hat der EuGH nun deutlich Einhalt geboten und auch den BGH eindeutig abgewatscht. Im Fall einer solchen Kaskadenverweisung könne der Verbraucher weder „den Umfang seiner vertraglichen Verpflichtung bestimmen noch überprüfen, ob der von ihm abgeschlossene Vertrag alle erforderlichen Angaben enthält, und erst recht nicht, ob die Widerrufsfrist, über die er verfügen kann, für ihn zu laufen begonnen hat“, so die Richter.
Eindeutig dürfte die Sachlage nach Einschätzung von Gansel nun im Falle von Autokrediten und Leasingverträgen sein. Hier „ist die Rückgabe des Fahrzeugs gegen Erstattung aller bereits gezahlten Raten möglich“. Auch für laufende Immobilienkreditverträge erhöhen sich aus Sicht des Anwalts die Chancen wesentlich, auf niedrigere Sollzinssätze umzuschulden oder die Finanzierung vorzeitig ohne – oder gegen Zahlung einer stark verringerten – Vorfälligkeitsentschädigung abzulösen.
Widerstand könnte an dieser Stelle aber noch vom jetzt in die Schranken gewiesenen BGH drohen. Schließlich vertrat das Karlsruher Gericht bisher den Standpunkt, auf Widerrufsfragen für Immobilienfinanzierungen sei das EU-Recht nicht anwendbar.
Allerdings zeigt sich Gansel auch hier zuversichtlich für Kunden: „Nach dem Willen des deutschen Gesetzgebers gelten die Vorgaben des EU-Rechts jedoch ausdrücklich auch für Immobilienfinanzierungen. Die Verbraucher hätten daher gute Chancen, eine Rückabwicklung ihrer Kredite durchzusetzen. Dazu kommt noch ein weiterer Punkt: Banken dürften sich aller Voraussicht nach ob des Urteilsspruchs weit gesprächsbereiter und einigungswilliger zeigen.
Mehr: Homeoffice – wer haftet, wenn sich ein Mitarbeiter daheim verletzt?
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.
@Daniel Schäfer: wo ist denn hier eine Waffengleichheit? Es gab sicherlich vereinzelt Fälle wie von Ihnen beschrieben...dann sollte man für diese betroffenen Kunden Waffengleichheit herstellen. Wenn hier nur bei Baufinanzierungen von 1,2 Billionen Euro gesprochen wird: was hat das mit Waffengleichheit zu tun?
Ich finde ein Ausnutzen dieses Widerrufsjokers ehrlich gesagt moralisch fragwürdig, zutiefst unsolidarisch und ein Berufen auf Waffengleichheit heuchlerisch. Ich würde behaupten, dass in 99,9% aller nachträglichen Klagen auf Widerruf schlichtweg der persönliche Vorteil zu Lasten eines (ja, in diesem Fall finde ich unschuldigen Dritten) gesucht wird. Es gut schlicht und einfach darum, persönlich Geld abzugreifen (aufgrund eines für den Kläger glücklicherweise gesunkenen Zinsniveaus). Wenn es die Bank zum Einsturz bringt: ist dem Klagenden völlig egal, Hauptsache er hat vorher noch seine Schäfchen ins Trockene gebracht, was nach ihm kommt (die Kunden, die nicht mehr rechtzeitig "abgreifen" können), ist ihm i.d.R. völlig egal.
Ich verstehe aber auch die Rechtsprechung hier überhaupt nicht, gebe ich offen zu. Wie kann ein zu 99,99 % rechtskonform geschlossener Vertrag wegen einer ungeschickten Formulierung in ein paar wenigen Worten und damit einer Bagatelle (der Kreditnehmer hat sich ja darauf bewusst eingelassen!) zu 100 % nichtig werden und das Risiko liegt immer nur bei einer einzigen Partei? Und die andere Partei kann 100 % maximalen Nutzen daraus ziehen, muss womöglich noch nicht mal die Wertminderung beim Auto bezahlen, obwohl unstrittig all die Jahre genutzt? Das mag gesprochene Recht sein, mit Gerechtigkeit hat das aber überhaupt nichts zu tun. Und ja, man muss die Finanzierer nicht mögen...wenn das aber Schule macht, wer will dann Verbraucher in Zukunft noch finanzieren, wenn das Risiko unkalkulierbar wird? Auch daran zeigt sich der Egoismus der Widerrufer, was danach kommt, ist ihnen völlig egal...
@Günter Keilhammer: Nicht alles was legal ist, ist auch legitim, da stimme ich Ihnen zu, allerdings verfahren die Banken genauso, siehe Kündigung von alten Lebensversicherungen, oder Kreditkündigungen, um an Grundstücke zu kommen etc. Das Urteil sorgt hier für Waffengleichheit und ist deshalb zu begrüßen.
Hier geht es m.E. um das Ausnutzen einer sicherlich ungeschickt formulierten Klausel. Kunden hatten Darlehen damals abgeschlossen und abgerufen. Jetzt hat sich aus Gründen, die weder die Bank noch der Kunde vorhersehen konnte, der Zinsmarkt massiv verändert. Und dann wird rechtlich versucht, den Vertrag vorzeitig und zum Schaden der Banken zu beenden. Ethisch interessant. Ich meine: Nicht alles was legal ist, ist auch legitim.