Bilanzskandal Die verzweifelte Suche nach den Wirecard-Milliarden – Aktionärsvertreter prüfen Klagen

Für den Konzern aus Aschheim bei München, seine Mitarbeiter und Aktionäre steht sehr viel auf dem Spiel.
München, Frankfurt Manche Krisen lassen sich auf eine einzige Frage verdichten. Im Fall von Wirecard, noch vor Kurzem Anlegerliebling und Hoffnungswert für den Technologiestandort Deutschland, lautet diese Frage: Wo sind 1,9 Milliarden Euro? Ist das Geld verschwunden, oder existierte es nie?
Bei den Milliarden handelt es sich um ein Viertel der Bilanzsumme des Dax-Konzerns. Sie sollen dem Zahlungsdienstleister aus Aschheim bei München gehören und seit Dezember 2019 bei zwei philippinischen Banken liegen. So hat es der Konzern gegenüber dem Abschlussprüfer EY erklärt. Allein: Die entsprechenden Bankbelege waren gefälscht, wie EY am Donnerstag erklärte. Die Prüfer verschoben zudem die Testierung der Bilanz, was den Aktienkurs binnen zwei Tagen um bis zu 80 Prozent einbrechen ließ. Die Furcht wächst, dass es das Geld womöglich nie gab.
Für den Konzern aus Aschheim bei München, seine rund 5000 Mitarbeiter und Aktionäre steht sehr viel auf dem Spiel. Die Ratingagentur Moody’s stufte die Kreditwürdigkeit gleich um sechs Stufen auf Ramschniveau herab. Vertreter von Kleinaktionären sowie die Fondsgesellschaften DWS und Union Investment prüfen Klagen.
Im Fokus steht Asien: Die beiden Institute BPI und BDO sind die größten Banken der Philippinen und werden von den Ratingagenturen gerade noch mit Investmentgrade bewertet. Die Institute erklärten, Wirecard sei kein Kunde und Dokumente, die die Prüfer bei ihnen vorgelegt hätten, seien gefälscht. BPI suspendierte nach eigenen Angaben einen Mitarbeiter, dessen Unterschrift auf einem der gefälschten Dokumente erschienen sei. BDO erklärte gegenüber der Zentralbank, dass alles danach aussehe, dass einer ihrer Marketingmitarbeiter ein Bankzertifikat gefälscht habe.
Am Sonntag sagte dann der Chef der philippinischen Zentralbank, Benjamin Diokno, das Geld sei nicht in das Finanzsystem des Landes gelangt. Bei BDO und BPI sei kein Kapital abgeflossen. Die Namen der Banken würden benutzt, um „die Spur der Täter zu verwischen“. Man werde Nachforschungen anstellen, versprach Diokno.
Gigantischer Betrugsfall?
Für den neuen Vorstandsvorsitzenden von Wirecard, den US-Amerikaner James Freis, sind das keine guten Nachrichten. Er kommt von der Deutschen Börse und war erst am Donnerstag in den Vorstand berufen worden. Nun soll er Wirecard als Interimschef führen. Den Posten dauerhaft übernehmen könnte ein Manager, mit dem der seit etwa einem Jahr amtierende Aufsichtsratschef Thomas Eichelmann seit Wochen verhandelt. Dieser Kandidat war ursprünglich als neuer Organisationsvorstand vorgesehen.
Der bisherige Vorstandschef Markus Braun, der den Konzern zwei Jahrzehnte geprägt hatte, gab am vergangenen Freitag auf und trat zurück. Seinem Umfeld zufolge hält Braun es weiterhin für möglich, dass die Milliarden wieder auftauchen. Das Geld sei höchstwahrscheinlich gestohlen worden, soll er Vertrauten noch am Samstag erzählt haben. Möglich sei auch, dass Spekulanten, die auf einen Kursverfall der Wirecard-Aktien wetten, die philippinischen Banker bestochen hätten.
Innerhalb des Konzerns würden allerdings immer weniger Mitarbeiter an eine solche Auflösung glauben, berichtet ein Wirecard-Manager. Selbst wenn das Geld doch wieder auftauche: „Unsere Reputation ist im Eimer.“ Die Undurchschaubarkeit des eigenen Zahlenwerks löse auch bei den Kunden große Sorgen aus. Die Leitungen in den Vertriebsabteilungen stünden nicht mehr still. „Nötig ist nun eine schnelle Restrukturierung und dass der Konzern zeigt, dass er auch ohne die 1,9 Milliarden Euro profitabel ist“, meint der Manager.
Helfen soll die US-Investmentbank Houlihan Lokey, die der Konzern auf Betreiben von Eichelmann mandatiert hat. „Houlihan Lokey wird nun gemeinsam mit Wirecard einen Plan zur nachhaltigen Finanzierungsstrategie des Unternehmens entwickeln. Wirecard steht derzeit in Verhandlungen mit einem Bankenkonsortium“, erklärte der Konzern am Freitag.
Dieses Bankenkonsortium hat entscheidenden Einfluss auf die Zukunft von Wirecard. Es hat dem Konzern vor rund zwei Jahren eine revolvierende Kreditlinie in Höhe von 1,75 Milliarden Euro gewährt. Da Wirecard noch immer keine testierte Bilanz vorweisen kann, könnten die Institute unter Führung von Commerzbank, Landesbank Baden-Württemberg und den beiden niederländischen Großbanken ABN Amro und ING das Darlehen eigentlich sofort fällig stellen.
Das war Stand Sonntagnachmittag allerdings nicht geplant. Nach Informationen aus Finanzkreisen liege es derzeit im Interesse des Konsortiums, Wirecard nach den Turbulenzen der vergangenen Tage erst einmal zu stabilisieren. Bis Ende dieser Woche könne es eine formale Einigung über eine vorläufige Verlängerung der Kreditlinie geben, heißt es.
Sollte es zu einer solchen Verlängerung kommen, werde sie wahrscheinlich aber nur kurzfristig sein und müsste regelmäßig erneuert werden, weil die Lage bei Wirecard extrem dynamisch sei. Teil einer solchen Vereinbarung könnte auch die Überwachung von Wirecard durch einen unabhängigen Wirtschaftsprüfer sein. Die Frage, ob die 1,9 Milliarden Euro komplett verschwunden sind oder niemals existierten, müsse so schnell wie möglich geklärt werden, heißt es, damit die Entscheidungsgrundlage für das Bankenkonsortium klar sei.
Fehlende Anzeige
Die Frage ist auch für die Ermittler von höchster Relevanz. Sowohl die Finanzaufsicht Bafin als auch die Staatsanwaltschaft München hatten erklärt, die jüngsten Ereignisse in ihre laufenden Untersuchungen einfließen zu lassen. Wirecard hatte am Freitag demnach noch keine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft München gestellt – trotz der Möglichkeit, dass auch Mitarbeiter in Aschheim am Verschwinden der Gelder beteiligt gewesen sein könnten.

Der Zahlungsdienstleister ist in vielen Märkten aktiv.
„Wir haben bisher – trotz der berichteten Ankündigung von Herrn Braun – keine Anzeige der Wirecard erhalten und erwarten auch keine. Möglicherweise sollte diese Anzeige im Ausland erstattet werden“, erklärte eine Sprecherin. „Wir ermitteln insgesamt ergebnisoffen im gesamten Sachverhalt Wirecard, einschließlich der aktuellen Ereignisse.
Es handelt sich ohnehin sämtlich nicht um Antragsdelikte, sondern um mögliche Straftaten, die von Amts wegen zu verfolgen sind.“ Heißt im Klartext: Sollte die Staatsanwaltschaft einen hinreichenden Tatverdacht haben, greifen die Ermittler auch ohne Anzeige ein.
Ob Wirecard inzwischen Strafanzeige in München oder andernorts gestellt hat, ist offen. Am Sonntag war zunächst keiner der Sprecher des Unternehmens erreichbar.
Völlig unklar ist derzeit, an welcher Stelle es genau zu dem vermuteten Milliardenbetrug gekommen sein könnte. Klar ist, dass das Asiengeschäft in den Bereich des am Donnerstag beurlaubten Organisationsvorstands und langjährigen Braun-Vertrauen Jan Marsalek fiel.
Der 40-jährige Österreicher sei jeden Monat in Asien unterwegs gewesen und habe Kontakte gepflegt, oft allein, berichten Insider. Das Asiengeschäft spielte sich vor allem in Schwellenländern ab, nicht in hochentwickelten Staaten wie Japan oder Südkorea und galt laut einem Wirecard-Manager immer als eine Art Blackbox.
Im Zentrum des Skandals stehen Treuhandkonten bei den beiden philippinischen Banken. Die verschwundenen 1,9 Milliarden Euro sollten eigentlich als Sicherheiten für an Händler gewährte Kredite dienen. Weil der bargeldlose Zahlungsverkehr in Asien im Aufschwung ist, soll sich die Summe auf den Treuhandkonten seit 2018 fast verdoppelt haben: von ursprünglich 1,0 auf 1,9 Milliarden Euro.
Im Dezember 2019 wechselte Wirecard von seinem bisherigen Treuhänder in Singapur, Citadelle, zu einem neuen Treuhänder, einem philippinischen Anwalt namens Mark Tolentino. Dieser hat laut Unternehmensdarstellung auch die Konten bei den zwei neuen Banken BDO und BPI eröffnet.
Laut Wirecard habe man die Gelder nicht selbst an die beiden Institute überwiesen. Vielmehr hätten die Drittpartner, auf deren Lizenzen und Kontakte Wirecard bei der Abwicklung im Asiengeschäft zurückgreift, die Konten selbst befüllt, heißt es – und zwar mit einem Anteil der Provisionen, die sie für die Nutzung der Wirecard-Plattform bezahlen mussten.
Über die deutsche Konzernzentrale sei somit kein einziger Euro geflossen, das Geld sei immer in Asien geblieben. Und beim Wechsel des Treuhänders Ende 2019 sei dann etwas schiefgegangen, so die Erklärung aus Aschheim. Möglicherweise habe der asiatische Treuhänder Gelder verschwinden lassen.
Es gibt freilich noch eine weitere Möglichkeit: Wären eine oder mehrere Personen innerhalb des Konzerns selbst für den Betrug verantwortlich, könnte es auch sein, dass die vermissten 1,9 Milliarden Euro ganz oder in Teilen nie existierten.
Die Sonderprüfer von KPMG bemängelten schon vor zwei Monaten mit Blick auf das Jahr 2018, dass es „nicht hinreichend nachgewiesene Einzahlungen auf Treuhandkonten“ von rund 1,0 Milliarden Euro gebe.
Wo lag der Ursprung der mutmaßlich betrügerischen Handlungen: in Asien? Oder in Aschheim? Warum haben weder die internen Finanz- und Compliance-Mitarbeiter noch der langjährige Aufsichtsrat oder die seit einer Dekade prüfenden Experten von EY Alarm geschlagen? Die Aufklärung dieser Fragen dürfte nun zentral für die Zukunft von Wirecard sein.
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